Verschwörung der Kinder

Drama | Belgien/Spanien/Frankreich 1991 | 80 Minuten

Regie: Marion Hänsel

Eine selbstbewußte spanische Fernsehjournalistin in Belgien erwartet ein Kind und erkennt im Lauf ihrer Schwangerschaft, daß sich ihr Baby, aber auch alle anderen noch ungeborenen Kinder weigern, auf eine Welt zu kommen, die von Lieblosigkeit und Gleichgültigkeit beherrscht wird. Ein sehr persönlicher Film, der sich zu einer bewegenden Suche nach Lebenssinn verdichtet, wobei er gesellschaftlichen Mißständen mit dem utopischen Entwurf begegnet, daß Liebe, Fürsorge und Verantwortungsbereitschaft nicht nur den einzelnen, sondern auch die Welt verändern können. (Kinotipp der katholischen Filmkritik.) - Sehenswert ab 16.
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Filmdaten

Originaltitel
SUR LA TERRE COMME AU CIEL
Produktionsland
Belgien/Spanien/Frankreich
Produktionsjahr
1991
Produktionsfirma
Man's Films/Avanti/Sabre TV/Tchin Tchin
Regie
Marion Hänsel
Buch
Marion Hänsel · Paul Le
Kamera
Joseph M. Civit
Musik
Takashi Kako
Schnitt
Susana Rossberg
Darsteller
Carmen Maura (Maria) · Didier Bezace (Tom) · Samuel Mussen (Jeremy) · Jean-Pierre Cassel (Redakteur) · André Delvaux (Professor)
Länge
80 Minuten
Kinostart
-
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 16.
Genre
Drama
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Diskussion
Die Geschichte könnte einem der Bilder des "Tätowierten Mannes" entsprungen sein, den sich Ray Bradbury als Rahmen für seine gleichnamige Sammlung von fantastischen Kurzgeschichten erdachte, und mit "Science Fiction" hat Marion Hänsels Film im weitesten Sinne durchaus auch manches gemein. Dabei ist die Ausgangssituation ebenso alltäglich wie glaubwürdig und nachvollziehbar: Maria, selbstbewußte spanische Fernsehjournalistin in Belgien, die mit Begeisterung und Ehrgeiz ihren Beruf ausübt, offenbart ihren Kollegen, daß sie für eine gewisse Zeit ausfallen werde: sie erwartet ein Kind. Den verblüfft und hilflos reagierenden Männern sagt sie nichts über den Vater des Kindes, denn der spielt auch für sie keine Rolle. Als sie mit einem flüchtigen Bekannten in einem Fahrstuhl stecken geblieben war, hatte sich daraus eine recht ungewöhnliche Liebesnacht entwickelt. Die daraus resultierende Schwangerschaft akzeptiert Maria voller Vorfreude und ist überzeugt, die auf sie zukommenden organisatorischen Probleme allein und mit der ihr eigenen Tatkraft lösen zu können. Nun jedoch, im vollen Bewußtsein eines zukünftigen Kindes, sieht sie bestimmte Dinge um sich mit anderen Augen. Ein Bombenattentat an der Universität mit Toten und Verletzten beschäftigt sie jetzt nicht mehr nur als journalistisches Ereignis, und auch die ernüchternde Erkenntnis, daß öffentliche Institutionen nicht in der Lage sind, ihr unbürokratisch und schnell eine Kinderfrau zu vermitteln, bedeutet eine neue Wahrnehmung sozialer Defizite. Nicht zuletzt die Begegnung mit dem achtjährigen Jeremy, dem vereinsamten Kind ihrer arbeitenden Nachbarn, führt Maria vor Augen, wie teilnahmslos und gleichgültig die Welt der Erwachsenen auf Kinder reagiert, für die sie sich ein (leidlich funktionierendes) System der bloßen Verwahrung geschaffen hat. Und schließlich ist da das erwartete Kind selbst: Während Maria in ihrer Umgebung nicht nur glücklichen Frauen in "froher Erwartung", vielmehr verzweifelten, von Träumen geplagten zukünftigen Müttern begegnet, nähert sie sich mit wachsender Unruhe dem neuen Leben in ihr. Allmählich entsteht ein Dialog mit dem Ungeborenen, und dabei bestätigen sich ihre Vorahnungen: ihr Baby wird sich weigern, auf die Welt zu kommen - genau so, wie alle Ungeborenen "aus der Welt des Lebens vor dem Leben" ihre weltliche Existenz verweigern.

Spätestens hier wird wohl mancher über den vorgeblich eher schlichten Entwurf einer Science-Fiction-Vision lächeln und diese als ebenso ungelenke wie aufgesetzte Konstruktion abtun. Doch um "der Wahrheit" des Films näherzukommen, muß man sich seiner Details vergewissern. Marion Hänsel entwickelt in der Tat ein rigoros-subjektives Planspiel, in dem sie das gesellschaftliche Umfeld allenfalls holzschnittartig skizziert und es nur in einigen Schlagworten - Terrorismus, Genforschung und -manipulation etc. - "zitiert", um es dann dem einzelnen zu überlassen, die vorgetragenen Thesen mit jeweils eigenen Erfahrungen zu verbinden. Was sie viel mehr interessiert, ist der Versuch zu vermitteln, wie Gefühle und damit verbundene sensitive Wahrnehmungen den Blick auf die Welt schärfen und diese vielleicht sogar verändern können. Schritt für Schritt löst Marion Hänsel hierfür die Handlung aus ihren pragmatisch-rationalen Erzählzusammenhängen und verdichtet sie zu einem metaphysischen, ja beinahe spirituellen Dialog zwischen Mutter und ungeborenem Kind - dort die im diesseitigen Leben verwurzelte, diesem aber bis zur existentiellen Krise zunehmend entfremdete Frau, dort das Kind, das keine Chance auf Liebe bzw. Geliebtwerden sieht und deshalb das Leben auf Erden nicht mehr als lebenswert erachtet. Hier ist Marion Hänsel ganz nah an der Thematik all ihrer Filme - der komplexen, unlösbaren Beziehung zweier Menschen -, wobei sie zum ersten Mal ein hoffnungsverheißendes Ende findet: der intensive gedankliche und emotionale Austausch zwischen Mutter und Kind führt nicht in Isolation und Katastrophe, ist vielmehr eine Art Garant dafür, daß ein gesellschaftlicher Suizid abgewendet werden kann.

Sicher: Das ist alles andere als eine "politische" Argumentation, aber "politisch" argumentieren heißt für Marion Hänsel, lediglich vorgegebene Denkmuster zu bemühen und keinen Mut für individuelle Ansätze zu haben. So kämpft sie sich regelrecht durch die seelischen Nöte ihrer Hauptdarstellerin, wobei sie sich eher von deren emotionaler Entwicklung leiten läßt als von einer allseitig nachvollziehbaren äußeren Logik. Genauso wenig schert sie sich um einen stets austarierten "Realismus" in ihrer Inszenierung, die gelegentlich arg hölzern wirkt, aber stets von der eindrucksvollen Hauptdarstellerin gerettet wird. Insgesamt entwickelt der Film eine ungeheure emotionale Sogwirkung, der man sich nur entziehen kann, wenn man der imaginativen Kraft des Kinos generell mißtraut. Dabei leistet der auf den ersten Blick zutreffende deutsche Verleihtitel wenig Orientierungs- und "Lese"-Hilfe: er bleibt an der Oberfläche und ignoriert das ebenso selbstbewußt wie selbstverständlich von Marion Hänsel behandelte "Wunder", das ein neugeborenes Kind als Versprechen für die Zukunft darstellt; dessen unübersehbare christliche Dimension beinhaltet nur der französische Originaltitel, der eine Zeile des Vaterunsers zitiert ("... wie im Himmel, so auch auf Erden ...").

Marion Hänsel geht es um nichts Geringeres als um Leben und Tod - im konkreten wie im metaphysischen Sinn. Es geht um Fragen nach dem, was das Leben lebenswert erscheinen läßt, damit verbunden aber auch darum, daß der Mensch ein schlechter Statthalter des Planeten Erde, vor allem ein schlechter Verwalter aller geistigen, spirituellen und religiösen Werte ist. Daß solche Erkenntis vielleicht "nur" (noch) einer schwangeren Frau kommen kann, ist für sie einerseits ein Armutszeugnis für die gesamte Menschheit, die, gleich ob Frau oder Mann, selbstsüchtig und gefühllos geworden ist; andererseits ist es aber auch ein Rettungsanker, ein Zeichen dafür, daß Liebe, Fürsorge und Verantwortungsbereitschaft entscheidende "private" Stärken der/des einzelnen sind, die auch gesellschaftlichen Einfluß ausüben können. Das ist natürlich nur eine Utopie, aber sie ist bewegend und anregend wie das Ende der märchenhaften Geschichte: Marias Kind entscheidet sich aus Liebe zur Mutter, auf die Welt zu kommen. Mit der Geburt vergißt es all sein bisheriges Wissen, und nun ist es Pflicht und Aufgabe des Erwachsenen, ihm ein lebenswertes, sinnvolles Dasein zu schaffen: "wie im Himmel so auch auf Erden".
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