Beim 58. Filmfestival von Karlovy Vary (28.6.-6.7.2024) wurde an Franz Kafka erinnert, etwa mit der Wiederentdeckung von Werken wie Rudolf Noeltes „Das Schloss“ und Steven Soderberghs Neubearbeitung seines „Kafka“-Films als „Mr. Kneff“. Im Wettbewerb um den „Kristallglobus“ beeindruckten Annäherungen an die kindliche Erlebniswelt, Dramen über Beziehungsprobleme und Kolonialismus.
Steven Soderbergh weiß, wie man eine Geschichte erzählt. Als er im Rahmen der Kafka-Retrospektive „Mr. Kneff“ einführt, die 2021 erstellte Neu-Edition seines 30 Jahre zuvor entstandenen Films „Kafka“, berichtet er von einer kuriosen Fantasie. Ein Einbrecher hätte eine Kopie des Films aus seinem Haus gestohlen, umgeschnitten und dann noch einmal ins Kino gebracht. „Ich hätte ihn verklagt!“, so der Regisseur, um vielleicht, aber nur vielleicht so etwas wie Frevel an seinem Werk anzudeuten. Über die eigentlichen Gründe des Neuschnitts schwieg der Regisseur sich aus: „Es musste sein!“
Soderbergh hat „Kafka“ um zwanzig Minuten gekürzt, die narrative Struktur verändert und einige Szenen eingefärbt, um die Grenze zwischen Realität und Imagination deutlich zu machen. Die Dialoge sind durch Untertitel ersetzt, schließlich verweisen Rollennamen wie Murnau und Orlac auf den Stummfilm, die Geräusche sind aber weiterhin hörbar.
Dazu ein Soundtrack, der im krassen Gegensatz zu den Bildern steht, am populärsten die Instrumentalversion von Metallicas „Enter Sandman“, am schönsten der Song „Empty Pages“ der britischen Band Traffic. Ob Soderbergh Kafka so ein wenig näherkommt, seiner Surrealität und Entfremdung, sei dahingestellt. Im Zweifelsfall ist „Mr. Kneff“ eine unterhaltsame Spielerei.
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Gefechte mit Säbeln und Worten
Es sind Ereignisse wie diese, die das Filmfest von Karlsbad so besonders machen. Weitere Gäste, die in dem Kurort geehrt wurden, waren Nicole Holofcener, Clive Owen, Viggo Mortensen und Daniel Brühl, der sein 2021 gedrehtes Regiedebüt „Nebenan“ vorstellte. Das Kernstück des Festivals ist der Wettbewerb um den „Kristallglobus“, der mit seinen zwölf Beiträgen aber nicht durchweg zufriedenstellen konnte. Einige Drehbücher waren zu pathetisch in ihrer Aussage, zu unglaubwürdig in ihrer Figurenkonstellation, zu übertrieben in ihren Metaphern geraten. So wird in dem singapurischen Film „Cì xin qiè gu“ („Pierce“) von Regisseurin Nelicia Low das Säbelfechten, hier als sportlicher Wettbewerb betrieben, zum Gleichnis, wie man die Absichten des Gegners frühzeitig erkennt. Doch die Geschichte eines jungen Mannes, der wegen Totschlags sieben Jahre im Gefängnis saß und nun um das Vertrauen seines jüngeren Bruders kämpft, ist so überkonstruiert, mit kitschigen Nebensträngen um Coming-out oder Liebe im Alter so überfrachtet, dass man schon bald das Interesse verliert. Die Jury sah das anders: Nelicia Low wurde als beste Regisseurin des Wettbewerbs ausgezeichnet.
Wesentlich ergreifender war der norwegische Film „Elskling“ („Loveable“), das Regiedebüt von Lilja Ingolfsdottir. Als Sigmund nach sechs Wochen endlich von einer Geschäftsreise zurückkommt, könnte seine Ehefrau Maria sich eigentlich freuen. Stattdessen macht sie ihm Vorwürfe, weil die Kindererziehung und der Haushalt an ihr hängen blieben, ihre berufliche Karriere als Zeichnerin stagniert. Immer lauter und energischer, sogar aggressiver wird sie mit ihren Forderungen nach mehr Gleichstellung in der Beziehung. Doch Sigmund reagiert auf die Vehemenz, auf die Wut seiner Frau mit Rückzug. Schließlich reicht er sogar die Scheidung ein.
Sensibel lotet die Regisseurin die Sehnsucht nach Harmonie und den Wunsch nach Selbstverwirklichung aus, konstatiert aber ebenso die Ängste der Frau. Die Krise, in die sie gerät, zwingt sie, auch ihre eigenen Fehler zu erkennen und einen Neuanfang zu wagen. Die 38-jährige Hauptdarstellerin Helga Guren, als beste Schauspielerin des Wettbewerbs geehrt, wird so zum Zentrum des Films. Von zärtlich bis verzweifelt, von selbstbewusst bis hilflos, von sensibel bis zornig zieht sie alle Register. Einige Überzeichnungen, vor allem die Verbitterung von Marias heranwachsender Tochter, wiegen darum nicht so schwer.
„Elskling“ erhielt nicht nur den Spezialpreis der Jury, sondern auch den Ökumenischen Preis, den FIPRESCI-Preis der Internationalen Filmkritik und den Europa Cinemas Label Award. Es passiert nicht gerade oft, dass sich so unterschiedliche Jurys so einig sind.
Kein Durchblick durch die Milchglasscheibe
Auch in „Světýlka“ („Tiny Lights“), einer tschechisch-slowakischen Co-Produktion von Beata Parkanová, geht es um das Ende einer Ehe, doch diesmal konsequent aus der Sicht eines sechsjährigen Mädchens erzählt, das in jeder Szene zu sehen ist. Die Kamera ist dabei auf Augenhöhe des Kindes und fängt seine Sicht ein. Das bedeutet, dass die Gesichter der Erwachsenen häufig nicht zu sehen sind und das Blickfeld eingeschränkt ist. Amálka, so der Name des Mädchens, begreift nicht so recht, warum sie an diesem schönen Sommertag so oft allein bleibt oder einen Ausflug mit den Großeltern macht, während sich die Eltern hinter verschlossenen Türen streiten. Irgendetwas stimmt nicht, doch Amálka kann die angespannte Stimmung nicht einordnen, die Milchglasscheibe, auf die sie am Anfang und am Ende des Films ihre Augen presst, verhindert im wahrsten Sinne den Durchblick. Munter plappert sie drauflos, mit einem kindlichen Charme, der die Erwachsenen eigentlich milder stimmen müsste. Ein berührender Film ist so entstanden, der der Erlebniswelt eines kleinen Kindes subtil nachspürt.
Aus deutscher Sicht am interessantesten war die deutsch-französische Co-Produktion „Xoftex“, inszeniert von Noaz Deshe, ausgezeichnet mit einer speziellen Erwähnung der Jury. Der Filmtitel benennt ein griechisches Flüchtlingslager, in dem Asylsuchende aus dem Nahen Osten auf ihren Bescheid zur Weiterreise warten. Im Mittelpunkt Nasser, ein junger Mann, der zusammen mit anderen einen kurzen Amateurfilm drehen will, um die Zeit totzuschlagen. Deshe zeigt in einer nervösen Bildabfolge, unterlegt von einem bedrohlichen Sounddesign, die Größe des Lagers, das aus langen Container-Reihen besteht. Die Bewohner stehen ständig unter Strom, es gibt Streit, Steine fliegen, es lärmt unaufhörlich, von Privatsphäre keine Spur, die Fenster müssen mit Papierschnipseln verklebt werden, damit niemand hineinschauen kann. Diese realistischen Szenen einer unmenschlichen Lage wechseln mit den Aufnahmen des kuriosen Fantasyfilms, die sich wiederum mit Traumsequenzen Nassers ablösen. Plötzlich befinden sich die Hauptfiguren mit einem dramaturgischen Sprung in Schweden. Doch glücklich sind sie dort nicht. Das Leiden der Flüchtlinge geht weiter.
Kolonialismus und Künstlertum
Einer der beeindruckendsten Filme des Wettbewerbs war „Banzo“, inszeniert von Margarida Cardoso. Im Jahr 1907 kommt ein junger portugiesischer Arzt auf einer Insel vor der afrikanischen Küste an, um einheimische Arbeiter von einer mysteriösen Krankheit, Banzo genannt, zu heilen. Schnell stellt sich heraus, dass die Männer und Frauen keine Arbeitsverträge haben, sondern als Sklaven schuften müssen. Sie sind nicht freiwillig hier, sie sind am falschen Ort, wenn man so will, und darum leiden sie unter einem ungemein intensiven Heimweh, das sie apathisch und kraftlos macht – bis sie sterben. Hier geht es nicht darum, körperliche Symptome zu behandeln, sondern die Seelen der Menschen zu retten. Kurzum: menschlich zu sein.
Cardoso fasst die Grausamkeit des Kolonialismus, dessen Folgen bis heute nachwirken, in bestürzende Bilder: Männer, die nichts mehr essen und nur noch 40 Kilo wiegen, Frauen, die apathisch im Bett liegen und sich nicht mehr um ihre Babys kümmern können. Ständig regnet es, Nebel verwehrt die Sicht, der Weg durch den Urwald ist beschwerlich und gefährlich. Eine bedrückende Atmosphäre legt sich so über den Film, die die Krankheit noch zu verstärken scheint.
Der „Kristallglobus“ für den besten Film des Wettbewerbs ging zur Überraschung einiger an den britischen Dokumentarfilm „A Sudden Glimpse to Deeper Things“. Der nordirische Regisseur Mark Cousins ehrt darin die britische Künstlerin Wilhelmina Barns-Graham (1912-2004), die mit ihren abstrakten Bildern nahezu in Vergessenheit geriet. Cousins stilisiert mit pathetischem, vom schweren irischen Akzent gekennzeichnetem Kommentar ein Ereignis in ihrem Leben, die Ersteigung des Grindelwald-Gletschers in der Schweiz im Mai 1949, zu einem wichtigen Wendepunkt in ihrem künstlerischen Schaffen. Kubische Formen und blassblaue Farben sollen fortan in ihren Bildern Assoziationen an Eis und Kälte wecken. Doch die stete Wiederholung der Motive, ihre strenge Anordnung haben auch etwas Redundantes und wecken so Zweifel an der Bedeutung der Künstlerin.
Eine Wiederentdeckung: „Das Schloss“ von Rudolf Noelte
Noch einmal zu Franz Kafka und damit zu Rudolf Noeltes Verfilmung von „Das Schloss“ (1968). Was ist doch Maximilian Schell für ein ausdrucksstarker Landvermesser! Und dann dieses hässliche, schneebedeckte, mit klugem, schlichtem Set-Design entworfene Dorf, dessen unfreundliche Bewohner K. immer wieder abblitzen lassen. Überhaupt die Gesichter der Menschen – alt, faltig, verlebt und doch sehr eigen. Mittendrin und unvergesslich Helmut Qualtinger als Bürgel, der im Bett liegend eine absurde Rede hält. Doch niemand hört ihm zu. Die tschechische Schauspielerin Iva Janzurová – sie spielte seinerzeit die Olga – berichtete zur Freude des Publikums, wie sie sich gegen die Avancen Schells wehrte und bei einer Nacktszene auf einem Body-Double bestand. Für Cannes 1968 hatte sie sich extra ein Kleid schneidern lassen – doch dann wurde das Festival wegen der Mai-Unruhen abgebrochen, der Film gar nicht mehr gezeigt. Noch so eine Geschichte, die man nur in Karlsbad hört.