Sinnliche, geheimnisvolle Geschichten mag Anne Fontaine, geboren 1959 in Luxemburg, deren Karriere als Filmemacherin nach einem Tanz- und Philosophiestudium in Paris begann, am liebsten, wie sie im Interview berichtet. Nach ihrem Biopic über Coco Chanel widmet sie sich nun mit „Bolero“ einem der bedeutendsten französischen Komponisten, Maurice Ravel, über dessen Leben gar nicht so viel bekannt ist.
Madame Fontaine, Sie erzählen die Entstehungsgeschichte des berühmtesten Werks von Maurice Ravel, aber es vermittelt sich nicht das Gefühl, dass die große, fast aggressive Kraft dieser Musik Ihren Film bestimmt. Er mutet vielmehr streckenweise sehr schwermütig, leise und verhalten an. Die neurologische Krankheit, unter der Ravel später leidet und stirbt, scheint schon von Beginn des Films an ihre Schatten vorauszuwerfen.
Anne Fontaine: Es freut mich, dass Sie
das ansprechen, bislang hat mich niemand zuvor in einem Interview danach
befragt! In der Tat wollten Claire Barré, meine Koautorin am Drehbuch,
und ich zu Beginn des Films die Anfänge von Ravels neurologischer Störung
sichtbar machen. Wir konzentrierten uns zunächst mehr auf seine Menschlichkeit
und Zerbrechlichkeit als auf seine Musik und kamen ihm so näher. Ravel war in
sich selbst verloren, und das berührt so stark an seinem Leben. Genauso wie sein
Humor, der ihm noch in den dramatischsten Momenten nicht abhandenkam. Mit dem
Fortschreiten seiner neurologischen Krankheit wurde seine Situation immer
schlimmer, weil er irgendwann seine eigene Musik nicht mehr erkennen konnte. Er
bemerkt die Genialität des Bolero und erinnert sich gar nicht, dass er ihn
geschrieben hat. Als wir das Drehbuch geschrieben haben, hatte ich diese
Krankheit stets im Hinterkopf.
Das spürt man, denn Ravel verhält sich in Ihrem Film durchweg sehr ungewöhnlich. Der große Erfolg seines Bolero scheint ihn gar nicht so recht glücklich zu machen. In einer Szene sagt er, die ganze Musikwelt würde über den Bolero reden und ihn würde das wahnsinnig machen, weil er seinen Kopf für kein anderes Werk mehr innerlich frei machen könne….
Anne Fontaine:
Stimmt. Er sagt, der Bolero sei ein Stück ohne Musik. Erst als seine Krankheit
fortschreitet, wird er sich bewusst, was dieses Stück so bemerkenswert macht.
Aber da bringt er es gar nicht mehr mit sich in Verbindung. Mir gefällt die
Idee, dass jemand seinen Erfolg oder Misserfolg nicht selbst in der Hand hat.
Freilich weiß jeder, der Musik liebt, dass Ravel auch andere geniale Werke
außer dem Bolero geschrieben hat, die wir in dem Film auch hören: „La Pavane“, „La Valse“, das Klavierkonzert
in G-Dur, „Ma Mère L’Oye“,
sowie einige ausgewählte Klavierstücke, „Alborada
del gracioso“ aus dem Zyklus „Miroirs“,
„Le Gibet“ aus dem Zyklus „Gaspard de
la nuit“, die „Sérénade
Grotesque“ oder „Le Cygne“
(„Der Schwan“) aus den „Histoires
Naturelles“. Und als Ravel Ida
Rubinsteins Kompositionsauftrag für eine
Ballettmusik akzeptierte, woraus schließlich der Bolero entstand, sagte er ihr,
dass sie, wenn es zeitlich dränge, den Auftrag gerne an Strawinsky vergeben
könne, weil der viel schneller komponierte. Jeder wusste, dass Ravel sehr viel
Zeit für seine Stücke benötigte, er war ein gnadenloser Perfektionist. Im Film erleben
wir, wie schwer er sich mit dem Bolero tut.
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Ihr Protagonist erscheint noch in anderer Hinsicht als ein ungewöhnlicher Charakter: Er ist permanent von Frauen umgeben, aber mit keiner wird er intim. Es bleibt selbst im Fall von Misia Sert, seiner Muse, allenfalls eine platonische Liebe. Im Gegensatz zu der Sinnlichkeit der Musik sowie der Eleganz und Schönheit der Bilder wirkt der Film damit auf der Handlungs- und Beziehungsebene sehr asketisch. Wie darf man das deuten?
Anne Fontaine: Mich fasziniert dieses
Geheimnis, das Ravel umgibt. Ich denke nicht, dass man alles erklären muss.
Einige Biografen haben behauptet, dass er homosexuell war, ich aber denke, dass
er seine Sexualität nur durch die Musik leben konnte, sie wurde zu seinem
Ausdruck von Liebe und Erotik. Er schien sich in eine klassische Liebesbeziehung
nicht einfügen zu können. Diese Distanz hatte etwas Tragisches, aber auch
Faszinierendes. Frauen liebte er wie Ikonen, worin er sehr modern war. Ich denke
da zum Beispiel an Yves Saint Laurent, der schwul war und ebenfalls eine Muse
hatte (die ich sehr gut kenne) und die gar keinen Sex hatte. Über Ravel wissen
wir, dass er hin – und wieder ins Bordell ging, dies wohl aber auch weniger, um
sich dort körperlich auszuleben. In einer unserer Szenen bittet er zum Beispiel
ein Callgirl, ihre Handschuhe auszuziehen, wobei das dabei entstehende Geräusch
auf ihrer Haut seine sexuelle Fantasie anregt. Aus meiner Sicht erscheint ein
so ungewöhnlicher Charakter sehr viel interessanter als ein 08/15- Mann. Das
weckt auch die Neugier beim Zuschauer, darüber nachzudenken, was das für ein
Mann und was sein Geheimnis war.
In gewisser Weise ist Bolero also ein Mystery-Film?
Anne Fontaine: Ja, wobei ich aber der Meinung bin, dass jede Figur ein Geheimnis haben sollte, egal, ob es sich dabei um ein Genie oder eine Person mit einem normalen Leben handelt. Ich mag es nicht, alles erklären zu müssen.
Was für eine Bedeutung hat der Bolero für Sie?
Anne Fontaine: Irgendwie ist diese Musik sehr modern in der Weise, wie sie gleichermaßen Künstler aus der Rock- oder Weltmusik inspiriert. Und es erstaunt, wie Ravel das geschafft hat nur mit Klängen, Wiederholungen und einer sagenhaften Erotik in der Musik. Ich selbst bin Tochter eines Musikers und sehr vertraut mit klassischer Musik. Der Bolero ist aber gar nicht klassisch, sondern universell. Auf den ersten Blick denkt man an Voodoo. So ging es mir damals, als ich selbst einmal eine Tänzerin war und tief beeindruckt von Maurice Béjarts Choreografie des Bolero, getanzt von Jorge Donn. Diese Inszenierung war von einer intensiven Erotik durchzogen.
Ein paar künstlerische Freiheiten haben Sie sich, was Ravels Biografie angeht, gelassen. Aber der Ort des Geschehens ist sehr authentisch, denn gedreht haben Sie in Ravels realem Haus, Le Belvédère, in Monfort-l’Amaury.
Anne Fontaine: Dieses idyllisch gelegene Haus ist ein außergewöhnlicher Ort. Ich bin sehr dankbar dafür, dass wir dort drehen durften. Alles darin spiegelt Ravel wider: die schmalen Flure, der japanische Garten, die kleinen mechanischen Spielzeuge. Ich hatte ursprünglich geplant, ein Set nachzubauen, aber nichts hätte die Authentizität dieses Ortes ersetzen können.
In früheren Jahrzehnten war es oft so, dass Schauspieler Komponisten oder Musiker spielten, denen man anmerkte, dass sie keine Ahnung von Musik hatten; sie wirkten beim Spielen oder Singen dilettantisch. Mittlerweile hat sich das stark verändert. Lars Eidinger hat für seine Rolle in dem Film „Sterben“ dirigieren gelernt, Angelina Jolie für ihre Rolle von Maria Callas sechs Monate Gesangsunterricht genommen, was sich sehr ausgezahlt hat. Und auch Ihr Hauptdarsteller hat sich intensiv auf die Rolle von Ravel vorbereitet!
Anne Fontaine: Ja, Raphaël Personnaz hat ein Jahr lang Klavierunterricht genommen, um 75 bis 80 Prozent der erwähnten Stücke im Film glaubwürdig zu spielen. Und so hat er sich der anspruchsvollen Rolle auch angenähert, sinnlich über das Spielen von Ravels Musik. Ich konnte ihm auch einen Kontakt zu Alexandre Tharaud herstellen, einem der bedeutendsten Pianisten unserer Zeit. Tharaud sagt: Wenn er Ravel spielt, empfindet er dessen Hände, und über eine solche starke Sensitivität kann man wohl Ravel am nahesten kommen. Hinzu kamen für Raphaël Personnaz sechs, sieben Monate Unterricht im Dirigieren.
Der Bolero hat auch zahlreiche andere Regisseure inspiriert, in deren Filmen unterschiedliche Menschengruppen zusammen musizieren, die andernfalls nicht miteinander in Berührung gekommen wären. Der Film „Crescendo“ um israelische und arabische Musiker, die ein Dirigent zu einem Klangkörper formen will, ist ein Beispiel dafür. Die Komödie „Die leisen und die großen Töne“ ein weiteres, in beiden kommt in der Schluss-Szene der Bolero zum Erklingen. Warum eignet sich das Stück so gut, um Gemeinschaft anzukurbeln?
Anne Fontaine: Der prägnante Rhythmus und die Musik lassen einen einfach nicht los, sie raubt einem den Atem und schüttelt einen durch wie in einer Waschmaschine. Das ist ein sehr körperliches Empfinden, der Kopf und jegliche Ratio bleiben da völlig außen vor. In dem Fall ist die Musik aber gar nicht schön, sondern brutal. Und auf dieser Grausamkeit baut der Film letztlich ja auf. Der Bolero trägt in gewisser Weise den Tod schon in sich. Aber der Tod gebiert auch wieder neues Leben. Das klingt jetzt sehr metaphysisch, aber auch jemand, der davon keine Ahnung hat, spürt in dieser Musik eine einmalige Erfahrung. Mir kommt da ein Film in den Sinn, in dem Afrikaner in einem sehr armen Land den Bolero tanzen. Ihre Choreographie an einem Strand ist sehr simpel, aber wunderbar zugleich.