Beim 77. Filmfestival in Locarno, das am Mittwoch, 7. August mit dem Historienfilm „Le déluge“ von Gianluca Jodice auf der Piazza Grande eröffnet wird, laufen insgesamt 225 Filme, davon 104 als Weltpremieren. Bei den illustren Vorstellungen auf der Piazza Grande scheint für Wagemut und Lust auf experimentelles Abenteuer aber nicht viel Platz eingeplant zu sein. In den Wettbewerben könnte es indes spannend werden, unter anderem mit neuen Werken von Ramon Zürcher, Christoph Hochhäusler und Wang Bing.
Der Leopard auf dem Plakat des 77. Locarno Film Festivals blickt am Betrachter vorbei in die Ferne. Die Raubkatze steht auf einem aus dem Wasser ragenden Felsen im Uferbereich des Lago Maggiore. Im Vordergrund schäumt Gischt, hinten steigen bewaldete Hügel an, am Horizont ragen schneebedeckte Gipfel in den Himmel. Gräulich-blau-weiße Wolken deuten eine eher unruhige Wetterlage an. Der Blick des majestätisch-geschmeidigen Tieres verrät gespannte Wachsamkeit.
Es ist ein eindrucksvolles Motiv, das aus der bunten Reihe an Plakaten heraussticht, welche die Geschichte des Filmfestivals ziert. Was hat diese Großkatze am Lago Maggiore verloren? Was bedeutet der Blick des leicht über die Schulter schauenden Tieres, der in die Zukunft wie in Vergangenheit zu gehen scheint?
Mit starker Identität
Das Artwork hat die US-amerikanische Fotografin Annie Leibovitz auf Anfrage von Maja Hoffmann kreiert. Die
Kunstsammlerin hat im Juli 2023 in Nachfolge des nach über zwanzig Jahren aus
dem Amt scheidenden Festivalpräsidenten Marco Solari angetreten. Sie ist
international vernetzt und gehört zu den einflussreichsten Kunstsammlern der
Welt. Unter anderem gründete sie 2004 die LUMA Stiftung, welche Kunstschaffende
und Institutionen in den Bereichen bildender und darstellender Kunst,
Fotografie, Publizistik, Dokumentarfilm und Multimedia unterstützt. Sie wolle
ihre „Erfahrung und ihr Wissen für die Zukunft dieses prestigeträchtigen
Festivals einsetzen und zur Entwicklung der Kultur in der Schweiz beitragen“,
sagte sie beim Amtsantritt. Mit seiner starken Identität verfüge das Festival
über die grundlegende Voraussetzung, um auf internationaler Ebene weiter zu
erstarken.
Bei der Pressekonferenz des diesjährigen Locarno Film Festivals (7.-17.8.2024) gab sich Hoffmann erstaunlich wortkarg. Sie definierte Locarno als Ort des Wandels. Ihre Aufgabe als Präsidentin sei es, Plattformen zu schaffen, die neue Ideen nähren und neues Denken entwickeln. Sie sprach dabei auch von einem spannenden Scheideweg, an dem sich Kino und Film derzeit befinden, und dass es noch nie notwendiger gewesen sei, Narrative über die Welt zu entwickeln, in denen wir leben und schaffen wollen. Abgesehen davon, dass sie sich ausbedungen hat, bei der Gestaltung der Plakate mitzuwirken, wolle sie sich in die Programmgestaltung des Festivals nicht weiter einmischen.
Das Programm des 77. Locarno Film Festivals wurde dann von Festivaldirektor Giona A. Nazzaro und Geschäftsführer Raphaël Brunschwig vorgestellt. Nazzaro betonte dabei die Wichtigkeit von Locarno für das Autorenkino der Gegenwart und dass man in Locarno – ohne auf das Vergnügen zu verzichten – den kritischen Dialog mit dem Publikum suche. Film und Kino wollen sich im Leben der Menschen einen Platz zurückerobern, der sich von der allgegenwärtigen Flut von Nachrichten und Bildern unterscheidet.
Ein euro-lastiges Piazza-Programm
Das Herzstück des Festivals sind weiterhin die Freiluftaufführungen auf der Piazza Grande. Sie bietet Platz für 8000 Personen und sind der Ort, an dem sich das Festival inszeniert. Hier treten Präsidentin und Direktor mit den Filmschaffenden vors Publikum; hier wird am 7. August das Festival mit dem Historienfilm „Le déluge“ von Gianluca Jodice eröffnet. Melanie Laurent und Guillaume Canet spielen darin Marie-Antoinette und Louis XVI. und werden beide im Rahmen des Festivals mit einen „Excellence Award“ ausgezeichnet. Weitere Piazza-Preisträger sind in diesem Jahr der indische Schauspieler Shah Rukh Khan, der Trickfilmer Claude Barras, die Regisseurin Jane Campion sowie die Schauspielerin Irène Jacob. Der US-Amerikaner Ben Burtt, der R2D2 das Piepsen und Darth Vader seine düsteren Atemgeräusche beibrachte, wird als erster Tontechniker und Sounddesigner in Locarno mit dem „Vision Award“ beehrt.
Unter den Piazza-Filmen finden sich in diesem Jahr „Electric Child“ von Simon Jaquement um ein junges Elternpaar, das sich auf ein Experiment mit einer KI einlässt. Ebenfalls gezeigt werden der Coming-of-Age-Film „Reinas“ von Klaudia Reynicke, der Dokumentarfilm „Gaucho Gaucho“ von Michael Dweck und Gregory Kershaw sowie „Rita“, das Regiedebüt der spanischen Schauspielerin Paz Vega. Außerdem im Programm ist Mohammad Rasoulofs Politkrimi „The Seed of the Sacred Fig“, der in Locarno in einer überarbeiteten Fassung gezeigt wird, und „Sauvages“, ein öko- und klimapolitisch aufgeladener Animationsfilm von Claude Barras.
Auffällig ist die Euro-lastigkeit des Piazza-Programms. Mit „Shambhala“ von Min Bahadur Bham und „The Fall (Restored Cut)“ von Tarsem Singh haben es zwar auch je ein Film aus dem asiatischen Raum und einer aus Afrika auf die Piazza geschafft. Doch es fehlen neue Filme aus Hollywood wie auch aus Bollywood, der Türkei, China und Nollywood; zudem vermisst man Werke bzw. Filmemacher-Namen, die Experimentelles – etwa von Quentin Dupieux, dessen Filme in früheren Jahre zu nachtschlafender Zeit gezeigt wurden. Stattdessen laufen in den Spätvorstellungen Klassiker wie „The Piano“ von Jane Campion, „Une femme est une femme“ von Jean-Luc Godard oder „The Lady from Shanghai“ von Orson Welles. An deren Qualität ist nicht zu zweifeln, und es macht ja durchaus Sinn, solche Werke zur Pflege des kollektiven filmischen Gedächtnisses immer wieder vorzuführen. Doch das kann nicht darüber hinwegtäuschen, woran es Locarno seit mehreren Jahren fehlt: an der Lust aufs Abenteuer und dem Mut, den es braucht, um das Publikum mit aufregend neuen und gewagt anderen Filmen aus der Reserve zu locken.
Zwei neue Filme von Radu Jude
Geopolitisch ausgewogener präsentieren sich die beiden Wettbewerbe der „Concorso Internazionale“ und der „Concorso Cineasti del Presente“. Im „Internationalen Wettbewerb“ treten die Werke erfahrener Filmschaffender in Konkurrenz zu solchen von Newcomern. Darunter finden sich etwa Christoph Hochhäuslers „La mort viendra“, „Mond“ von Kurdwin Ayub, „Youth: Hard Time“ von Wang Bing, „100.000.000.000.000“ von Virgil Vernier oder Pia Marais’ „Transamazonia“ und „Der Spatz im Kamin“ von Ramon Zürcher. Unter den Newcomern finden sich Marta Mateus mit „Fogo do viento“, Sylvie Ballyot mit „Green Line“, Sara Fgaier mit „Sulla terra leggeri“ und Saulė Bliuvaitė mit „Akiplėša“ („Toxic“).
Weitere Werke von jungen Filmemachern lassen sich im ersten und zweiten Filmen vorbehaltenen „Concorso Cineasti del Presente“ entdecken. Etwa Willy Hans’ erster langer Spielfilm „Der Fleck“, „Joqtau“ vom Kasachen Aruan Anartay, „When the Phone Rang“ der Serbin Iva Radivojevic, „Fario“ von Lucie Prost und „Olivia & las Nubes“ von Tomás Pichardo-Espaillat.
Ein Film sei wie eine Postkarte von einem Freund, meinte
Giona A. Nazzaro bei der Pressekonferenz. Das trifft vor allem auf Filme von
bekannten Filmschaffenden zu, von denen in Locarno einige „Außer Konkurrenz“
gezeigt werden. So etwa „The Miraculous Transformation of the Working Class
Into Foreigners“ von Samir, Isild Le Bescos „Ma famille chérie“, „Bang Bang“
von Vincent Grashaw“ und die beiden jüngsten Filme von Radu Jude: „Sleep #2“
sowie „Eight Postcards from Utopia“, den er zusammen mit Christian Ferencz-Flatz
realisierte.
In Locarno lenkt man das Augenmerk auch auf die Geschichte der Siebten Kunst. Das geschieht in der Sektion „Histoire(s) du Cinéma“, in der sich alte Filme in neu restaurierte Fassung entdecken lassen. Etwa „Streetof Now Return“ von Samuel Fuller und „Jonas qui aura 25 ans enl’an 2000“ von Alain Tanner. Aber auch in der Retrospektive, die 44 Produktionen aus der Blütezeit von Columbia Pictures präsentiert. Ein filmhistorisches Schmankerl ist auch die „Hommage to Stan Brakhage“, in der acht 16mm Filme des umtriebigen US-Experimentalfilmers in analoger Vorstellung gezeigt werden.
Treffpunkt der Branche
Bei der Pressekonferenz ergriff auch der Geschäftsführer Raphaël Brunschwig das Wort. Er unterstrich, dass das Festival als Non-Profit-Organisation ein Ort bleiben soll, an dem der Wert der Kunst weder auf ihre Vermarktbarkeit noch auf ihre Unterhaltungsqualität reduziert werde. Dazu gehört, dass das Festival auch als Treffpunkt für die internationale Filmbranche funktioniert und sich für den filmischen Nachwuchs ebenso wie für das Kinopublikum von morgen engagiert. Die dafür lancierten Initiativen nennen sich „Locarno Pro“, „Locarno Factory“ und „Locarno Edu“. Sie sind teilweise nur unter speziellen Bedingungen zugänglich, finden aber auch den Weg ins Programm. So etwa das „Locarno Kids Screenings“, das nebst Filmvorführungen auch Workshops beinhaltet. Oder die „Open Doors Screenings“, in denen Filme, die mit Unterstützung des Festivals entstanden sind, aus filmisch unterrepräsentierten Regionen gezeigt werden; dieses Jahr vor allem aus Lateinamerika und der Karibik.
Abgerundet wird das Filmprogramm durch zwei extern kuratierte Sektionen: die vom Schweizerischen Verband der Filmjournalistinnen und Filmjournalisten verantwortete „Semaine de la Critique“ und das von Swiss Films programmierte „Panorama Suisse“. Letzteres umfasst zehn Schweizer Filme, die in den letzten zwölf Monate von sich reden machten, wie „Jakobs Ross“, „Die Anhörung“ oder „Les paradis de Diane“. Die Kritikerwoche zeigt sieben innovative Dokumentarfilme, die sich in Stil, Machart oder thematisch von Konventionellem unterscheiden. Etwa „Familiar Places“ von Mala Reinhardt und „Jenseits von Schuld“ von Katharina Köster und Katrin Nemec, „Wir Erben“ vom Simon Baumann oder Leila Arminis „A Sisters' Tale“.
Insgesamt sollen beim 77. Locarno Film Festival 225 Filme gezeigt werden, davon 104 als Weltpremiere. Bleibt zu hoffen, dass nach den heftigen Wetterkapriolen, welche die Südschweiz in den letzten Wochen trafen, sich der Himmel über Locarno etwas weniger wolkenreich präsentiert als auf dem Festivalplakat.