Der Störenfried - Ermittlungen zu Oskar Brüsewitz

Dokumentarfilm | Deutschland 1992 | 94 Minuten

Regie: Thomas Frickel

Aus privaten Fotos, Briefen, Filmaufnahmen und Interviews mit Zeitzeugen formt der dokumentarische Film das Bild des evangelischen Pfarrers Oskar Brüsewitz, eines radikalen Christen in der DDR, der sich 1976 aus Protest gegen den die Glaubensfreiheit unterdrückenden Staat öffentlich verbrannte. Der Film vermeidet jede Heroisierung sowie jede vorschnelle Anklage der zögerlichen Weggefährten von damals. Durch seine Montage lockert er die Wortlastigkeit des Sujets auf und stellt aktuelle Bezüge zum Verhältnis Kirche und Staat her. - Sehenswert ab 16.
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Filmdaten

Produktionsland
Deutschland
Produktionsjahr
1992
Produktionsfirma
HE-Film/WDR/BR
Regie
Thomas Frickel
Buch
Thomas Frickel
Kamera
Thomas Frickel
Musik
Dietmar Staskowiak · Hans-Eckardt Wenzel
Schnitt
Thomas Frickel
Länge
94 Minuten
Kinostart
-
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 16.
Genre
Dokumentarfilm
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Diskussion
Zeitz, 18. August 1976,10.20 Uhr: Oskar Brüsewitz, Pfarrer aus Rippicha, fährt mit seinem Auto vor die Michaeliskirche, auf dessen Dach er ein Transparent befestigt hat, auf dem steht: "Funkspruch an alle... Funkspruch an alle... Die Kirche der DDR klagt den Kommunismus an! Wegen Unterdrückung in Schulen an Kindern und Jugendlichen." Er steigt aus, übergießt sich mit Benzin und verbrennt sich. Die Obrigkeit spielt den Selbstmord des immer schon aufmüpfigen Geistlichen, der auch in seiner Gemeinde umstritten war, herunter, stellt ihn als die Tat eines "Unnormalen" dar. Ihre Versuche, die Kirche zur Distanzierung von ihrem "Schwarzen Schaf" zu bewegen, scheitern allerdings: An der Beerdigung Oskar Brüsewitz' nehmen mehr auswärtige Kollegen teil als Mitglieder der eigenen Gemeinde. Die Zivilcourage, die Brüsewitz zeit seines Wirkens vorgelebt hatte, war offensichtlich auf fruchtbaren Boden gefallen. Die Angst vor staatlichen Repressalien bewegte viele, ihm die letzte Ehre zu erweisen.

15 Jahre später hat sich Thomas Frickel, der schon mit "Schlachtenbummel" (fd 28 777) seinen Blick für aberwitzig-makabre Momentaufnahmen deutscher Geschichte bewiesen hat, mit der Distanz eines Westdeutschen auf die Suche nach Zeitzeugen bei seinen ostdeutschen Neu-Mitbürgern gemacht, die anders als er nur die Wahl zwischen totaler Anpassung oder "selbstmörderischer" Auflehnung hatten. Diese Distanz tut dem Film gut, macht Frickel doch einerseits aus Brüsewitz - trotz offensichtlicher Wertschätzung - keinen Helden, geschweige denn Märtyrer, noch verurteilt er diejenigen, die ihm damals nicht bedingungslos gefolgt sind. Aus alten Familienfotos, privaten Schmalfilm-Aufnahmen, offiziellen Protokoll-Auszügen und Interviews mit Gemeindemitgliedern, Polizisten, Funktionären, Kirchenoberen sowie Brüsewitz' Frau und den beiden Töchtern setzt sich langsam das Bild eines Menschen zusammen, der mit der Sturheit eines Don Quichotte, aber auch mit dem Humor eines (evangelischen) Don Camille gegen "die Finsternis ankämpfte": "Wir warten nicht auf den Kapitalismus, den Sozialismus oder den Kommunismus - wir warten auf das Reich Gottes." Den sozialistischen Transparenten an öffentlichen Gebäuden setzte Brüsewitz christliche Losungen im eigenen Garten entgegen und dem "Sowjetstern" auf den Fabriken ein weithin sichtbares "Leuchtkreuz" auf seiner Kirche. Den Vorwürfen des örtlichen Parteisekretärs, er verschwende damit Energie, entgegnete er: "Dafür schraube ich ein paar Glühbirnen in meinem Haus "raus." Mit solchen "Eulenspiegeleien" hatte der Staat so seine Schwierigkeiten, genauso wie mit Brüsewitz' religiösen Sprüchen versehenem Pferdefuhrwerk, auf das man eher hilflos reagierte: statt Brüsewitz wegen staatszersetzender Aktivitäten zu belangen, bekam er eine Anzeige wegen Verkehrsstörung.

Daß Brüsewitz erwartete, daß alle anderen seinen "aufrechten Gang" mitgehen, hat ihm den Blick für die Realitäten, vor allem die Schwächen der Menschen auch in seiner nächsten Umgebung etwas getrübt. So mußte seine Frau seine eigenen Töchter vor seiner schon zur Manie gewordenen Kompromißlosigkeit schützen, ihnen heimlich Veranstaltungen der "jungen Pioniere" gestatten, um sie nicht endgültig aus dem Klassenverband auszuschließen. Der Film notiert auch diese Ecken und Kanten Brüsewitz', bringt seine Weggefährten dazu, ihren Opportunismus gegenüber dem Staat einzugestehen, ohne sie anzuklagen. Frickel hält sich uneitel zurück, ist nie als Interviewer sichtbar und fragt nur zweimal hörbar nach. Ansonsten hat er aus den Antworten seiner Gesprächspartner oft nur einen Satz verwendet, läßt die Geschichte von einem anderen vollenden und vermeidet somit die unweigerlich aufkommende Langeweile der meisten Interviewfilme mit "redenden Köpfen". Durch diese Methode und den damit verbundenen flüssigen Schnitt entstehen Spannung und Anteilnahme, die über den historischen Zusammenhang hinausreichen und auf aktuelle Fragestellungen zum Verhältnis Kirche und Staat verweisen. Brüsewitz, dessen Selbstmord letztlich durch das durch Druck von oben ausgelöste Versetzungsbegehren seiner Vorgesetzten provoziert wurde, steht für eine radikale Auffassung von Christentum. Ob sie mehr bewirkt hätte, wäre man ihr gefolgt, als die "diplomatische" Art eines Manfred Stolpe, ist die spannendste Frage, mit der einen der Film entläßt.
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