„Das Mädchen mit dem Perlenohrring“ ist ein außergewöhnliches Unterfangen für einen Erstlingsfilm, vor allem für einen 42-jährigen Regisseur, der bisher lediglich durch eine Dokumentarfilmserie für Englands Channel Four sowie zwei Fernsehfilme („Men Only“ und „Stretford Wives“) aufgefallen ist. Es geht hier nämlich weniger um die Inszenierung einer Story als um die visuelle Umsetzung eines Schöpfungsprozesses, um die Verbildlichung einer künstlerischen Inspiration. Ursprünglich war auch keineswegs der in der Filmbranche unbewährte Peter Webber für die Regie vorgesehen, sondern der Veteran Mike Newell („Dance With a Stranger“, fd 25 488, „Verzauberter April“, fd 30 141). Wenn man nun das Ergebnis auf der Leinwand sieht, kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass Webbers Herkunft vom Dokumentarfilm der Realisierung dieses ungewöhnlichen Projekts zum Vorteil gereicht. Mit dem hervorragenden Kameramann Eduardo Serra an der Seite (vgl. Porträt in fd 10/04) schuf Webber einen Film, dessen größte Faszination von der Behandlung des Lichts ausgeht und dessen Bilder die Wesenszüge der Malerei von Rembrandt, La Tour und eben vor allem von Johannes Vermeer auf der Leinwand widerspiegeln.
Natürlich gibt es eine Handlung. Auch sie macht den Eindruck einer Dokumentation überlieferter biografischer Begebenheiten. Doch über das Leben Vermeers (1632-1675) ist nicht viel mehr bekannt, als dass er mit seiner Frau Catharina und elf Kindern im Haus seiner Schwiegermutter lebte, sich neben seiner Malerei als Sachverständiger betätigte und von einem reichen Mäzen unterstützt wurde. Auf diesen wenigen Fakten baut die Handlung auf, aber nicht nach dem Vorbild üblicher Schein-Biografien, sondern als Visualisierung des Künstlertums und der hinter ihm vermuteten Beweggründe. Den Ausgangspunkt liefert eines der berühmtesten Gemälde Vermeers, das Porträt eines unbekannten Mädchens mit einem Ohrring. Von da an ist alles Fantasie: Griet kommt aus ärmlichen Verhältnissen und nimmt eine Stellung als Hausmädchen bei Vermeer an. Obwohl der Sohn eines Metzgers bald Interesse an dem stillen, hübschen Mädchen zeigt, betrachtet Vermeers Frau Griets Anwesenheit im Atelier ihres Mannes mit Misstrauen. Griets Hauptaufgabe ist die Säuberung des Studios, in dem Vermeer arbeitet. Durch ihre Sorgfalt („Wenn ich die Fenster putze, könnte es das Licht verändern“) und ihr scheues Interesse an der Malerei kommt sie dem in sich gekehrten Künstler näher, als dessen Frau lieb ist. Bald darf sie ihm die Farben mischen und sitzt ihm schließlich sogar Modell.
Es sind zwei Dinge, die diese spärliche Geschichte interessant machen: die Darstellung Griets durch die zur Zeit der Dreharbeiten 17-jährige Scarlett Johansson und die unterschwellige Evokation erotischer Gefühle. Johansson ähnelt nicht nur im Gesichtsausdruck dem Modell in Vermeers Gemälde, sondern sie bewegt sich auch mit einer absolut glaubhaften Natürlichkeit und Zurückhaltung, wie man sie von einem armen, ungebildeten, aber intelligenten Mädchen jener Epoche erwarten muss. Angesichts ihrer Darstellung verliert der Zuschauer schon bald das Gefühl der Fremdheit und Distanzierung, das die meisten historisierenden Filme erzeugen. Nur mit einer so guten Schauspielerin konnte Webbers Vorhaben gelingen, hinter wenigen Andeutungen und mit einem Mindestmaß an Dialogen eine erotische Atmosphäre zu schaffen, die der spartanischen Geschichte zu einem emotionalen Innenleben verhilft, das bewegender anmutet als die Extrovertiertheit der meisten Liebesbeziehungen im Film unserer Tage.
Alles das kann sich aber nur entwickeln, weil es Teil einer filmischen Konzeption ist, die keine Zugeständnisse an Zeitgeschmack und Publikumserwartungen macht. „Das Mädchen mit dem Perlenohrring“ erweist sich als eine ungemein sensible Studie des holländischen Städtchens Delft während der späten 1660er-Jahre, wie man es sich aus Beschreibungen und Gemälden der damaligen Zeit heute vorstellen kann. Ohne sich in dramatische Ereignisse zu verlieren, wechselt der Schauplatz zwischen betriebsamen Märkten, alten Straßen und dem halbdunklen Inneren des Ateliers. Jede Einstellung mutet an, als sei sie einem Gemälde der Zeit entlehnt oder als reflektiere sie die Besonderheit der Kunst Vermeers. Vor allem die Faszination der Filmemacher für Licht trägt dazu bei. Der Film wurde fast ausschließlich im Studio, also mit künstlichem Licht gedreht. Dennoch hat man jederzeit den Eindruck, es müsse sich um natürliches Tageslicht handeln. „Licht“, sagt der Kameramann Eduardo Serra, „war ein Teil der Geschichte, wie in einem Vermeer- Gemälde. In vieler Hinsicht handelt der Film vom Malen. Es geht um das Licht, das durch ein Fenster fällt.“ Eine Hommage auf die Kunst, weshalb die Handlung auch mit einer langen Einstellung auf Vermeers Originalgemälde endet.