Sieben Kurzfilme zu den Themen Identität und Wahrnehmung. Die einzelnen Beiträge versuchen mit unterschiedlichsten Mitteln und Genres auszuloten, wie man selbst und wie andere das eigene Ich und die Welt wahrnehmen und wo die Grenze zwischen Wunsch und Wirklichkeit verläuft. Die interessante Kurzfilmrolle handelt von der Verwirrung angesichts einer undurchschaubaren Welt und spiegelt die Melancholie wider, die dieser Umstand mit sich bringt. Titel der einzelnen Filme: 1. "Single Bed" (Griechenland 2005, 12 Min.); 2. "Solo Talent" (Deutschland 1995, 15 Min.); 3. "Im Augenblick" (Deutschland 2004, 15 Min.); 4. "NotamotoF" (Spanien 2004, 9 Min.); 5. "Sonntag, im August" (Deutschland 2004, 15 Min.), 6. "L. City" (USA 2002, 8 Min.); 7. "Exoticore" (Belgien 2004, 28 Min.)
- Ab 16.
Night of the Shorts: Exoticore
- | Griechenland/Deutschland/Spanien/USA/Belgien 1995-2005 | ca. 100 Minuten
Regie: George Kouvaras
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Filmdaten
- Produktionsland
- Griechenland/Deutschland/Spanien/USA/Belgien
- Produktionsjahr
- 1995-2005
- Regie
- George Kouvaras · Andreas Fischer · Erica von Moeller · Rubén Coca · Marc Meyer
- Buch
- George Kouvaras · Wolfgang Korruhn · Sandro del Rosario · Nicolas Provost
- Kamera
- Vassilis Klotsotiras · Roland Breitschuh · Sandro del Rosario · Tore Vollan
- Musik
- Vassilis Nakis · Michael Koch · Lowell Pickett · Samuel Robles · Severin Behnen
- Schnitt
- John Kostavaras · Manuela Koch · Sandro del Rosario · Nico Leunen
- Darsteller
- Fanis Diplas · Erifili Stefanidou · Karl Wieland · Christina Matuschewski · Peter Schlesinger
- Länge
- ca. 100 Minuten
- Kinostart
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- Pädagogische Empfehlung
- - Ab 16.
Diskussion
Der W-film Verleih hält an seinem Konzept fest, Kurzfilme in abendfüllenden Kompilationen ins Kino zu bringen. Nach Programmen über Liebe, Fußball oder Brasilien kommt nun „Exoticore“, eine Zusammenstellung zum Thema Identität und Wahrnehmung. „Sind wir denn nicht alle ein bisschen anders?“, heißt es in der Unterzeile, womit das Programm an die ursprünglichen Fragen von Kino und Kunst überhaupt rührt: wie man selbst und die Anderen das eigene Ich und die Welt wahrnehmen, wo die Grenzen zwischen Wirklichkeit und Wunsch verlaufen und wie man sie erkennt. Themen wie diese werden inzwischen meist im Genrefilm, in Psychothrillern oder Horrorfilmen behandelt, aber auch nach wie vor im Kurzfilm – dank seiner Freiheiten jenseits gängiger Dramaturgien. So unterschiedlich die sieben Filme auf „Exoticore“ auch sind, sie erzählen alle von der Verwirrung angesichts einer undurchschaubaren Welt und von der Melancholie, die dieser Umstand mit sich bringt.
„Single Bed“ des Griechen George Kouvaras führt mitten hinein in das Problem. Eine junge Frau ist allein in ihrer düsteren Wohnung, mehrere Tage laufen nahezu identisch ab, dabei lässt sie sich von Videokameras filmen – aber nicht nur sie wird aufgenommen, sondern auch eine Knetfigur, die in einem kleinen Puppenzimmer betrübt auf dem Bett sitzt. Manchmal bewegt sich diese; offenbar arbeitet die Frau per Stopptrick an der männlichen Figur – bis ein Mann zu Besuch kommt, der der Figur gleicht. Das dialogfreie Stück ist visuell wie auch auf der Tonebene brillant und lässt am Ende alle Fragen nach Schein und Sein offen.
„Solo Talent“ von Andreas Fischer nach einer Geschichte von Wolfgang Korruhn ist dagegen eine vergleichsweise abgeschlossene Angelegenheit, ein Märchen, das im Off-Ton in drögestem Amtsdeutsch vorgetragen wird. Der Held, ein einsamer Melancholiker, gerät auf Umwegen in die Wohnung eines getöteten Paares und schnappt sich, während die Polizei den Tatort sichert, dessen Vogel samt Käfig. Der Vogel entpuppt sich als intimer Kenner der Geschehnisse an den internationalen Börsen und verschafft dem Mann einen beträchtlichen Reichtum. Da dem Mann zu seinem Glück aber mehr als nur Geld fehlt, nimmt das Unheil seinen Lauf. Die Produktion kommt wie ein mahnender Lehrfilm daher, was ihre feine Komik ausmacht, und entwirft eine ausschweifende Fantasie, der auf ironische Weise äußerst spröde Schwarzweiß-Bilder gegenüberstehen. Ebenfalls aus Deutschland stammt „Im Augenblick“ von Erica von Moeller, die durch ihren Dokumentarfilm „Sainkho“ (fd 36 672) über eine sibirische Sängerin bekannt wurde. Hier geraten die Wirklichkeitsebenen derart durcheinander, dass die Hauptfigur, eine junge Frau, nicht mehr weiß, auf welcher sie sich gerade befindet. Hat sie nicht einfach einem Mann den Fotoapparat entrissen, weil er sie in der U-Bahn fotografierte? Ist sie daraufhin überfahren worden, oder ist die Geschichte ganz anders verlaufen? Offenbar entscheidet der jeweilige Bewusstseinszustand darüber, was gerade real ist. Noch verwirrender ist „NotamotoF“ von Rubén Coca aus Spanien. Irgend etwas scheint hier einen jungen Mann und seine Freundin, einen Passbildautomaten und einen gesuchten Serienkiller miteinander zu verbinden. Auch in diesem Film dient die visuelle Rätselhaftigkeit der Infragestellung von Wahrnehmung, wobei sich Coca bewusst der Stilmittel des Thrillers bedient. Eine schöne Fingerübung ist auch „Sonntag, im August“ von Marc Meyer, der an Polanskis „Messer im Wasser“ erinnert: Eine Segelyacht als psychologischer Kriegsschauplatz, auf dem verdrängte Konflikte zwischen einem jungen Paar eskalieren. Hier sind die Bilder von einer verführerischen Klarheit, die das aufkeimende Drama zunächst überdeckt. „L. City“ von Sandro del Rosario aus den USA wirkt ebenfalls eher retro: eine Reihung schwarz-weißer Großstadtimpressionen im Stil von Henri Cartier-Bresson oder Robert Doisneau, durch Überblendungen zum Schwingen gebracht und von Liebesgedichten mit dem Schmerz des Verlustes versehen – ein nicht-narratives Experiment mit komplexer Audio-Ebene und schöner Musik.
Der titelgebende Film „Exoticore“ von Nicolas Provost aus Belgien handelt schließlich vom Drama eines Afrikaners in Norwegen, der zwar einen Job als U-Bahnfahrer hat, aber keinerlei soziale Bindungen; alle Versuche, mit den anderen in Kontakt zu kommen, laufen ins Leere. Allein die Tochter, die er mit einer von ihm getrennt lebenden Einheimischen hat, bringt Licht in sein Leben, dessen Aussichtslosigkeit ihn zunehmend übermannt. Hier ist das Anderssein ein soziales Problem, nicht zwangsläufig eines der Ausgrenzung von Schwarzen, aber dadurch offenbar verstärkt: Die Gesellschaft gibt sich hermetisch, der U-Bahnfahrer bleibt isoliert. So konstatiert dieser dicht erzählte Film am Ende des Programms noch einmal deutlich jenes Grundproblem, das die Kunst seit Anbruch der Moderne ins Auge gefasst hat: das Dilemma, sich einerseits als Individuum abgrenzen, andererseits aber an einer Welt teilnehmen zu wollen, die man immer weniger versteht.
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