Nôtre Musique

- | Frankreich/Schweiz 2004 | 80 Minuten

Regie: Jean-Luc Godard

Dreiteilige Meditation über den Krieg, die Bilder des Krieges und die Präsenz des Krieges in Zeiten scheinbaren Friedens, wobei Jean-Luc Godard einmal mehr den Versuch unternimmt, die Grenze zwischen dem Fiktiven und dem Dokumentarischen aufzuheben. Der Hauptteil des Films spielt in Sarajewo, wo eine junge Frau die Möglichkeit nach Versöhnung repräsentiert sieht; andererseits sieht man allerorten die Spuren von Zerstörung und Barbarei. Das intellektuell hochstehende Filmessay hinterfragt den ikonografischen Gehalt der Bilder und nimmt dabei eine äußerst skeptische Grundhaltung ein. - Sehenswert.
Zur Filmkritik

Filmdaten

Originaltitel
NÔTRE MUSIQUE
Produktionsland
Frankreich/Schweiz
Produktionsjahr
2004
Produktionsfirma
Avventura Films/Les Films Alain Sarde/Peripheria/France 3 Cinéma/Canal +/Vega Film/TSR
Regie
Jean-Luc Godard
Buch
Jean-Luc Godard
Kamera
Julien Hirsch
Schnitt
Jean-Luc Godard
Darsteller
Sarah Adler (Judith Lerner) · Nade Dieu (Olga Brodsky) · Rony Kramer (Ramos Garcia) · Simon Eine (Botschafter) · Jean-Christophe Bouvet (C. Maillard)
Länge
80 Minuten
Kinostart
-
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert.
Externe Links
IMDb | TMDB

Diskussion
Kleine Quizfrage: Was ist Alain Delon gelungen, was seither niemandem, nicht einmal mehr Gerard Depardieu gelungen ist? Richtig, er hat es geschafft, mit einem Film von Jean-Luc Godard in den bundesdeutschen Verleih zu kommen. Das war allerdings bereits 1990 mit „Nouvelle Vague“ (fd 28 603). Seither muss man entweder regelmäßig Festivals wie die „Berlinale“, die Französischen Filmtage oder das Filmfest München besuchen oder auf „arte“ hoffen, um dem Meister auf den Fersen zu bleiben. Aus dem öffentlich-rechtlichen Fernsehen ist der Godard der Werkphase zwischen „Die Chinesin“ (fd 15 437) und (vielleicht) „Deutschland Neu(n) Null“ (1991) vollständig verschwunden. Selbst die „Histoire(s) du Cinema“ (1989), also die Auseinandersetzung eines der bedeutendsten Filmemacher seit 1960 mit dem eigenen Medium (und den Träumen und Schrecken des 20. Jahrhunderts) wurde vom lustlosen Kino dem Fernsehen überlassen und (dankenswerterweise) vor mehr als einem Jahrzehnt von „arte“ versendet. Selbst auf DVD ist die Situation aktuell mehr als beschämend. Wo derart wenig Liebe wohnt („Eloge de l´amour“), muss man sich eher wundern, dass doch noch ein Interesse an „Notre musique“ existiert. Godards aktueller Film stammt aus dem Jahre 2004 und ist (vielleicht) eine dreiteilige Meditation über den Krieg, über die Bilder des Krieges und des Präsenz des Krieges in Zeiten scheinbaren Friedens. Es ist auch ein weiterer Versuch, die Grenze zwischen dem Fiktiven und dem Dokumentarischen aufzuheben. „Notre Musique“ besteht aus drei unterschiedlich langen Teilen, die mit „L´enfer“ (Hölle), „Le purgatoire“ (Fegefeuer) und „Le paradis“ (Paradies) überschrieben sind. Teil Eins („L´enfer“) ist eine zehnmütige Montage von Kriegsbildern, die sich beim Kino, in Wochenschauen (aus Vietnam oder Algerien) und bei Dokumentationen bedient, wobei die Ausschnitte nach Manier der „Histoire(s) du Cinema“ bearbeitet und verfremdet wurden. Identifizierbar sind einige Bildquellen wie „Alexander Newski“ (fd 11 937), „Rattennest“ (fd 5082), „Bis zum letzten Mann“ (fd 2594) oder auch „Apocalypse Now“ (fd 22 192), aber es scheint fraglich, ob eine Lektüre dieser Montagesequenz, im Kino zumal, auf Identifizierung von Kunstwerken zielt. Später, im zweiten Teil („Le purgatoire“) wird Godard selbst ein Seminar zur Natur des Films geben und einzelne Filmstills auf ihre religiöse Ikonozität hin befragen. In diesem Teil des Films zeigt Godard seinen Studenten die Fotografie einer völlig zerstörten Stadt und fragt, ob sie wissen, wo dieses Foto aufgenommen wurde. Die Studenten antworten: In Stalingrad? Warschau? Berlin? Sarajewo? Hiroshima? Godard verrät die Lösung – eine typische, die intellektuelle Bewegung öffnende Godardsche Didaxe: „Richmond, Virginia 1865“. Der zweite und längste Teil von „Notre Musique“ spielt in Sarajewo, wo sich einige Intellektuelle auf einem Literaturkongress treffen und Godard eine Meisterklasse abhält. Hier ist die Grenze zwischen dem Fiktiven und dem Dokumentarischen endgültig aufgehoben; es existieren nur noch der Fluss der Bilder und der Fluss der Gedanken. Auf langen, dokumentierenden Fahrten durch die vom Krieg gezeichnete Stadt hören wir Reflexionen über Gewalt und Terror und über die Opfer-Täter-Dialektik. Es fallen Namen, es werden Bücher in die Kamera gehalten: Hannah Arendt, William Faulkner, Celine, Balzac, Julien Green. In einem Taxi fragt eine junge Frau: „Warum werden Revolutionen nicht von den humansten Menschen begonnen?“ Godard selbst antwortet routiniert: „Weil die humansten Menschen nicht mit Revolutionen beginnen, sondern mit dem Bau einer Bibliothek.“ Und ein anderer Mann ergänzt lakonisch: „Oder Friedhöfen.“ Eine junge Frau ist nach Sarajewo gekommen, weil sie an diesem Ort die Möglichkeit einer Versöhnung repräsentiert sieht. Andererseits sieht man Bücherhaufen in leeren Gebäuden, deren Wände von kriegerischen Auseinandersetzungen gezeichnet sind. Einige Einstellungen von „Notre Musique“ reflektieren Bilder Sarajewos, die an die Zeit der Belagerung und ihren medialen Widerschein erinnern: das „Holiday Inn“, den Marktplatz. In diese Erinnerungen mischt sich eine widersprüchliche Sentenz, die die durchaus nicht uneitle Begriffsarbeit der Intellektuellen vor Ort relativiert: „Denjenigen, die handeln, fehlt die Fähigkeit, adäquat darüber nachzudenken oder zu sprechen, was sie tun. Diejenigen aber, die die Geschichten erzählen, wissen nicht, wovon zu sprechen. Denken Sie an Mao Tse-Tung!“ Später wird es heißen: „Ich glaube nur Geschichten, deren Zeugen die Kehlen durchgeschnitten wurden.“ In „Notre Musique“ spielen Schauspieler, aber es spielen auch Intellektuelle wie Pierre Bergounioux, Mahmoud Darwich oder Juan Goytisolo sich selbst. Macht es einen Unterschied, wenn ein Mensch, dessen fiktionaler Status ungeklärt ist, vor der Kamera reflektiert? Auch Godard selbst spielt in „Notre Musique“ mit: Einen Regisseur, der in Sarajewo eine Meisterklasse abhält, über das Prinzip des Kinos monologisiert und über das Grundgesetz von Schuss und Gegenschuss. Nicht nur Howard Hawks vermochte in „His Girl Friday“ (fd 27 623) die Geschlechter von Cary Grant und Rosalind Russell nicht mehr zu unterscheiden; Schuss und Gegenschuss offenbaren immer die zwei Seiten der Wahrheit, die am Beispiel des israelisch-palästinensischen Konflikts ebenso durchdekliniert werden wie am Beispiel des dänischen Schlosses Elsinore, dessen Realität sich prinziell verändert, wenn man es als Repräsentation des Imaginären begreift: als das Schloss Hamlets. In „Notre Musique“, in dem die aktuelle amerikanische Interventionspolitik als Subtext ebenso präsent ist wie die Erinnerung an die Besetzung Frankreichs durch die Nazis, tauchen Indianer im Kriegsschmuck an der Brücke von Mostar auf. Stammen sie aus einem der zitierten Western? Oder sind sie eine Erinnerung an das Unausgesöhnte der amerikanischen Staatswerdung? Später, als Godard wieder am Genfer See seinen Garten bestellt, erreicht ihn die Nachricht, dass Olga, eine seiner Studentinnen in Sarajewo, versucht hat, sich in Jerusalem in einem Kino in die Luft zu sprengen – in einer Aktion für den Frieden. Sie wurde von einem Spezialkommando erschossen. An Stelle einer Bombe trug sie Bücher bei sich. Von Olga stammt auch der Satz, der mit der für Godard mittlerweile typischen Mischung aus Ironie und Verweigerung dessen Spätwerk auf den Punkt zu bringen scheint: „Wenn irgendjemand versteht, was ich sage, dann habe ich mich wohl falsch ausgedrückt.“ Der dritte Teil „Le paradis“ spielt am Ufer des Genfer Sees und zeigt eine Idylle, in der die Menschen lachen, spielen (mit unsichtbaren Bällen wie in „Blow up“, fd 14 724), lesen (einen Roman von David Goodis) oder einen Apfel teilen. Gesprochen wird hier nicht mehr, nur der Toten erinnert. Am Tor zum Paradies empfangen einen übrigens bewaffnete US-Marines. „Unsere“ Musik in „Notre Musique“ stammt von Jean Sibelius, Alexander Knaifel, Hans Otte, Ketil Björnstadt, Meredith Monk, Komitas, Geörgy Kurtag, Valentin Silvestrov, Peter Tschaikowski, Trygve Seim, Arvo Pärt, Anouar Brahem und David Darling. Auch sie lohnt der Suche. Übrigens: Auf die Frage, inwieweit die neuen Digitalkameras das Kino zu retten vermögen, mochte ein erschöpfter Godard in Sarajewo gar nicht mehr antworten. Vielleicht, weil es ihm längst nicht mehr um die Rettung des Kinos geht. Schon zuvor hatte Godard (s)eine Bilanz des 20. Jahrhunderts gezogen: „Der Kommunismus existierte einmal: Zweimal 45 Minuten im Wembley-Stadion, als Honved England mit 6:3 schlug. Die Engländer spielten individuell, während die Ungarn zusammen spielten.“
Kommentar verfassen

Kommentieren