„Liebe gibt’s nur im Kino“, sagt Hagen Trinker, der von Jochen Vogel gespielte Obdachlose einmal, und natürlich ist das ein Satz, mit dem man es im Kino nie leicht hat. Ebenso gut könnte man für einen Augenblick in die Kamera blinzeln. Wenn man es doch tut, muß man sich schon sehr sicher bewegen in der aufgebauten Illusion: Wollte Jan Schütte in seiner Verfilmung des im Berber-Milieu angesiedelten Romans von Helmut Krausser tatsächlich Figuren erschaffen, die ganz und gar einer anderen als der Kinorealität entstammen? Einer Welt, in der man tatsächlich nicht auf dramatische Wendepunkte zum Guten hoffen könnte, geschweige denn auf Liebe? Vielleicht käme Ken Loach in einem seiner Sozialdramen mit diesem Satz durch: „Mein Name ist Joe, Liebe gibt’s im Kino“. Wenn Hagen Trinker dies sagt, ist der Film bereits weit fortgeschritten. Seine eigene Liebesgeschichte, zu der ihm eine 15jährige Ausreißerin unbedingt verhelfen möchte, rückt er noch immer weit von sich. Dafür muß er einmal mehr das Scheitern einer Hoffnung miterleben, als seinem hypersensiblen Freund Edgar die Geliebte davon gelaufen ist. Es ist eine wunderschöne und anrührende Szene, in der dieser Satz fällt. Voller Freude über die Veränderung in seinem Leben war Edgar mit seiner Freundin von der Straße in eine Wohnung gezogen. Die Freunde tragen gerade einen irgendwo erbeuteten Sessel herein, als sie von ihrem Auszug erfahren. „Ich versteh’ nicht“, meint Teenager Judith ein wenig naiv, „Edgar hat Liane doch geliebt.“ Die Liebe aber, so erhält sie zur Antwort, gebe es nur im Kino. Glücklicherweise aber befindet man sich genau dort, im Kino nämlich, und so hat man noch Hoffnung. Und da Jan Schütte eben kein strenger Realist ist, kann er sich zwar möglicherweise diesen einen Satz nicht leisten, wohl aber – und das ist viel wichtiger – den ganzen Rest, zu dem das Kino fähig ist. Liebe zum Beispiel.Jürgen Vogel spielt Hagen Trinker als ruppigen und trockenen Fatalisten, für den das Leben längst keine Baustelle mehr ist. In seinem Leben hat er sich damit eingerichtet, sofern man das unter freiem Himmel überhaupt sagen kann. Wer sich keinen Illusionen hingibt, kann auch nicht enttäuscht werden. Diese Haltung erweist sich als funktionaler Schutzwall in einem Milieu, in dem die meisten Freunde bereits durchgedreht sind. Schütte hat einen erstaunlichen Blick für psychotische Verhaltensmuster, die mit dem sozialen Elend so oft einhergehen. Lars Rudolph, der sich als in seiner Liebe glückloser Edgar endgültig in die erste Reihe der deutschen Charakterdarsteller spielt, wirkt nie übertrieben in seiner Überdrehtheit zwischen Hoffnung und Verzweiflung. Wie eine Fassbinder-Figur ist dieser hilflose, aber die Rührung nicht herausfordernde Charakter, der doch nur will, daß man ihn liebt. Hagen Trinker ist dazu in seiner selbstverordneten Coolness der ideale Counterpart. Diese Beziehung hat zunächst auch dann noch Bestand, als sich Judith, die gerade der Überbehütung ihres Elternhauses entflohen ist, in ihn verliebt. Eine gewaltsame Trennung im Augenblick der emotionalen Öffnung zeigt Hagen dann aber doch, daß man immer noch etwas zu verlieren hat: Im Schlafwagen hatten sich beide einen romantischen Schwarzfahrer-Ausflug gegönnt und sich dabei erwischen lassen. Als Judith zu ihren Eltern zurückgeschickt wird, macht sich Hagen auf die Suche nach ihr – ohne dabei mehr über sie zu wissen, als daß sie aus Berlin stammt.Wer ein solches Sujet angeht, das üblicherweise die Gefahr der Elendsromantik geradezu heraufbeschwört, flüchtet sich gern in die Sicherheit dokumentarischer Stilmittel. Schütte hat beides vermieden, und dafür gebührt ihm größter Respekt, insbesondere in einem Filmland, das sich nur noch selten an soziale Themen wagt. Die wirklich „fette Welt“ – das ist hierzulande die der Filmkomödie oder des geschmackssicheren Ausstattungsfilms. Die verhaltene Aufnahme, die Schüttes Film bei der Premiere in Locarno fand, kann nicht davon ablenken, daß er eine denkbar schwierige Aufgabe gemeistert hat: Eine Auftragsarbeit – Günther Rohrbach kam mit dem Projekt auf den Regisseur zu – verlangt Kompromisse, aus denen Autorenfilmer nicht selten desillusioniert hervorgehen.Auch wenn „Fette Welt“ als Milieustudie nicht die Authentizität von „Auf Wiedersehen Amerika“
(fd 30 723) besitzt, überzeugt doch das Bild einer bestimmten emotionalen Befindlichkeit, die sich für gewöhnlich dramaturgischen Aufladungen zu widersetzen pflegt: Die Lethargie eines Hagen Trinker ist nun einmal nichts Spannendes. In Jürgen Vogels beachtlicher Interpretation aber wird – wie schon in „Das Leben ist eine Baustelle“
(fd 32 448) – aus dem Porträt eines Gemütszustandes das einer ganz allgemein verständlichen Lebenshaltung, die viel zu wenig Repräsentanz findet im deutschen Kino. Das visuelle Pendant dieses Gefühlsausdrucks sind verwaschene Handkamerabilder. Thomas Plenert nutzt dabei geschickt die vorhandenden Lichtquellen in neonbeschienenen Bahnhofspassagen. Und schließlich ist da ein trockener Humor, der nichts mit pittoresker Tragikomik zu tun hat. Lediglich in der akkordeonlastigen Filmmusik zeigen sich Anklänge an Fred Kelemens problematisches Elendspathos von „Verhängnis/Fate“
(fd 31 748), dem letzten in diesem Milieu angesiedelten deutschen Spielfilm. Dafür bündelt ein Song von Rio Reiser, die schöne Ballade „Stiller Raum“, nach einem nicht eben glücklichen Ende noch einmal die Gefühle, die sich Schüttes Film bis dahin beim Zuschauer erspielt hat. Anrührend und durchdrungen von einem humanistischen Ideal, zeigt er die Obdachlosigkeit von beiden Seiten: als untragbaren Zustand und (Über-)Lebensform zugleich.