Ein Budapester Müllmann wird aus dem Jahr 1998 ins Jahr 1953 katapultiert. Dort erlebt er genau jenen Abend, an dem Ungarn beim Aussscheidungsspiel zur Fußballweltmeisterschaft gegen England mit sechs zu drei Toren gewinnt. Regisseur Péter Tímár bebildert eine Reise in die Hoch-Zeit des Stalinismus und filtert aus der Grundkonstellation zahlreiche heitere Episoden, die sich gelegentlich zur politischen Satire verdichten. Dabei ist die Hauptfigur als freundlicher Tor angelegt und verkörpert das Musterbeispiel für die Widerstandskraft kleiner Leute gegen das politische System. (O.m.d.U.)
- Sehenswert ab 14.
6 : 3 - Tuttis Traum
- | Ungarn 1999 | 90 Minuten
Regie: Péter Timár
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Filmdaten
- Originaltitel
- 6 : 3 | 6 : 3, AVAGY JATSZD UJRA TUTTI
- Produktionsland
- Ungarn
- Produktionsjahr
- 1999
- Produktionsfirma
- Megafilm Kft./RTL Klub támogató
- Regie
- Péter Timár
- Buch
- Péter Timár
- Kamera
- Péter Szatmári
- Musik
- Tamás Cseh
- Schnitt
- Péter Timár
- Darsteller
- Károly Eperjes (Tutti) · Kriszta Szalay (Helen) · Tamás Cseh (Halmi) · András Kern · Attila Löte
- Länge
- 90 Minuten
- Kinostart
- -
- Pädagogische Empfehlung
- - Sehenswert ab 14.
- Externe Links
- IMDb | TMDB
Diskussion
Müllmann Tutti, ein gestandener Budapester von 45 Jahren, traut seinen Augen nicht, als er die Hinterlassenschaft eines verblichenen Fußballfans entsorgen soll, entdeckt er neben andern Devotionalien auch das Hemd eines einstigen ungarischen Nationalspielers. Der hatte beim legendären Match gegen England mitgewirkt, als Ungarn im November 1953 mit sechs zu drei Toren unverhofft gewann. Weil Tutti selbst ein Verehrter dieses Sports ist, wendet er das Trikot hin und her, zunächst ungläubig, dann andächtig und zärtlich. Als er das wertvolle Stück schließlich sogar überstreift, kommt es wie es kommen muss: Er fällt vor Nervosität in Ohnmacht – und wacht am Abend des Spiels wieder auf. So beginnt Péter Tímárs „6 : 3“, eine heiter-melancholische Reise in die Hoch-Zeit des Stalinismus. Für das ungarische Kino ist dieser Stoff kein Neuland; es hat sich jener Jahren der Periode zwischen 1948 und 1956, in der Stalins Vasall Rakosi das Land tyrannisierte – kontinuierlich gewidmet, und das schon zu Zeiten, als eine kritische Auseinandersetzung in anderen realsozialistischen Kinematografien längst noch tabu war. Zoltán Fábri („Zwanzig Stunden“, fd 14 115), Ferenc Kósa („Zehntausend Sonnen“, 1967) und István Szabó („Vater“, fd 15 829) gingen gleichsam als Wegbereiter des antistalinistischen Kinos in die Geschichte ein; Péter Bacsós scharfe Satire „Der Zeuge“ (fd 24 222) wurde zwar noch verboten, aber mit Arbeiten wie Pál Gábors „Veras Erziehung“ (fd 23 118) oder András Kovács »Das Gestüt« (1978) erreichten die Ungarn eine filmische und moralische Qualität, die ihresgleichen suchte.Von letztgenannten „Klassikern“ hat „6 : 3“ zumindest die Farbgebung übernommen: Auch Tímár siedelt seinen Film in einem weitgehend grauen Ambiente an; staubige Straßen, ärmliche Wohnungen und Wirtshäuser, darin eine Ansammlung von Menschen, die sich meist dem Opportunismus ergeben haben oder sich um Anpassung bemühen. Tutti, die Hauptfigur, die aus den 90er-Jahren in die 50er zurück katapultiert wird, wurde von Tímár zum Glück nicht als allwissender Intellektueller angelegt; vermutlich wäre der Film dann unerträglich moralistisch geraten. Stattdessen spielt Károly Eperjes den Helden als netten, geistig etwas behäbigen Traumtänzer. Man nimmt ihm ab, dass er zunächst gar nicht begreift, was mit ihm geschah. Und man glaubt ihm das arg langsame Klicken in seinem Kopf, nachdem er statt des 1953 üblichen Grußes „Freiheit“ einfach nur „Guten Tag“ gesagt hatte und darauf fast in Schwierigkeiten geriet. Von ähnlicher Güte sind auch andere Gags, wenn etwa Tutti zu Beginn der Radioübertragung und ungarische Nationalhymne singt, wo doch die „Internationale“ üblich war. Zum Running-Gag schließlich wird Tuttis „Kunst“, die Torfolge des Spiels exakt vorauszusagen. Das bringt ihm fast Prügel ein, und sowohl Polizei als auch Staatssicherheit beginnen sich für ihn zu interessieren.“6 : 3“ bewegt sich weitgehend auf einer humoristischen, beinahe Schweijkschen Ebene. Tímárs Thema ist ja auch nicht die scharfe Abrechnung mit den Machtstrukturen der stalinistischen Diktatur, sondern auch die Widerstandskraft und –lust der so genannten „kleinen“ Leute. Zu den besten Einfällen des Films gehört, dass Tutti während seiner Zeitreise seiner eigenen Mutter begegnet: Helen, ebenfalls bei der Stadtreinigung beschäftigt, wenn auch nicht ganz freiwillig – schließlich wurde sie als „bourgeoises Elemet“ dazu gezwungen. Gerade Helen ist es, die ihrem „unbekannten“ Sohn aus der Patsche hilft: Sie befördert ihn nächtens in einem Handwagen, mit einem Laken bedeckt, durch die Stadt. Als die Polizei sie aufspürt, hilft sie sich und Tutti mit der Ausrede, sie transportiere gerade ein wertvolles sozialistische Denkmal. Überhaupt verdichtet Tímár humoristische Konstellationen immer wieder zu prägnanten Schlaglichtern auf die Zeit. Die Grenze vom Lustspiel zur politischen Satire überschreitet er etwa dann, wenn er Tutti mit ein paar Schriftstellern zusammenführt, die sich weder auf Anpassung noch zaghaften Widerstand festlegen wollen. In ihrem Kreis wirkt Tutti wie ein Katalysator. Zunächst glauben sie in ihm, der das Spiel gegen England so genau vorhersagen kann, einen Provokateur der Geheimpolizei zu erkennen: In einem Land, in dem die Wahrheit nicht viel gilt, sondern vieles zur staatsstabilisierenden Fälschung umfunktioniert wird, ist vermutlich auch die Radioübertragung eine Lüge. Wirklich satirisch wird der Film allerdings erst, als Tutti die Autoren mit ihrer künftigen Rolle beim Volksaufstand 1956 konfrontiert. Wie sich die distinguierten Dichter da plötzlich drehen und winden, gehört zweifellos zu den stärksten Szenen in Tímárs Opus. Genau nach 90 Minuten, exakt der Länge des Fußballspiels, ist der Film zu Ende – wie Tutti das 1953 wider verlässt, sei nicht verraten.„6 : 3“ kam in Ungarn 1999 auf den dritten Platz aller einheimischen Produktionen. Rund 120 000 Ungarn, für dortige Verhältnisse sehr viel, wollten Tímárs Zeitreise sehen. Parallelen zu den nationalen Erfolgen der (ost-)deutschen „Sonnenallee“ (fd 33 876) und der tschechischen „Gemütlichen Nischen“ sind unübersehbar: Die realsozialistische Vergangenheit wird zum schaurig-schönen, insgesamt aber heimeligen, ganz und gar nicht bösartigen Märchen verformt – cineastische Refugien für alle und jeden.
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