© Exit Productions/Cinenovo ("Agora" von Ala Eddine Slim)

Locarno 2024 - Bilder & Metaphern

Ein Resümee des 77. Locarno Film Festival (7.-17.8.2024), bei dem der europäische Autorenfilm gefeiert wurde

Veröffentlicht am
04. September 2024
Diskussion

Beim 77. Locarno Film Festival beeindruckte eine Reihe von Filmen, die unter Zuhilfenahme magisch-surrealer Erzählstrategien (sozial-)politische Verhältnisse hinterfragen. Bei den „Leoparden“ hatten aber andere Filme die Nase vorne, die Befindlichkeiten und Schicksale von Frauen schildern. Insgesamt dominierte 2024 eher der europäische Autorenfilm.


Ein Ort am Meer, irgendwo in Tunesien. Die Nacht dämmert, Grillen zirpen, eine Schlange schlängelt durchs Dickicht. Ein Mann zieht seinen Arztkittel aus und bleibt bei einem Drink an der Bar hängen. Ein schlafender Hund und eine schlafende Krähe unterhalten sich im gemeinsam geteilten Traum über eine heraufziehende Katastrophe. Gegen Morgen schleppt sich ein Mann in einer von Blut triefender Kutte auf den Hof. Aus dem Meer steigt steif wie eine Statue eine Ertrunkene, die nicht zu tropfen aufhört. Und dann gibt es in „Agora“ von Ala Eddine Slim noch einen dritten Wiederkehrer, einen vor Jahren spurlos im Steinbruch verschwundenen Mannes.


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Der Polizeichef verfrachtet sie alle drei ins Kühlhaus. Dort versucht der Arzt, ihren klinischen Zustand abzuklären: tot oder untot, vor Jahren verschwunden und nun doch wieder aufgetaucht. Es gibt gute Gründe, aus der tunesischen Provinz abzuhauen. Dort, wo das Abwasser der Fabrik giftig-blau schimmert, tote Fische im Meer treiben und die Ernte über Nacht verrottet. Doch im Dorf kennt man keine Gründe, um die drei Zurückgekehrten zu begrüßen. Der Polizist, der Arzt und der Barkeeper sind ratlos. Man will die Bevölkerung nicht aufscheuchen, die Obrigkeit nicht anlocken. Die Katastrophe, träumen Krähe und Hund in der nächsten Nacht, werde sich noch verschlimmern. In der dritten oder vierten Nacht ahnen sie Apokalyptisches.

Inszeniert ist „Agora“ als sozialpolitischer Horrorfilm, der sich als Metapher auf die Bewältigung gesellschaftlicher Traumata lesen lässt, mit denen sich Tunesien in den Nachwehen des arabischen Frühlings konfrontiert sieht. Die Bilder sind prächtig, die Schicksale der Wiederkehrer werden nur angedeutet, das der Erzählung innewohnende Ominöse bleibt ungreifbar. Allerdings fehlt es dem Film an dem für Horrorfilme charakteristischen Grusel. Zudem tritt der er auf der Stelle, wenn der doch noch anreisende Staatsvertreter für den seltsamen Fall keine Lösung weiß. Nachhaltiger in Erinnerung als die von Krähe und Hund gezogene Bilanz, dass Menschen Feiglinge seien, bleibt eines der letzten Bilder, in dem sich der Hund als Hündin entpuppt, deren bis dato beige-braunes Fell genauso wie ihre Welpen blau zu leuchten beginnt.

"Transamazonia" von Pia Marais (Cinéma Defacto)
"Transamazonia" von Pia Marais ( © Cinéma Defacto)

Agora“ wurde am 77. Locarno Film Festival (7.-17.8.2024) mit dem „Grünen Leoparden“ ausgezeichnet, einem Preis für einen Film, der ein ökologisches Thema in mutiger Weise neu interpretiert und zu Veränderungen anregt. „Agora“ war einer jener Filme in Locarno, die unter Zuhilfenahme magisch-surrealer Erzählstrategien (sozial-)politische Verhältnisse hinterfragen.

Zu diesen Filmen zählte auch „Transamazonia“ von Pia Marais. Darin geistert eine junge weiße Frau, die von einem Missionar begleitet wird, als „Wunderheilerin“ durch den vor Abholzung bedrohten Regenwald im Amazonas-Gebiet. Oder „Fogo do Vento“ von Marta Mateus, in dem sich bei der Traubenlese die Arbeiter:innen vor einem wild gewordenen Stier auf Korkeichen retten und im Laufe einer endlosen Nacht in zunehmend theatralischer Weise ihre Armut beklagen. Als (sozial-)politisches Statement lässt sich auch „Yeni șafak solarken“ von Gürcan Keltek verstehen. Ein junger Mann namens Akin leidet darin an Wahn- und Angstvorstellungen. Er lebt bei seiner Mutter und verlässt das Haus nur, um im Krankenhaus seinen Psychiater zu treffen oder in einer Moschee oder auf Friedhöfen andere Menschen zu beobachten. „Dein Wahnsinn macht dich einsam“, heißt es in dem Film wiederholt; ob die Personen, denen Akin begegnet, Geschöpfe seiner Fantasie oder existierende Menschen sind, lässt sich nicht eindeutig feststellen. Die von Vogelschwärmen durchzogenen Bilder der im Morgenrot leuchtenden Stadt Istanbul wirken verstörend apokalyptisch. Da der Regisseur Wahnsinn „als soziale Konstruktion“ versteht, entwirft sein Film ein beängstigend düsteres Bild der türkischen Gesellschaft.


Goldener Leopard für "Toxic"

Die Gunst der Jury fanden diese drei Filme allerdings nicht, die durch ihre starke Bildlichkeit und Metaphorik aus dem Wettbewerb in Locarno herausragten. Mit den „Leoparden“ wurden andere Filme bedacht, vorwiegend solche, die Befindlichkeiten und Schicksale von Frauen schildern. Der Spezialpreis der Jury ging an „Mond“ von Kurdwin Ayub, der Leopard für die beste Regie an „Seses“ von Laurynas Bareiša, der zudem einer der zwei Preise für die beste Darstellung erhielt, nämlich für sein vierköpfiges Hauptdarsteller-Ensemble.

Der zweite Preis für die beste Darstellung ging an Kim Minhee in „Bythe Stream“ von Hong Sangsoo. Sie spielt hier eine Frau Anfang dreißig, die Stoffdesign studiert hat und an einer Kunsthochschule als Assistentin arbeitet. Sie steht ihrer Professorin sehr nahe und vermittelt ihrem Onkel, der einen Buchladen betreibt, ein Engagement an der Hochschule. Die Jury begründete den Preis unter anderem damit, dass das ruhige Zuhören-Können etwas sehr Wichtiges sei, was Kim Minhee in dieser Rolle zwischen Onkel und Professorin ausnehmend gut beherrsche.

"Toxic" von Saulé (Akis bado)
Gewinner des "Goldenen Leoparden": "Toxic" von Saulé Bliuvaité (© Akis bado)

Der „Goldene Leopard“ ging sehr verdient an den Film „Toxic“ von Saulé Bliuvaité aus Litauen. Die junge Regisseurin gewann mit ihrem Spielfilmerstling auch den Preis der Ökumenischen Jury und den zweiten Preis der Jugendjury. „Toxic“ dreht sich um zwei dreizehnjährige Mädchen, die in einer Industriestadt in Litauen aufwachsen. Kristina lebt bei ihrem Vater, Maria wird von ihrer Mutter bei der Oma untergebracht; man weiß nicht, ob das Mädchen je wieder zur Mutter zurückkehren wird.

Die beiden Mädchen geraten sich angesichts gestohlener Designer-Jeans zunächst in die Haare, werden dann aber bald beste Freundinnen. Sie nehmen an einem Casting-Wettbewerb teil, bei dem ihnen angeblich eine goldene Zukunft in Paris oder Japan winkt. Saulé Bliuvaité erzählt ganz aus der Sicht der Protagonistinnen. Die Inszenierung wird regelrecht zu deren Verbündeter. Die Kamera schildert ihre Träume ebenso wie ihre nicht immer ungefährlichen Unterfangen, ihren zerstörerischen Umgang mit ihren Körpern und ihr angespanntes Verhältnis zu männlichen Jugendlichen. „Toxic“ ist kein schöner Film, geht aber unter die Haut, auch weil die Hauptdarstellerinnen Ieva Rupeikaite und Vesta Matulyte so überzeugend sind.

In Locarno wurden aber nicht nur im Hauptwettbewerb Preise verliehen. Der „Goldene Leopard“ für den ersten oder zweiten Spielfilm in der Reihe „Cineasti del Presente“ ging an die durch ihre Humanität überzeugende Komödie „Holy Electricity“ des Georgiers Tato Kotetishvili. Die FIPRESCI-Jury zeichnete den fast vierstündigen Dokumentarfilm „Youth (Hard Times) von Wang Bing aus, den mittleren Teil einer Trilogie über die Arbeitsbedingung in den Schneiderateliers der Stadt Zihli.


Höhepunkt mit Shah Rukh Khan

Auch auf der Piazza Grande wurden Preise verliehen. Etwa der erstmals vergebene „Letterboxd Piazza Grand Award“ für „Gaucho Gaucho“ von Michael Dweck und Gregory Kershaw über das Leben argentinischer Cowboys, das einem uralten Ehrenkodex folgt. Den Publikumspreis gewann „Reinas“ von Klaudia Reynicke, ein einfühlsames Familien- und Auswandererdrama. Höhepunkt der Piazza-Ehrungen aber war die Verleihung des „Leoparden für die Karriere“ an Shah Rukh Khan.

"Gaucho Gaucho" von Michael Dweck und Gregory Kershaw (Gaucho Productions)
"Gaucho Gaucho" von Michael Dweck und Gregory Kershaw (© Gaucho Productions)

Dass dann aber „Mexico 86“ von César Diaz gezeigt wurde und nicht einer der über 100 Filme des Bollywood-Stars, war eine von diversen programmatischen Ungeschicklichkeiten. Denn tags darauf lief der 2002 entstandene Film „Devdas“ mit Shah Rukh Khan in der Titelrolle in einer Spätvorstellung in einem anderen Kino. Zu einer berührenden Preisverleihung geriet die „Vision Awards“-Ehrung an den US-amerikanische Soundtüftler Ben Burtt. Der hatte nicht nur E.T. das Sprechen beigebracht, sondern zeichnete unter anderem auch für das Piepsen von R2D2, das brummende Zischen der Laserschwerter oder die Geräusche von Wall-E verantwortlich – und verstand es als aufgeweckter Erzähler, das Publikum mit witzigen Anekdoten zu unterhalten.


Das 77. Locarno Film Festival war das vierte unter der künstlerischen Leitung von Giona A. Nazzaro. Das Programm überzeugte in den Wettbewerben mit soliden Filmen und einer großen Diversität. Doch man vermisste echte Überflieger. Auch konnten weder die beiden Wettbewerbe noch das Programm auf der Piazza darüber hinwegtäuschen, dass Nazzaro sich primär in Europa nach Filmen umsieht und weniger in Asien, Afrika, Lateinamerika oder der USA nach filmischen Perlen sucht. Das ist bedauerlich, auch wenn man sich daran wohl gewöhnen muss.


Die eigenen Kräfte entdecken

Der schönste Film auf der Piazza war zugleich der exotischste: nämlich „Shambhala“ von Min Bahadur Bham, der im Himalaya spielt; unter anderem wurde er auf 6000 Meter Höhe gedreht. Die Geschichte entspinnt sich um eine Frau, die zu Beginn des Films drei sehr unterschiedliche Brüder heiratet und diese auf einer Reise begleitet, bei der sie ihre eigenen Kräfte und Bedürfnisse entdeckt. In dem in epischer Breite und in sensationellen Bildern erzählten Film steckt viel an Tradition und (buddhistischer) Lebensweisheit. Vor allem aber verströmt der Film eine wohltuende, auf Naturverbundenheit beruhende Gelassenheit, von der man sich in der Hektik der Gegenwart auch bei einem Filmfestival wie in Locarno nur zu gerne verführen lässt.

"Shambhala" von Mir Bahadur Bham (hooney Films/Aditya Basnet)
"Shambhala" von Mir Bahadur Bham (© Shooney Films/Aditya Basnet)

Hinweis

Eine Übersicht über alle Preise von Locarno findet sich hier.

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