© IMAGO / ABACAPRESS (Raúl Briones und Rooney Mara in „La Cocina“)

Der Albtraum hinter dem American Dream

Der mexikanische Regisseur Alonso Ruizpalacios über seinen Film „La Cocina - Der Geschmack des Lebens“

Veröffentlicht am
20. Januar 2025
Diskussion

Alonso Ruizpalacios, Jahrgang 1978, ist einer der vielseitigsten Regisseure Mexikos. Seine Filme „Güeros“ (2014), „Museo“ (2018) und „Ein Polizei-Film“ (2021) wurden auch einem deutschen Publikum bekannt. Sein jüngster Film „La Cocina - Der Geschmack des Lebens“, der erste, der nicht in Mexiko spielt, lief im vergangenen Jahr im Berlinale-Wettbewerb und ist seit 16. Januar in den deutschen Kinos zu sehen.


Warum haben Sie „La Cocina“ in Schwarz-weiß gedreht?

Alonso Ruizpalacios: Die Entscheidung für Schwarz-weiß hängt immer von der Geschichte ab. Ich habe schon beim Schreiben alles in Schwarz-weiß gesehen. Ich wollte einen zeitlosen Film machen, bei dem man nicht weiß, ob er in der Vergangenheit oder in der Gegenwart spielt. Denn das Thema, mit dem er sich beschäftigt, Arbeit im Spätkapitalismus, ist heute genauso aktuell wie vor 50, 100 oder sogar 150 Jahren, als Thoreau das Zitat schrieb, mit dem der Film beginnt: „Diese Welt ist ein Ort der Geschäfte. Was für ein unaufhörliches Rätsel. Es unterbricht meine Träume.“ Für dieses Zeitgefühl schien mir Schwarz-weiß angemessen. Aber auch weil es ein Film über Kontraste ist, über soziale und ethnische Kontraste, und ich glaube, die Schwarz-weiß-Fotografie trägt dazu bei, dass wir über diese Kontraste nachdenken. Erst am Ende wird die Farbe zum dramatischen Element.

„La Cocina“ ist ein Film über Arbeit, aber doch auch einer über den amerikanischen Traum, oder?

Alonso Ruizpalacios: Dieser Traum mündet in einen Albtraum, wegen seiner Unerreichbarkeit. Pedro, die Hauptfigur in „La Cocina“, wagt zu träumen und zahlt den Preis dafür. Sein Herz bricht, als er merkt, dass das Versprechen, dazuzugehören, sich nie erfüllen wird, auch weil ihm die Geschäftsführung nie helfen wird, seinen Aufenthaltsstatus auf legale Basis zu stellen.


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In der Großküche, um die es in Ihrem Film geht, arbeiten Menschen aus allen Teilen der Welt, aber besonders auch aus Mexiko. Welche Bedeutung hat der amerikanische Traum für die mexikanische Gesellschaft?

Alonso Ruizpalacios: Die Beziehung zwischen Mexiko und den USA hat mich immer fasziniert, weil sie die Menschen in beiden Ländern prägt und wir so stark voneinander abhängig sind. Es ist eine komplexe Beziehung. Harmonisch war sie nie. Seit Beginn der Geschichte unserer Nationen, als Mexiko 1847 die Hälfte seines Territoriums an die Gringos verlor, war es immer eine sehr problematische Beziehung. Es gibt ein Zitat von Justo Sierra, das ich sehr mag: „Armes Mexiko, so weit weg von Gott, so nah an den USA.“ Wir Mexikaner sind immer mit einer Sehnsucht nach allem Amerikanischen aufgewachsen, nicht nur in der Arbeiterklasse, sondern auch in der Mittelschicht, wie ich als Mittelschichtkind aus Mexiko-Stadt. Ich wollte diesen Mythos enträtseln und verstehen, warum wir als Mexikaner so sehr mit dieser Idealisierung des Gringos, des Amerikaners, aufgewachsen sind. Aber dann wurde mir klar, dass das nicht nur die Mexikaner, sondern auch die hart arbeitenden Gringos betrifft, dass nicht nur die Mexikaner, sondern auch viele Amerikaner selbst Opfer des amerikanischen Traums sind, des Arbeitssystems und der Ausbeutung, die damit einhergeht.

Alonso Ruizpalacios bei der Berlinale 2024 (© IMAGO / ABACAPRESS)
Alonso Ruizpalacios bei der Berlinale 2024 (© IMAGO / ABACAPRESS)

Die Küche in Ihrem Film ist für Sie also ein Spiegelbild nicht nur der amerikanischen Gesellschaft, sondern der kapitalistischen Gesellschaft schlechthin?

Alonso Ruizpalacios: Das war tatsächlich meine Ausgangsidee. Deswegen auch der Name des Restaurants THE GRILL. Der Name ist Programm. Hier wird verbrannt. Und es ist ein Dampfkochtopf, ein Ort, an dem all diese Ethnien, all diese Kulturen aufeinanderprallen. Und das passiert wirklich in diesen Küchen, wenn es hektisch wird. Ich habe selbst eine Zeit lang in einer Küche gearbeitet und habe das aus nächster Nähe gesehen. Als ich diesen Film vorbereitete, habe ich viel recherchiert und auch vor Ort gefilmt. Und es ist beeindruckend, wie sehr sich die Energie in den Küchen verändert, wenn der Ansturm kommt und jeder für sich ist. Darauf basiert auch das britische Theaterstück „Die Küche“ von Arnold Wesker, auf dem der Film beruht. Weskers Beobachtung, dass die Großküche keinen Raum für Träume, Selbstverwirklichung oder für Liebe bietet. Es ist ein Ort, an dem die Produktivität an erster Stelle steht. Und in gewissem Sinne ist das die Art, wie die Welt funktioniert, die wir uns aufgebaut haben. Im Kapitalismus steht die Produktivität an erster Stelle.

Eine Produktivität, bei der dann alle, vom Küchenhelfer über den Kellner bis zu den Köchen, unterschiedliche soziale Positionen haben?

Alonso Ruizpalacios: Ja, ja, es ist ein Kastensystem, die Hierarchie wird hier nicht auf die leichte Schulter genommen!

Ein System, dass dann auch fast komisch und absurd wirkt, weil es mit so viel Energie und Ausbeutung doch nur dafür sorgt, dass im Restaurant einige wenige essen können. Welche Rolle spielt der Humor in Ihrem Film?

Alonso Ruizpalacios: Ich war schon immer ein Feind der feierlichen Würde, ich mag den Kontrapunkt und die Widersprüchlichkeit. Und wenn man wie in dem Film über schwerwiegende Themen spricht, wie Ausbeutung, Misshandlung am Arbeitsplatz, wie Abtreibung, was ein anderes Thema ist, dann finde ich es wichtig, von Zeit zu Zeit mit etwas Leichtigkeit auch einen Kontrast zu schaffen. Humor generell und auch Humor an diesen Orten ist eine Form zu überleben. Das habe ich während der Recherche bei den Köchen beobachtet, dass sie immer wieder Witze machen, sich gegenseitig Streiche spielen und herumalbern. Das tun die Menschen, das tun wir alle, um durch den Tag zu kommen, um zu überleben. Ich fand es sehr wichtig, dass auch der Film Humor und Ironie enthält.

Der Schluss des Films hat mich dann wirklich überrascht, eine Art Verklärung Pedros, als würde er ins Jenseits gerufen werden. Und Estela, eine junge Mexikanerin, die zu Beginn neu zu dem Küchenteam gestoßen ist, lacht. Lacht sie wirklich? Was hat es mit diesem rätselhaften Ende auf sich?

Alonso Ruizpalacios: Die Idee eines magischen Endes hat mir gefallen. Mir erscheint es auch rätselhaft, aber ich habe einfach gespürt, dass es so sein muss. Die Idee, dass Pedro verschwindet, dass er von dem außerirdischen Strahl auf die andere Seite transportiert wird, aber eine Narbe hinterlässt. Und Estela lächelt, weil sie Zeugin von Pedros Reise ist. Und sagt: „Nun, du wirst verschwinden, vielleicht wird es dir besser ergehen.“ Es ist ein Moment, den ich wirklich mag, der nicht einfach ist und für den es keine Worte braucht.

Schwarz-weiß betont die sozialen und ethnischen Kontraste (© SquareOne)
Schwarz-weiß betont die sozialen und ethnischen Kontraste (© SquareOne)

Daher auch diese Lust an der Zerstörung, die wir am Ende sehen, wenn Pedros Welt sozusagen explodiert?

Alonso Ruizpalacios: Das ist vorherbestimmt. Am Anfang sagt eine Kollegin: „Der Kerl ist eine verdammte Zeitbombe.“ In der Tat ist Pedro von Beginn des Films an am Limit, und sie treiben ihn in die Enge. Der einzige Weg, wie er da rauskommt, ist, zu explodieren, und deshalb endet der Film in diesem geradezu opernhaften Ton, weil er den Naturalismus verlässt.

Erzählen Sie noch ein wenig über das Theaterstück, auf dem der Film basiert, und auch über Ihre Adaption dieses Stücks.

Alonso Ruizpalacios: Das Stück wurde 1957 von dem britischen Dramatiker Arnold Wesker geschrieben. Er gehörte zur sogenannten Generation der „Angry Young Men“, die begannen, eine Art neuen Realismus zu schaffen, der die Unzufriedenheit der jungen Leute mit dem System widerspiegelte. Pedro ist so etwas wie der Inbegriff des wütenden jungen Mannes. Er ist unzufrieden mit seiner Umgebung, mit dem, was das System ihm bietet. Das habe ich aus dem Originalstück übernommen. Es zu adaptieren, war ein langer Prozess. Ich habe das Stück zum ersten Mal vor etwa 13 Jahren in Mexiko aufgeführt. Raúl Briones, der nun in „La cocina“ Pedro verkörpert, hat damals eine andere Figur gespielt. Das Originalstück spielt in London, und in der Küche, um die es kreist, gibt es Migranten aus ganz Europa. Es gibt Zyprioten, Griechen, Deutsche. Als ich es in Mexiko inszenierte, passte ich es an den mexikanischen Kontext an, nämlich die Migration in die USA und nach New York. Ein Sprichwort in den Küchen von New York sagt: In New York gibt es kein chinesisches Essen, kein japanisches Essen, kein thailändisches Essen, sondern nur mexikanisches Essen, weil es von Mexikanern gemacht wird. Alles wird von Mexikanern zubereitet. In diese Richtung habe ich das Stück auch im Film adaptiert. Er unterscheidet sich in vielem von der Vorlage, aber bestimmte Schlüsselideen sind geblieben. Ich bin sozusagen im Dialog mit Wesker.

Ich finde es sehr interessant, dass der Besitzer des Restaurants auch ein Ausländer ist.

Alonso Ruizpalacios: Mir war es wichtig, nicht generell die Gringos als die Bösen und alle Ausländer als die Guten zu zeichnen. Die Realität ist, dass wir alle in diesem Wirrwarr gefangen sind. Rashid, der Restaurantbesitzer, ist nicht mehr in der Lage zu sehen, was er einmal war, weil er jetzt ein Eigentümer ist. Seine Figur sagt natürlich etwas über Migration aus, aber viel mehr über größere Zusammenhänge wie Kapitalismus, wie das große System, das uns heute beherrscht.

Die alte soziologische Theorie, dass die Einwanderung die Gesellschaft nicht erneuert, sondern konserviert?

Alonso Ruizpalacios: Ja, ja, ja! Migration bewahrt die Gesellschaft. Und viele dieser Ideen stehen bereits im Original von Wesker. Es ist ein faszinierender Text, der viele Denkanstöße gibt.

Estela (Anna Diaz) und Pedro (Raúl Briones) (© SquareOne)
Estela (Anna Diaz) und Pedro (Raúl Briones) (© SquareOne)

Wie war das Casting zu diesem sehr vielschichtigen Ensemblefilm?

Alonso Ruizpalacios: Es war ein sehr komplexes Casting, denn es ist ein multinationaler Ensemblefilm mit vielen Charakteren. Wir hatten also drei Casting-Direktoren, einen in Mexiko für alle Rollen in Mexiko, einen in New York für alle Gringos und einen in Europa für viele interessante Charaktere. Die Haitianer kamen auch aus Mexiko, weil es in Mexiko eine haitianische Gemeinschaft gibt, die Lavalosas. Und dann sind da noch all die Amerikaner, und Rashid kam auch von dort. Es war also ein langwieriger und komplexer Prozess, ein Zirkus mit drei Manegen, bei dem wir all diese Gruppen zusammenstellten und Tests durchführten, um herauszufinden, ob sich die eine mit der anderen verträgt oder nicht, sozusagen eine Kombination. Und als wir sie dann hatten, brachten wir sie nach Mexiko, um drei Wochen lang zu proben, was für einen Film ziemlich viel ist. Drei Wochen mit allen Schauspielern zu proben, das war sehr schön, und es war notwendig: wir haben viel improvisiert, um eine gemeinsame Basis zu finden, unsere eigene Sprache zu entwickeln und ein Gemeinschaftsgefühl. Ich denke, das spiegelt sich auch im Film wider.

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