Tragikomödie um eine Kopenhagener Durchschnittsfamilie, in der der plötzliche Tod der Mutter Krisen und Irritationen auslöst. Der Witwer, die drei erwachsenen Kinder und der Bruder des Witwers rücken durch den Schicksalsschlag wieder näher zusammen. Ihr Alltag bekommt eine neue Dynamik, wobei Beziehungsängste, Erwachsenwerden, Seitensprünge, Verantwortungsscheu und Missbrauch eine Rolle spielen. Dem mit viel Sinn für ausgeklügelte Details und makabren Dialogwitz inszenierten Film gelingt es, mit immer wieder überraschenden Wendungen und durch die unverbrauchte Spielfreude der Schauspieler die schwierige Balance zwischen Komik und Tragik zu halten.
- Sehenswert ab 16.
Kleine Missgeschicke
Tragikomödie | Dänemark 2002 | 109 Minuten
Regie: Annette K. Olesen
Kommentieren
Filmdaten
- Originaltitel
- SMA ULYKKER
- Produktionsland
- Dänemark
- Produktionsjahr
- 2002
- Produktionsfirma
- Zentropa
- Regie
- Annette K. Olesen
- Buch
- Kim Fupz Aakeson
- Kamera
- Morten Søborg
- Musik
- Jeppe Kaas
- Schnitt
- Nicolaj Monberg
- Darsteller
- Jørgen Kiil (John) · Maria Würgler Rich (Marianne) · Henrik Prip (Tom) · Jannie Faurschou (Eva) · Jesper Christensen (Soren)
- Länge
- 109 Minuten
- Kinostart
- -
- Fsk
- ab 12; f
- Pädagogische Empfehlung
- - Sehenswert ab 16.
- Genre
- Tragikomödie
Heimkino
Diskussion
Spießiger Zierrat hängt an den Wänden der schlichten Kopenhagener Wohnung, und das Gespräch am Mittagstisch dreht sich um Tagesroutinen. John, seine Frau Ulla und ihre jüngste Tochter Marianne haben es eilig. Ulla mahnt zur Eile und ist schon aufgestanden, da schlägt Johns Oberkörper plötzlich nach vorn, und der Kopf landet auf dem vor ihm stehenden Teller. Regungslos bleibt er in den Essensresten liegen. Der herzkranke John liebt deftige Späße, weshalb er Sekunden später sein beschmiertes Gesicht mit befriedigter Mine über den grandiosen „Spaß“ vom Teller hebt. Doch Ulla und Marianne zeigen sich wenig beeindruckt. Humor ist, wenn man trotzdem lacht, will Annette K. Olesen mit dieser Anfangssequenz offenbar klar stellen, denn der Tod bleibt in „Kleine Missgeschicke“ eine ernste Angelegenheit. „Comedey is about tragedy“, wissen die Genreexperten, zu denen Annette K. Olesen vielleicht bald einmal zählen wird.
Der ewig Kind gebliebene John arbeitet als Portier in einem Krankenhaus und setzt sich nur allzu gern die rote Clownsnase auf, um in der Ambulanz für die kranken Kinder den Clown zu spielen. Als seine Frau nach 46 Ehejahren bei einem Verkehrsunfall ums Leben kommt, merkt er schmerzlich, wie sehr er auf seine Familie angewiesen ist. Die erwachsenen Kinder reagieren ganz unterschiedlich: Die Älteste, Eva, zieht gerade zu ihrer Freundin Ellen nach Kopenhagen, um sich ganz der Malerei zu widmen, und zeigt sich eher ungerührt. Marianne, das noch nicht ganz flügge gewordene Nesthäkchen, rückt noch näher an den Vater heran. Sie trauert um den Verlust und befindet sich zugleich im Begriff, mit einem neuen Job und einem ersten Freund erwachsen zu werden. Tom, der mittlere Bruder und erfolgreiche Bauunternehmer, stürzt sich noch mehr in die Arbeit und gerät, weil er seine Frau und seine zwei Kinder vernachlässigt, in eine Beziehungskrise. Und weil ein Unglück selten allein kommt, erfährt Sören, Johns Bruder, dass seine Frau ein Verhältnis mit einem anderen hat.
Das Drehbuch nutzt das Familienszenario für anspruchsvolle Situationskomik und Dialogwitz. Die Charaktere sind normal und zugleich erschreckend skurril gezeichnet, und bei der psychischen Anlage der Protagonisten weiß man nie, was als nächstes geschieht. Annette K. Olesens einfallsreich inszeniertes Spielfilmdebüt kommt im Stil der Dogma-Filme daher. Die bewegliche Kamera rückt den Schauspielern nah auf den Leib und nimmt gelegentlich eine subjektive Perspektive ein, beispielsweise bei den Orientierungsläufen, mit denen Marianne die Selbständigkeit probt oder wenn Tom wieder zu spät nach Hause kommt und von seiner Frau vor die Tür gesetzt wird. Statt musikalischer Untermalungssauce dringt Musik selten, sehr dezent und sehr realistisch aus Autoradios, Kirchen oder Diskotheken. Ohne umständliche Einführung der Protagonisten wechselt die Erzählung mühelos zwischen den verschiedenen Handlungsebenen und spinnt die einzelnen Stränge um das Zentrum des Films – die Beerdigung der Mutter. Ein Ritual, das es den dänischen Regisseurinnen offenbar angetan hat. Schon Lone Scherfigs „Italienisch für Anfänger“ (fd 35 244) bot durch die Verwechslungen von zwei Särgen Anlass zur Komik. In „Kleine Missgeschicke“ ist es ein verspäteter Leichenwagen, durch den der Sarg in unerwartete Bewegung gerät. Eva, Tom, Marianne, Sören und John, die ihn aus der Kapelle tragen, manövrieren das schwere Monstrum umständlich zwischen der Bahre und dem Ausgang hin und her. Mit den Blicken, die sie dabei wechseln, scheint jeder dem anderen die Schuld an dem Missgeschick zu geben.
So ausgeklügelt im Detail und so pointiert im Witz wie „Kleine Missgeschicke“ daherkommt, so überraschend wirken die Anspielungen auf Missbrauch und Inzest, mit denen der Film seine Figuren konfrontiert. Eva vermutet zwischen ihrem Vater John und Marianne ein mehr als väterliches Verhältnis, was sich zu einer Art fixen Idee ausweitet. Wüsste der Zuschauer zum Zeitpunkt dieser Szenen schon von Evas traumatischem Erlebnis mit ihrem Onkel Sören, der sie als 14-Jährige sexuell missbraucht hat, wäre Evas plötzliche Überreaktion leichter nachvollziehbar, und die Beziehung zwischen Sören und Hanne stünde ebenfalls in einem anderen Licht. So klärt sich Evas hysterische Reaktion erst Sequenzen später auf, als sie Tom eher beiläufig die alte Geschichte anvertraut. Annette K. Olesen entwirft einen unterhaltsamen Reigen um Beziehungsängste, traumatische Erlebnisse, Erwachsenwerden und Verantwortungsscheu. Alles in allem ein beeindruckendes Spielfilmdebüt, das Alltagsnöte mit bemerkenswerter Stilsicherheit auf dem schmalen Grat zwischen Komik und Tragik zum Thema macht. Ähnlich wie in „Italienisch für Anfänger“ merkt man den Darstellern die unverbrauchte Spielfreude an.
Kommentar verfassen