Die Episoden stellen unter Beweis, dass man auch in Deutschland ein
Anthologie-Format stemmen kann, das die Handschrift von eigenwilligen
Regisseuren trägt und autark sowie in Kombination funktioniert. Die bisher
präsentierten Folgen bieten allesamt fesselnde, aufwühlende Unterhaltung, die
nachwirkt.
Dezember
Wie kann so etwas nur passieren? Ist es die Ignoranz aller Beteiligen? Ist es Polizeiwillkür oder zumindest Sorgfaltspflichtverletzung? In einer Samstagnacht wird der 18-jährige Tim (Samuel Benito) auf stockdunkler Landstraße angefahren und erliegt seinen Verletzungen.
Regisseurin Mariko Minoguchi beginnt ihren Film „Dezember“ mit einem Diskoabend unter Freunden. Trinken und Tanzen, bis zum Umfallen. Völlig alkoholisiert und kaum einer Artikulation mehr fähig, verlässt der frisch in die Gegend gezogene Tim die Diskothek und wird dabei mehrfach von der Polizei, von einem Ersthelfer-Team und besorgten Anwohnern der Diskothek angetroffen. Alle reden mit ihm, alle nehmen die Lage des netten, indes nicht mehr Herr seiner Sinne seienden Jugendlichen nicht richtig ernst. Alle denken nicht nach, sondern gehen einfach davon aus, der freundliche, gefasst an seinem Heimweg arbeitende Junge könne sich schon selbstbestimmt ins Sichere und Warme bringen. Nur die Serienzuschauer, die das ganze Drama als stumme Zeugen beobachten, ahnen, dass hier ein junger Mensch besagte Dezembernacht nicht durchstehen wird.
Ebenso elliptisch wie niederschmetternd beginnt Minoguchis mit kurzen, fragmentarischen Statements von Zeugen, Freunden und eben der Polizei, die sich alle der Tragik, aber nicht der eigenen Schuld bewusst sind. In der Gesamtheit entsteht aus diesem Mosaik indes das Bild einer kollektiven groben Fahrlässigkeit. Nicht zuletzt die Polizei, von den regelmäßigen Partywochenenden und ihren alkoholgetriebenen Auswüchsen abgestumpft und sowieso überlastet, versagt im Fall des 18-Jährigen Tim. Brillant inszeniert Minoguchi dessen Unbeholfenheit mit einer starr auf das Gesicht des Protagonisten fixierten Kamera. Brillant auch Hauptdarsteller Samuel Benito, der seine Figur in einer herzzerreißenden Mischung aus kindlicher Hilflosigkeit und bedusteltem Phlegma verkörpert. Wie konnte dieser Tod nur passieren? „Dezember“ gibt darauf eine Antwort. Sie dürfte niemandem der Beteiligten gefallen.
Deine Brüder
Es war klar, dass es so kommen musste! Unverständlich, aber folgerichtig, dass die Anwälte der fünf Angeklagten im Prozess nach dem Mord Bandenkriminalität in Abrede stellen. Klar auch, dass der Staatsanwalt Zweifel hegt, wenn die Tatsachen für sich sprechen. Fünf der Messerstiche haben die angeklagten Freunde eingeräumt. Aber es wurden über dreißig Messerstiche mehr festgestellt, mit denen Cem (Zethphan Smith-Gneist) quasi hingerichtet wurde.
Zu Lebzeiten ist Cem „the leader of the pack“, und zwar seit Kindertagen. Die Clique zieht durch die Hamburger Vorstädte und dominiert sie gleichsam. Cem ist eine eindrucksvolle, charismatische Gestalt: Lockige lange Haare, 1,95 Meter groß, drahtig, schön. Aber er ist krank – schizophren. Selbst in einer sich durch chronische Hyperaktivität aufstachelnden Jungsgruppe sticht er mit seiner manischen-depressiven, liebevoll-aggressiv-brutalen Attitüde heraus – und macht schließlich selbst den besten Freunden Angst. Helene Hegemann könnte das alles als Chronik eines angekündigten Todes inszenieren. Doch der Stil, in dem sie die Kamera dirigiert, den Schnitt und den Ton komponiert, spricht eher für einen visualisierten „Stream of Consciousness“ eines ADHS-Opfers. Bar jeder Zeitachsen, Spannungskurven und Logiken. Wer ist der Schuldige? Das Schicksal?! Manche Dinge lassen sich nicht aufhalten, sondern nur konstatieren. Die ZEIT Verbrechen-Podcastfolge, auf der diese Film-Episode beruht, nennt sich „Ein Fall von Selbstjustiz“. Dem Film ist dieser Eindruck zu eindimensional. Hegemann kreiert eine meisterliche Ensemble-Tragödie, die in allen Belangen überragt, darstellerisch wie auch formal.
Der Panther
Komme was da wolle! Johnny (Lars Eidinger) ist kein Panther, er ist ein Berserker. Um sich ins Millieu einzuzecken, geht der V-Mann über mehr als nur gebrochene Kieferknochen. Nele (Anna Bederke) hat als Kontaktperson im Dezernat keine Vorstellung davon, wie sehr Johnny über die Stränge schlägt. Aber sie hat eine Ahnung. Wölfe bekommt man eben nur zu fassen, wenn man mit ihnen heult. Drogen, Zuhälterei, Menschenhandel, Mord und Totschlag. Was sein muss, muss sein, und irgendwie braucht Johnny den Rausch. Dass er alles nur für seine Tochter tut, interessiert keinen. Jan Bonny inszeniert „Der Panther“, als würde auch ihm die Grenzüberschreitung Spaß machen, und er findet in Lars Eidinger einen gleichgesinnten Komplizen. Als wollte er den Handkameras ausweichen, die seine absurden Exzesse, sein Gekreische, Gezeter, Gehampel und Gehaue einzufangen suchen. Stillstand ist hier Fehlanzeige. Atemlosigkeit ist Programm. Aber wie bei der Drehung der Schraube ist ein Zuviel irreversibel. Irgendwann ist alles nur egal, alles Darstellen nervig und alles Overacting nur noch Overacting. „Der Panther“ hat keine Struktur, nur Tempo, keine Botschaft, nur Gehabe, keine Zwischentöne, nur noch Primärreize. Und wenn Johnny nicht gestorben ist, dann lebt er noch heute.
Love by Proxy
Das glaubt doch kein Mensch. Und doch passiert es: Earlie Thomas ist in Gefahr. Ihre Familie besitzt seit der Kolonialzeit eine der größten Goldminen in Ghana. Doch kriminelle Neider okkupieren die Reichtümer und ermorden ihren Vater. Bei der Beerdigung in Afrika gerät Earlie in die Fänge korrupter Beamter und wird festgehalten. Eine Flucht ist vielleicht möglich. Doch dazu braucht sie Geld, immer mehr Geld. Hanebüchener geht es kaum, und dennoch glaubt Witwer Ralf Meierhof (Jan Henrik Stahlberg) jedes Wort. Selbst seine Tochter Susanne (Sandra Hüller) ist da machtlos. Faraz Shariats inszeniert quasi drei Filme: die Geschichte eines leichtgläubigen Weißen, die eines fantasiereichen Betrügers in Ghana, der mit abenteuerlichen Geschichten Geld mittelständischer Westeuropäer abzockt, sowie die (Lügen-)Geschichte von Earlie Thomas und der Goldmine – letztere wie ein abgeschmackter Groschenheftroman mit Agentenfilm-Attitüde. Ein genialer Kniff, denn nur so kann „Die Venusfalle“ (auf dieser ZEIT Verbrechen Podcast-Folge basiert der Film) funktionieren. So, wie diese Groschenheftromane geliebt werden, funktioniert auch imaginierte Welt des Ralf Meierhof. Beide Hirngespinste bringen den jeweiligen Autoren kaum Ruhm, aber Geld, viel Geld. „Love by Proxy“ schafft es auf allen Ebenen, Unglaubwürdiges glaubwürdig zu machen. Die Sympathien sind dabei auf Seiten der Drahtzieher und nicht auf derer, die betrogen werden (wollen). Verbrechen ist eben relativ.