Mit „Das Licht“ meldet sich Tom Tykwer im Kino zurück. Der Filmemacher, der einst mit „Lola rennt“ für Furore sorgte und mit seinen Kollegen von X-Filme eine neue Ära des deutschen Films einläutete, hat seit „Ein Hologramm für den König“ (2016) nicht mehr fürs Kino inszeniert, sondern mit „Babylon Berlin“ Seriengeschichte geschrieben. Sein jüngstes Werk eröffnet am 13. Februar die 75. Berlinale.
Es ist ein trüber Donnerstagmittag im November 2023 in Potsdam. Auf der großen Tafel vor dem Eingang von Studio Babelsberg, wo die in Produktion befindlichen Filme angezeigt werden, stehen Titel wie „The Ballad of Songbirds and Snakes“ und „Retribution“. Doch das stimmt nicht ganz, da diese Filme längst abgedreht sind. Man hat die Titel nicht entfernt, um zu kaschieren, dass das Studio leer steht. Nur in einer Halle herrscht geschäftiges Treiben, in Halle 20. Dort steht Deutschlands größter Tank für Aufnahmen unter Wasser, vier Meter tief, gefüllt mit 500.000 Litern. Über die grün glitzernde Oberfläche sind Seile gespannt, an denen sich die in Neopren gehüllten Schauspieler in den Pausen festhalten können, damit sie nicht ständig Wasser treten müssen. Es lohnt sich für Nicolette Krebitz und Lars Eidinger nicht, für jeden Take den Tank zu verlassen. Auf einem Podium am Rand der Wasserfläche stehen Bildschirme, wo Tom Tykwer kontrollieren kann, welche Bilder die Unterwasserkameras einfangen. Es ist der 30. Drehtag von „Das Licht“, Tykwers erstem Kinofilm seit „Ein Hologramm für den König“ (2016), und hier entsteht das Finale: die Szenen in der Zelle, die von eindringendem Wasser bis zur Decke geflutet wird, eine bewusste oder unbewusste Anspielung auf Fritz Langs „DasTestament des Dr. Mabuse“.
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Aufbruch in eine neue Ära des deutschen Films
Es ist eine spektakuläre Szene, wie Tykwer sie noch nie gedreht hat. Immerhin macht er seit seinem zwölften Lebensjahr Filme; der erste hieß „Kampf der Giganten“. Godzilla kam von der einen Seite ins Bild, King Kong von der anderen. Im Verlaufe des Kampfes explodierte ein Haus. „Lola rennt“ (1998) stand für den Aufbruch weg vom satten Beziehungskino der West-Republik, die noch nicht begriffen hatte, dass die Zeit der Komödien bald vorbei sein würde. Bis heute ist „Lola rennt“ der meistzitierte und -analysierte deutsche Film nach denen von Fassbinder. Bei den Verhandlungen zum US-Kinostart lieferte sich Tykwer ein Brüllduell mit Harvey Weinstein und wählte als Verleiher für „Lola“ dann Sony anstelle von Miramax.
Tykwer drehte den ersten als Blockbuster geplanten deutschen Film: „Das Parfum“. Tykwer stand hinter dem teuersten deutschen Film aller Zeiten, dem „Cloud Atlas“. Und er gab zehn Jahre seines Lebens für die teuerste und erfolgreichste deutsche Fernsehserie, für „Babylon Berlin“, deren Renommee so groß ist, dass man eine europäische Autorin, als sie sich in Hollywood vorstellte, zuerst fragte: „Did you write ,Babylon Berlin‘?“
Kreative Partnerschaft: X-Filme
Dabei ist der wichtigste Meilenstein noch gar nicht erwähnt: Die Gründung der Firma X-Filme im Juli 1994. Ein paar Jahre lang hatten sich Berliner Regisseure regelmäßig getroffen und über die Probleme der Szene geredet, oder eher: gejammert. Dann taten vier etwas: die Jungregisseure Dani Levy, Wolfgang Becker und Tom Tykwer sowie der Produzent Stefan Arndt. Sie legten die Latte hoch, denn sie wollten die deutschen United Artists werden, nach dem Vorbild von Chaplin, Griffith, Pickford und Fairbanks, die 100 Jahre zuvor ihre künstlerischen und finanziellen Interessen in die eigene Hand genommen hatten, um unabhängig von den Kommerz-Studios zu sein. „Vier Menschen, ein Gedanke“, hieß es auf der X-Webseite, „durch ein Miteinander niemals still zu stehen, durch Offenheit in alle Richtungen Dinge zu bewegen und die scheinbaren Gegensätze von inhaltlicher Ernsthaftigkeit und Publikumserfolg zu verbinden.“
Dani Levy legte mit dem ersten X-Film „Stille Nacht“ vor, Wolfgang Becker folgte mit „Das Leben ist eine Baustelle“ und schließlich Tom Tykwer mit einem Doppelschlag: „Winterschläfer“ im Herbst 1997 und „Lola rennt“ im Herbst 1998. „Winterschläfer“ ist ein Generationsporträt von Dreißigjährigen, die nicht wissen, was sie wollen, gezeichnet von dem gerade 30 gewordenen Autodidakten Tykwer, der sehr genau wusste, was er will. Er ordnet seinen vier Protagonisten (Ulrich Matthes, Marie-Lou Sellem, Heino Ferch, Floriane Daniel) Signalfarben zu und lässt sie zufällig und schicksalhaft und schuldhaft aufeinandertreffen. „Lola rennt“ hingegen ist ein existenzielles Videospiel, drei Varianten der gleichen Geschichte, ein Gedankenexperiment über die Zeit, den Raum und den Zufall. Es gibt, sagt der Film, nur eine kleine Chance, unserem vorbestimmten Schicksal zu entkommen, aber es lohnt sich, es zu versuchen.
Einen Monat, bevor der „Lola“-Dreh begann, schrieb Tom Tykwer an seine Mannschaft einen Brief. Filmemachen sei häufig wie ein Hindernisrennen: „Aber manchmal kommen Filme heraus, die trotz der offensichtlichen Verstöße gegen die Regeln des Geschichtenerzählens, der Märkte und des Geldes spannend, clever, emotional und intelligent sind. Lasst uns solch einen Film machen.“
Zufall und Schicksal
Den Hype, der sich um „Lola“ entwickelte, kann man sich heute kaum mehr vorstellen. Zweieinhalb Millionen Besucher liefen in Deutschland in diesen kleinen Experimentalfilm. Kraft-Ketchup verkaufte sechs Millionen Flaschen mit dem Abbild der rothaarigen Lola. Chefredakteure verboten ihren Journalisten irgendwann Varianten des Titels in den Überschriften („Lola pennt“, „Lola spinnt“ etc.). Franka Potente zierte das Titelbild von „Time Out“. Winona Ryder, Julia Roberts und James Cameron bequemten sich ins Nuart Theater am Santa Monica Boulevard, um das Werk des deutschen Wunderkinds zu besichtigen. CAA, die mächtigste Talentagentur der Welt, nahm Tom Tykwer unter Vertrag.
Tykwer aber blieb in Deutschland, eingebettet in die X-Familie, und beging nicht den Fehler der meisten deutschen Hollywood-Touristen, als Einzelkämpfer dorthin zu fahren. Er hielt an seinen Vertrauten fest, dem Kameramann Frank Griebe, der Editorin Mathilde Bonnefoy, dem Mitkomponisten Johnny Klimek. Der erste post-„Lola“-Film entstand in seiner Heimatstadt Wuppertal, wo er mit 14 Jahren Kartenabreißer in der „Filminitiative“ geworden war und mit 16 als Programmmacher des „Cinema“ die Schlüssel zum Haus bekommen hatte. „Der Krieger und die Kaiserin“ ist heute der unbekannteste Tykwer-Film, obwohl er viele später immer wiederkehrende Motive in sich vereint. Die Krankenschwester Sissi (Franka Potente) wird nach einem Unfall von einem Fremden namens Bodo (Benno Fürmann) durch einen Luftröhrenschnitt gerettet; danach verschwindet der Mann. Bodo ist durch den Selbstmord seiner Frau traumatisiert und will nach Australien auswandern, um ein neues Leben zu beginnen. Um das nötige Geld aufzutreiben, plant er einen Banküberfall – und trifft dabei auf Sissi, die gerade ein Schließfach leert. Da sind sie, die großen Tykwer‘schen Lebenszufälle, die unentrinnbaren Schicksale, die Überschreitung von Grenzen im Namen einer unabdingbaren Liebe, die alles rechtfertigt, selbst den Bruch von Gesetz und Moral.
Noch deutlicher wird das in „Heaven“, Tykwers erster internationaler Produktion, nach einem Drehbuch des jung verstorbenen Krzysztof Kieślowski. Der polnische Filmemacher übte mit seinem Kreisen um Zufälle und Determinismus damals den größten Einfluss auf Tykwer aus; in „Der Zufall möglicherweise“ hatte Kieślowski drei mögliche Verläufe des Lebens seines Protagonisten durchgespielt, je nachdem, ob er einen Zug erreicht oder nicht. Die Heldin von „Heaven“, Cate Blanchett als Philippa, ist eine Lehrerin; mehrere Schüler sind an Drogen gestorben. Obwohl der Kopf des Kartells, eine Stütze der Gesellschaft, bekannt ist, hat die Polizei nichts unternommen. Philippa beschließt, selbst für Gerechtigkeit zu sorgen. Sie legt eine Bombe im Büro des Drogenchefs. Doch der Zufall will es, dass vier Unschuldige getötet werden. Sie wird gefasst – und während der Verhöre verliebt sich ein Polizist in sie. Noch eine von Tykwers unmöglichen Lieben.
Auf Blockbuster-Kurs
Dann begab sich Tykwer – zum Unmut mancher seiner Anhänger – in die Hände des Buhmanns des deutschen Autorenfilms, des Populärproduzenten Bernd Eichinger, der es endlich geschafft hatte, Patrick Süskind die Filmrechte an dessen „Parfum“-Roman abzuluchsen. Und der Tom Tykwer richtig einschätzte: als einen Filmbesessenen, der durchaus Lust hatte, opulent und populär zu arbeiten. Tykwer bekam 50 Millionen Euro für den teuersten deutschen Film aller Zeiten, Dustin Hoffman und Alan Rickman sowie die Altstadt von Barcelona als mittelalterliches Paris – und es gelang ihm wirklich, mittels Tönen und Musik und Worten und Bildern eine Annäherung an das herzustellen, worum es bei Süskind geht: um einen Duft.
Er lernte jedoch auch, dass es 50 Millionen nicht ohne Zugeständnisse an das Publikum gibt. Der Serienmörder Grenouille ist bei ihm nicht radikal abartig, sondern Tykwer deutet an, dass zwischen ihm und einem Blumenmädchen (Karoline Herfurth) eine Liebe erblühen könnte. Noch dieses Monster gehört in die Tykwersche Reihe von Getriebenen, die nur ihrem eigenen moralischen Kodex folgen können.
Mit „Parfum“
begann Tykwers „internationale Periode“, gekennzeichnet durch Stars und
Budgets, von denen deutsche Regisseure sonst nur träumen können. „The International“ (2008) mit Clive Owen und Naomi Watts kostete 50 Millionen
Euro und blieb vor allem durch seine Actionszenen in Erinnerung; die
spektakulärste spielte in dem in Berlin nachgebauten Guggenheim Museum in New
York. Der im Jahr der großen Bankenkrise entstandene Film spiegelt die heute
weit verbreitete These von den anonymen Mächten, die unsere Welt regieren. Der
„Cloud Atlas“ mit Tom Hanks, Hugh Grant und Halle Berry lag 2012 schon
bei 100 Millionen, war erneut der teuerste deutsche Film, und die Branche
machte sich Sorgen, ob X-Filme diesen finanziellen Kraftakt überstehen würde. X
überlebte, dank der deutschen Förderung, Warner Bros. und einer Reihe von
asiatischen Investoren.
„Cloud Atlas“ ist der unpersönlichste Film von Tom Tykwer, und der am schwierigsten zu erklärende Film der Blockbuster-Geschichte, ein riesiges historisches Panorama vom 19. bis ins 24. Jahrhundert. Trotzdem finden sich Tykwer-Spuren darin, etwa die von der Möglichkeit der Wiedergeburt. Hugh Grant wird dreimal reinkarniert, als Befürworter der Sklaverei, Atom-Lobbyist und sexueller Ausbeuter. Bei Tykwer findet man stets eine ganze Reihe metaphysischer Elemente, von den drei Leben der Lola über das Ende von „Heaven“, wenn das Liebespaar per Hubschrauber immer höher in den Himmel fliegt, bis zu den Seelen von Toten in „Das Licht“, die nur loslassen können, wenn Freunde sie begleiten.
Schließlich entstand 2016 „Ein Hologramm für den König“ für sparsame 35 Millionen, wieder mit Tom Hanks, eine Komödie der geistigen Wiedergeburt in einer fremden Umgebung, hier Saudi-Arabien. Es war der erfolgloseste aller Tykwer-Filme, womit die „internationale Periode“ auch an ihr Ende gekommen war. Zeit, an den Ursprung zurückzukehren.
Herkulesarbeit
2009 war Tykwer zwischendurch mit „Drei“ schon mal auf einer Stippvisite in Berlin gewesen, für eine romantische Zeitgeistkomödie zur Überwindung traditioneller Paarkonstellationen mit Sophie Rois, Sebastian Schipper und Devid Striesow.
Doch acht Jahre später, nach dem „Hologramm“, kam Berlin zu Tykwer zurück, ernst, fordernd, dominierend. Die letzten Jahre der Weimarer Republik bis zu Hitlers Machtergreifung in fünf Staffeln und 48 Folgen, mit einem riesigen Figurenensemble und beinahe jedem bekannten Schauspieler unter der deutschen Sonne, eine Herkulesarbeit. Zu viel für einen einzigen Regisseur, und so holte sich Tykwer Henk Handloegten und Achim von Borries dazu; im Trio, mit den Geschwistern Wachowski, hatte Tykwer schon den „Cloud Atlas“ bewältigt. „Babylon Berlin“ ist zu dem Serien-Ereignis der jüngeren deutschen Fernsehgeschichte geworden, und mehr als das: Anfangs hatten Tykwer & Co. den historischen Charakter ihrer Serie betont und Parallelen zur Gegenwart heruntergespielt. Inzwischen sind sie sich da nicht mehr so sicher.