© Agora Films/X Verleih, Pascal Chantier (Jeanne Balibar, Mitte, in "Bolero")

Musik, Mysterium & Erotik

Filmemacherin Anne Fontaine im Gespräch über ihren Film „Bolero“ über die Arbeit des Komponisten Maurice Ravel an seinem bekanntesten Werk.

Aktualisiert am
06.03.2025 - 11:25:24
Diskussion

Sinnliche, geheimnisvolle Geschichten mag Anne Fontaine, geboren 1959 in Luxemburg, deren Karriere als Filmemacherin nach einem Tanz- und Philosophiestudium in Paris begann, am liebsten, wie sie im Interview berichtet. Nach ihrem Biopic über Coco Chanel widmet sie sich nun mit „Bolero“ einem der bedeutendsten französischen Komponisten, Maurice Ravel, über dessen Leben gar nicht so viel bekannt ist.


Madame Fontaine, Sie erzählen die Entstehungsgeschichte des berühmtesten Werks von Maurice Ravel, aber es vermittelt sich nicht das Gefühl, dass die große, fast aggressive Kraft dieser Musik Ihren Film bestimmt. Er mutet vielmehr streckenweise sehr schwermütig, leise und verhalten an. Die neurologische Krankheit, unter der Ravel später leidet und stirbt, scheint schon von Beginn des Films an ihre Schatten vorauszuwerfen.

Anne Fontaine: Es freut mich, dass Sie das ansprechen, bislang hat mich niemand zuvor in einem Interview danach befragt! In der Tat wollten Claire Barré, meine Koautorin am Drehbuch, und ich zu Beginn des Films die Anfänge von Ravels neurologischer Störung sichtbar machen. Wir konzentrierten uns zunächst mehr auf seine Menschlichkeit und Zerbrechlichkeit als auf seine Musik und kamen ihm so näher. Ravel war in sich selbst verloren, und das berührt so stark an seinem Leben. Genauso wie sein Humor, der ihm noch in den dramatischsten Momenten nicht abhandenkam. Mit dem Fortschreiten seiner neurologischen Krankheit wurde seine Situation immer schlimmer, weil er irgendwann seine eigene Musik nicht mehr erkennen konnte. Er bemerkt die Genialität des Bolero und erinnert sich gar nicht, dass er ihn geschrieben hat. Als wir das Drehbuch geschrieben haben, hatte ich diese Krankheit stets im Hinterkopf.

Regisseurin Anne Fontaine, 2024 bei der Pariser Premiere von "Bolero" (© IMAGO/ABACAPRESS/Niviere David)
Regisseurin Anne Fontaine, 2024 bei der Pariser Premiere von "Bolero" (© IMAGO/ABACAPRESS/Niviere David)

Das spürt man, denn Ravel verhält sich in Ihrem Film durchweg sehr ungewöhnlich. Der große Erfolg seines Bolero scheint ihn gar nicht so recht glücklich zu machen. In einer Szene sagt er, die ganze Musikwelt würde über den Bolero reden und ihn würde das wahnsinnig machen, weil er seinen Kopf für kein anderes Werk mehr innerlich frei machen könne….

Anne Fontaine: Stimmt. Er sagt, der Bolero sei ein Stück ohne Musik. Erst als seine Krankheit fortschreitet, wird er sich bewusst, was dieses Stück so bemerkenswert macht. Aber da bringt er es gar nicht mehr mit sich in Verbindung. Mir gefällt die Idee, dass jemand seinen Erfolg oder Misserfolg nicht selbst in der Hand hat. Freilich weiß jeder, der Musik liebt, dass Ravel auch andere geniale Werke außer dem Bolero geschrieben hat, die wir in dem Film auch hören: „La Pavane“, „La Valse“, das Klavierkonzert in G-Dur, „Ma Mère L’Oye“, sowie einige ausgewählte Klavierstücke, „Alborada del gracioso“ aus dem Zyklus „Miroirs“, „Le Gibet“ aus dem Zyklus „Gaspard de la nuit“, die „Sérénade Grotesque“ oder „Le Cygne“ („Der Schwan“) aus den „Histoires Naturelles. Und als Ravel Ida Rubinsteins Kompositionsauftrag für eine Ballettmusik akzeptierte, woraus schließlich der Bolero entstand, sagte er ihr, dass sie, wenn es zeitlich dränge, den Auftrag gerne an Strawinsky vergeben könne, weil der viel schneller komponierte. Jeder wusste, dass Ravel sehr viel Zeit für seine Stücke benötigte, er war ein gnadenloser Perfektionist. Im Film erleben wir, wie schwer er sich mit dem Bolero tut.

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Ihr Protagonist erscheint noch in anderer Hinsicht als ein ungewöhnlicher Charakter: Er ist permanent von Frauen umgeben, aber mit keiner wird er intim. Es bleibt selbst im Fall von Misia Sert, seiner Muse, allenfalls eine platonische Liebe. Im Gegensatz zu der Sinnlichkeit der Musik sowie der Eleganz und Schönheit der Bilder wirkt der Film damit auf der Handlungs- und Beziehungsebene sehr asketisch. Wie darf man das deuten?

Anne Fontaine: Mich fasziniert dieses Geheimnis, das Ravel umgibt. Ich denke nicht, dass man alles erklären muss. Einige Biografen haben behauptet, dass er homosexuell war, ich aber denke, dass er seine Sexualität nur durch die Musik leben konnte, sie wurde zu seinem Ausdruck von Liebe und Erotik. Er schien sich in eine klassische Liebesbeziehung nicht einfügen zu können. Diese Distanz hatte etwas Tragisches, aber auch Faszinierendes. Frauen liebte er wie Ikonen, worin er sehr modern war. Ich denke da zum Beispiel an Yves Saint Laurent, der schwul war und ebenfalls eine Muse hatte (die ich sehr gut kenne) und die gar keinen Sex hatte. Über Ravel wissen wir, dass er hin – und wieder ins Bordell ging, dies wohl aber auch weniger, um sich dort körperlich auszuleben. In einer unserer Szenen bittet er zum Beispiel ein Callgirl, ihre Handschuhe auszuziehen, wobei das dabei entstehende Geräusch auf ihrer Haut seine sexuelle Fantasie anregt. Aus meiner Sicht erscheint ein so ungewöhnlicher Charakter sehr viel interessanter als ein 08/15- Mann. Das weckt auch die Neugier beim Zuschauer, darüber nachzudenken, was das für ein Mann und was sein Geheimnis war.

faszinierend geheimnisvoll: Raphaël Personnaz, Mitte, als Maestro Ravel ( © Agora Films/X Verleih, Pascal Chantier)
Faszinierend geheimnisvoll: Raphaël Personnaz, Mitte, als Maestro Ravel ( © Agora Films/X Verleih, Pascal Chantier)

In gewisser Weise ist Bolero also ein Mystery-Film?

Anne Fontaine: Ja, wobei ich aber der Meinung bin, dass jede Figur ein Geheimnis haben sollte, egal, ob es sich dabei um ein Genie oder eine Person mit einem normalen Leben handelt. Ich mag es nicht, alles erklären zu müssen.

Was für eine Bedeutung hat der Bolero für Sie?

Anne Fontaine: Irgendwie ist diese Musik sehr modern in der Weise, wie sie gleichermaßen Künstler aus der Rock- oder Weltmusik inspiriert. Und es erstaunt, wie Ravel das geschafft hat nur mit Klängen, Wiederholungen und einer sagenhaften Erotik in der Musik. Ich selbst bin Tochter eines Musikers und sehr vertraut mit klassischer Musik. Der Bolero ist aber gar nicht klassisch, sondern universell. Auf den ersten Blick denkt man an Voodoo. So ging es mir damals, als ich selbst einmal eine Tänzerin war und tief beeindruckt von Maurice Béjarts Choreografie des Bolero, getanzt von Jorge Donn. Diese Inszenierung war von einer intensiven Erotik durchzogen.

Ein paar künstlerische Freiheiten haben Sie sich, was Ravels Biografie angeht, gelassen. Aber der Ort des Geschehens ist sehr authentisch, denn gedreht haben Sie in Ravels realem Haus, Le Belvédère, in Monfort-l’Amaury.

Anne Fontaine: Dieses idyllisch gelegene Haus ist ein außergewöhnlicher Ort. Ich bin sehr dankbar dafür, dass wir dort drehen durften. Alles darin spiegelt Ravel wider: die schmalen Flure, der japanische Garten, die kleinen mechanischen Spielzeuge. Ich hatte ursprünglich geplant, ein Set nachzubauen, aber nichts hätte die Authentizität dieses Ortes ersetzen können.

Für "Bolero" konnte als Drehort Ravels reales Haus genutzt werden (© Agora Films/X Verleih, Pascal Chantier)
Für "Bolero" konnte als Drehort Ravels reales Haus genutzt werden (© Agora Films/X Verleih, Pascal Chantier)

In früheren Jahrzehnten war es oft so, dass Schauspieler Komponisten oder Musiker spielten, denen man anmerkte, dass sie keine Ahnung von Musik hatten; sie wirkten beim Spielen oder Singen dilettantisch. Mittlerweile hat sich das stark verändert. Lars Eidinger hat für seine Rolle in dem Film „Sterben“ dirigieren gelernt, Angelina Jolie für ihre Rolle von Maria Callas sechs Monate Gesangsunterricht genommen, was sich sehr ausgezahlt hat. Und auch Ihr Hauptdarsteller hat sich intensiv auf die Rolle von Ravel vorbereitet!

Anne Fontaine: Ja, Raphaël Personnaz hat ein Jahr lang Klavierunterricht genommen, um 75 bis 80 Prozent der erwähnten Stücke im Film glaubwürdig zu spielen. Und so hat er sich der anspruchsvollen Rolle auch angenähert, sinnlich über das Spielen von Ravels Musik. Ich konnte ihm auch einen Kontakt zu Alexandre Tharaud herstellen, einem der bedeutendsten Pianisten unserer Zeit. Tharaud sagt: Wenn er Ravel spielt, empfindet er dessen Hände, und über eine solche starke Sensitivität kann man wohl Ravel am nahesten kommen. Hinzu kamen für Raphaël Personnaz sechs, sieben Monate Unterricht im Dirigieren.

Der Bolero hat auch zahlreiche andere Regisseure inspiriert, in deren Filmen unterschiedliche Menschengruppen zusammen musizieren, die andernfalls nicht miteinander in Berührung gekommen wären. Der Film „Crescendo“ um israelische und arabische Musiker, die ein Dirigent zu einem Klangkörper formen will, ist ein Beispiel dafür. Die Komödie „Die leisen und die großen Töne“ ein weiteres, in beiden kommt in der Schluss-Szene der Bolero zum Erklingen. Warum eignet sich das Stück so gut, um Gemeinschaft anzukurbeln?

Anne Fontaine: Der prägnante Rhythmus und die Musik lassen einen einfach nicht los, sie raubt einem den Atem und schüttelt einen durch wie in einer Waschmaschine. Das ist ein sehr körperliches Empfinden, der Kopf und jegliche Ratio bleiben da völlig außen vor. In dem Fall ist die Musik aber gar nicht schön, sondern brutal. Und auf dieser Grausamkeit baut der Film letztlich ja auf. Der Bolero trägt in gewisser Weise den Tod schon in sich. Aber der Tod gebiert auch wieder neues Leben. Das klingt jetzt sehr metaphysisch, aber auch jemand, der davon keine Ahnung hat, spürt in dieser Musik eine einmalige Erfahrung. Mir kommt da ein Film in den Sinn, in dem Afrikaner in einem sehr armen Land den Bolero tanzen. Ihre Choreographie an einem Strand ist sehr simpel, aber wunderbar zugleich.



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