Der US-amerikanische Filmemacher Robert Kramer bewegte sich zeitlebens an der Grenze zwischen Dokumentarischem und Fiktion, thematisierte aber auch die eigenen Befindlichkeiten und Zweifel und machte diese reiseartigen Selbstbefragungen zu seinem Grundprinzip. Sein Werk ist als Speicher von Erfahrungen und Geschichte eine Zeitkapsel, die es immer wieder zu öffnen lohnt, wie aktuell bei der „Viennale“. Dort ist eine umfassende Robert-Kramer-Retrospektive zu sehen.
Wer über das deutschsprachige Google etwas über Robert Kramer sucht, findet kurioserweise als Erstes, dass er ein US-amerikanischer Drehbuchautor und Schauspieler war, was zwar beides stimmt, allerdings nur kleinere oder zufällige Zwischenstopps auf den Wegen benennt, die der Filmemacher im Laufe seines sechzigjährigen Lebens (1939-1999) befahren hat. Es sind Beschreibungen, die nur den äußersten Rand dessen bezeichnen, worauf es Robert Kramer bei seinem „Trajet“ als Filmkünstler und Mensch ankam.
Was ein „Trajet“ ist? Im ungewöhnlichen Filmporträt „Looking for Robert“ (2024) von Richard Copans erläutert es der Filmemacher, der eigentlich Kameramann werden wollte, dann aber zu Kramers Produzenten und einem seiner engsten Vertrauten wurde, so: „Le trajet – der Weg oder die Fahrt – ist ein immer wiederkehrendes Element in seiner Arbeit gewesen. Robert hat das französische Wort regelrecht ausgekostet und dabei das ‚r‘ mit seinem amerikanischen Akzent verschliffen. Aber er ist bei dem französischen Wort geblieben, weil es im Englischen keine genaue Entsprechung gibt, höchstens ‚trajectory‘, was aber fast das Gegenteil ist, nämlich der Weg eines Geschosses, nicht der eines Menschen.“
Vermutlich gibt es wenige Regisseur:innen, bei denen ein einzelnes Wort, hier „Trajet“, bereits so viel darüber aussagt, was Intention und Substanz von deren Arbeiten ist oder war.
Das könnte Sie auch interessieren:
Der in New York geborene Sohn aus einer deutschstämmigen Arztfamilie studierte Philosophie und die Geschichte Westeuropas am Swarthmore College und an der Stanford University. Nachdem er 1965 an einem Gemeinschaftsprojekt unter Schwarzen in Newark mitgearbeitet, Südamerika und Israel bereist hatte – Südamerika als Reporter und weil er sich für die Kämpfe in der sogenannten Dritten Welt interessierte, Israel, um den Anteil des Jüdischen in seiner Familie besser zu begreifen –, war er Mitbegründer des Newsreel-Filmkollektivs. Unter dem Label dieser Gruppe entstanden zwischen 1967 und 1971, als die Anti-Vietnamkrieg-Bewegung wuchs, etwa 60 Dokumentar- und Kurzfilme zu politischen Themen. Arbeiten aus dem Untergrund, hergestellt mit dem Impetus, dass Gegeninformationen auch scharfe Waffen seien.
Zerbrechende Träume begreifen
Im gleichen Zeitraum entwickelte Kramer aber bereits seine ureigene filmische Handschrift und arbeitete an Filmen, die immer weiter die Grenze zwischen Fiktivem und Dokumentarischem ausloteten, um damit die zerbrechenden Träume einer zweiflerischen jungen Generation – seiner eigenen – filmisch zu begreifen. Mit den frühen Filmen, von „In the Country“ (1967) bis „Ice“ (1969), ging er zunehmend und in kaum mehr rückgängig zu machender Weise auf Distanz zu seinem Land. „Ice“ ist das Porträt linksradikaler bewafffneter Untergrundbewegungen in einem totalitären Staat namens USA. Der Film tut so, als sei er den Methoden des „Direct Cinema“ verpflichtet, obwohl er durch und durch fiktiv und in einer nicht genauer bezeichneten Zukunft angesiedelt ist – ein verwirrender Trip, bei dem Jean-Luc Godards „Alphaville“ (1965) oder François Truffauts „Fahrenheit 451“ (1966) Pate gestanden haben können – nur dass bei Kramer alle Flächen, Ecken und Winkel der Erzählung aufgerauht oder wundgescheuert sind.
Mit „Milestones“ (1975) drehte Kramer schließlich einen gleichermaßen melancholischen wie ironischen Abgesang auf die Auflösung der US-amerikanischen Linken und verließ danach sein Land Richtung Portugal, um eine teilnehmende Beobachtung der Nelkenrevolution („Szenen aus dem portugiesischen Klassenkampf“, 1977) zu drehen. Danach reiste er nach Angola weiter, wo er „Guns“ (1980) drehte, um schließlich Frankreich zu seiner kulturellen wie intellektuellen Homebase zu machen. Er schrieb an einem Drehbuch für Wim Wenders mit („Der Stand der Dinge“, 1981) und war an Thomas Harlans bizarrem Projekt „Wundkanal. Hinrichtung für vier Stimmen“ (1984) beteiligt, dem er mit „Notre Nazi“ zusätzlich einen skeptischen „Begleitfilm“ an die Seite stellte.
1987 und 1989
folgten dann seine vermutlich bekanntesten Arbeiten „Doc’s Kingdom“
und „Route One, USA“, zwei Unternehmungen, die zwischen allen
Genregrenzen operieren und Kramers Existenz eines „Mid-Atlantic Filmmaker“ –
diesseits des Atlantiks arbeitend, aber aus der selbst gewählten Heimatlosigkeit
heraus auf seine innere Landkarte jenseits des Atlantiks zurückblickend – zum
Ausgangspunkt haben. Kramer sei, so hieß es 1999 in einem Nachruf, ein
umgänglicher und wacher Zeitgenosse gewesen, den die Trauer über die verlorenen
Illusionen nicht bitter oder verstockt habe werden lassen und der stattdessen
die Welt und den weiten Raum des Kinos als Nomade beziehungsweise „Natural Born Independent“ erkundete.
Versuche und Abenteuerfilme
Kramers Filme sind Versuche, also Essays, und zugleich sind sie Abenteuerfilme. Das klingt nach weit Auseinanderliegendem, derart, dass Körper und Geist (oder „Brain and Pelvis“) nicht recht zueinanderfinden können. Bei Kramer indes erscheinen diese Elemente natürwüchsig miteinander verwoben und auf selbstverständliche Weise zusammengehörig. Der Filmemacher beschreitet Wege ins Ungewisse, vielleicht wie es sich in einem Aphorismus von Kierkegaard ausgedrückt findet, dass man das Leben nur rückwärtig verstehen könne, es aber in der Vorausschau gelebt werden müsse.
Kramer erklärt selbst einmal, dass es ihm darum gehe, aus dem Kino der Blindheit auszutreten, weil der darin praktizierte und propagierte Blick nicht den mentalen und anatomischen Gegebenheiten folge – dass also die Augen links und rechts der Nase sitzen –, sondern dort, wo eine Geschichte es verlange. Mit seiner Arbeit wolle er hingegen versuchen, mit der Kamera zu leben, so wie man auch sonst lebt, um etwas von Menschen zu registrieren, die ihrerseits sehen und darüber ein Verhältnis entwickeln zu dem, was um sie herum vorgeht. Man müsse versuchen, der Filmerzählung einen dem „Trajectory“ des mittleren Storyfilms entgegengesetzten, das heißt menschlichen Blickwinkel zu verleihen, worüber man auch zur Erkenntnis gelangen würde, dass die Folgen dieses Abenteuers bis zum Erreichen des Endes nicht absehbar sind. Ein großes „Mission Statement“!
Im Zusammenhang von „Route One, USA“ (1989) – wohl seinem Opus magnum – einem filmischen Mosaik mit über 60 Personen von verschiedenster Herkunft und mit unterschiedlichstem sozialem Status, die entlang der Route One an der Ostküste der USA zwischen kanadischer Grenze und Florida leben, notierte Robert Kramer: „Entdeckungen machen. Sie vorbereiten. Das Umfeld schaffen, damit sie zutage treten können. Sich Zeit nehmen. Wir haben die Freiheit, jeden Moment anzufangen oder abzubrechen, um dem Faden der Geschichte, die ja noch im Entstehen begriffen ist, zu folgen, um Leute zu finden, von denen wir nicht wussten, dass wir sie suchten, in einer Stadt, von der wir noch nie gehört hatten. Geduld entwickeln. Hinaus (oder hinein) ins Offene. Etwas erfahren, etwas verstehen wollen. Und dann plötzlich: die Entdeckung. Der Moment, in dem Gefühl und Verstand, Ton und Bild zusammenkommen, wo sich etwas ereignet, auf das wir so lange hingearbeitet haben. Die Route One ist zwar nur eine Fernstraße, lediglich ein Weg, um von hier nach da zu kommen. Aber auch eine Reise in das wahre Herz von Amerika.“
„Route One, USA“
ist in jedem Moment der 255 Minuten, die er dauert, „very much down to Earth“ und dem Geist eines rohen
Dokumentarismus verpflichtet. Zugleich aber ist er raffiniert konstruiert, mit
einem Protagonisten, dem in die USA zurückgekehrten Doc, einem fiktiven „Wanderarzt“,
dargestellt von Paul McIsaac, der bereits in Kramers vorherigem
Film „Doc’s Kingdom“ die Hauptrolle gespielt hatte. Dieser Doc
ist der vom Autor Robert Kramer eingesetzte Erzähler des Films, zwar sein
Stellvertreter, aber nicht mit ihm identisch – ein geläufiges Verfahren in der
Literatur, für Dokumentarfilme dagegen höchst ungewöhnlich.
Wie man gefühlt und gesprochen hat
Man kann Kramers Werk auch als Speicher von Erfahrungen und Geschichte betrachten, was ihn auch zum kinematografischen Seelenverwandten des deutschen Dokumentarfilmers Thomas Heise macht. Ihrer beider Filme sind eigentlich nicht direkt vergleichbar. Obwohl jeder für sich, auf seinem je eigenen „Trajet“, unterwegs war, so waren doch ihre filmischen Attitüden ihrer Umgebung und den Menschen gegenüber durch einen nachbarschaftlichen Faden miteinander verbunden. Es sind Arbeiten, die nicht dem Hirngespinst eines durchschnittlichen Zuschauers den roten Teppich ausrollen, sondern als Flaschenpost anzusehen sind, um einem fremden, zufälligen, deshalb auch unvorbereiteten Empfänger mitzuteilen, wie es an jenem bestimmten Ort und zu jener bestimmten Zeit, da der Absender die Flasche verstöpselt hat, zugegangen ist auf der Welt. Wie man gefühlt und gesprochen hat. Was gedacht wurde. Warum etwas geliebt, verachtet oder verdammt wurde und welche guten oder bösen Geister die Luft bevölkerten.
1999, kurz bevor er starb, schrieb Robert Kramer noch einen unbeantwortet gebliebenen Brief an Bob Dylan, in dem er ihm ein gemeinsames Projekt vorschlug: „Während meines ganzen Lebens waren Sie eine der Stimmen, die in meinem Kopf klangen.“ Lange vorher hatte er schon notiert: „Alles, was ich bisher mit meinen Filmen gesagt habe und vielleicht weiterhin noch sagen will, hat Bob Dylan bereits besungen.“ Als Paul McIsaac sich kurz nach Kramers Tod in dessen Wohnung umsah, fand er im CD-Player Dylans damals aktuelles Album „Time out of Mind“ eingelegt.
Tatsächlich sind
Kramers Filme wie viele von Dylans Songs: Vision, Orakel und Mirakel zugleich. Versponnene
Lebenshilfen zwar, aber als praktische Ratgeber völlig untauglich – was
natürlich als Kompliment zu verstehen ist.
Hinweis
Zur Retrospektive der diesjährigen Viennale (17.10.-29.10.) erscheint die von Volker Pantenburg herausgegebene englische Übersetzung der bereits 2001, damals aber nur auf französisch (und nicht vollständig) erschienenen Publikation von Bernard Eisenschitz und Robert Turigliatto: Starting Places. A Conversation with Robert Kramer. Verlag Synema, Wien 2024, 224 S., 24,00 EUR.