© Reprodukt (aus "Juliette im Frühling")

Heitere Bilder, menschliche Untiefen: Comiczeichnerin Camille Jourdy

Über die französische Comiczeichnerin Camille Jourdy und die Verfilmungen ihrer Graphic Novels, anlässlich des Kinostarts von „Juliette im Frühling“

Veröffentlicht am
24. Juli 2024
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Die französische Comickünstlerin Camille Jourdy porträtiert in ihren Graphic Novels farbenfroh, aber mit Gespür für menschliche Dramen das ganz normale Chaos, das Leben heißt, festgemacht an markanten Frauenfiguren. Zeitgleich mit der Filmadaption „Juliette im Frühling“ erscheint auch Jourdys Comicvorlage auf Deutsch. Eine Gelegenheit, ihre Erzählwelten zu entdecken.


Der Comic Salon Erlangen, der alle zwei Jahre die deutschsprachige Comicszene in die kleine Stadt Erlangen ruft, ist so etwas wie die Berlinale der Comicbranche. In einer Stadt dieser Größenordnung führt das schnell dazu, dass für vier Tage alles Kopf steht. Das fühlt sich dann ein wenig nach französischen Verhältnissen an, wo Comics kein Nischendasein führen, sondern im Alltag fest verankert sind. In Frankreich war zum Beispiel ein Sachcomic wie „Welt ohne Ende“ zum Klimathema von Christophe Blain und Jean-Marc Jancovici 2022 nicht nur der meistverkaufte Comic, sondern das meistverkaufte Buch überhaupt – inzwischen sind es gut 1 Millionen verkaufter Exemplare. Beim deutschen Verlag Reprodukt freut man sich derweil, bei den Verkäufen knapp unter der 10.000er-Marke zu stehen – denn das ist hierzulande schon viel für einen Comic.

In Erlangen hat 2024 nicht nur einer der produktivsten und erfolgreichsten Comiczeichner Frankreichs – Joann Sfar – den Ehrenpreis erhalten. Für den besten internationalen Comic war auch „Juliette – Gespenster kehren im Frühling zurück“ von seiner in Frankreich ebenfalls erfolgreichen Landsfrau Camille Jourdy nominiert. Der Comic, der im französischen Original schon 2016 erschien, ist nun pünktlich zum Filmstart der Filmadaption „Juliette im Frühling“ (ab 16. Juli im Kino) im Verlag Reprodukt auf deutsch erschienen. 

Cover-Art zu "Juliette" (© Reprodukt)
Cover-Art zu "Juliette" (© Reprodukt)

Den Preis beim Comicsalon hat „Juliette“ am Ende nicht gewonnen, und auch die Zeichnerin und Autorin kam nicht persönlich nach Erlangen – sie hatte andere Verpflichtungen, denen sie sich nicht entziehen konnte. Ganz anders als ihre Protagonistin in ihrer Graphic Novel: Die titelgebende Juliette, um die der Comic kreist, lässt darin ihr Leben in Paris hinter sich und entzieht sich ihren beruflichen Verpflichtungen.

Zurück zu den Wurzeln

Juliette braucht eine Auszeit vom alltäglichen und beruflichen Stress in der Metropole. Sie reist in die provinzielle Kleinstadt ihrer Kindheit und Jugend, um sich von den Strapazen ihres Pariser Künstlerinnenlebens zu erholen. Mit im Gepäck: ein paar Klamotten zum Wechseln, Depressionen und die ein oder andere Angstattacke, wenn sie glaubt, ihr Puls bleibe stehen. Juliette kommt bei ihrem allein lebenden Vater unter, der kein Mensch der vielen Worte ist und nicht ganz zu Unrecht fürchtet, langsam, aber sicher dement zu werden. Unweit wohnt Juliettes ältere Schwester, die mit ihrem Familienleben mit Mann und zwei kleinen Kinder voll ausgelastet erscheint und immer leicht gereizt ist. 

Erscheint am 18. Juli auch als Filmversion: Die verrückte Familie von "Juliette" (© Pandora Film)
Erscheint am 18. Juli auch als Filmversion: Die verrückte Familie von "Juliette" (© Pandora Film)

Das liegt allerdings auch an ihrem kleinen Geheimnis, der Liaison mit einem anderen Mann. Außerdem wäre da noch die überdrehte Mutter, die ihr Glück ebenfalls in Liebschaften sucht und neuerdings ihre Weiblichkeit in großen, expliziten Ölgemälden auslebt. Von der Ruhe, die Juliette hoffte, hier zu finden, kann nicht die Rede sein. Die findet sie nur in einer neuen Bekanntschaft mit dem Untermieter im Haus ihrer Großmutter, die kürzlich ins Heim gezogen ist. Aber auch das verkompliziert sich schnell...

Menschliche Dramen hinter farbenfrohen Bildern

Juliette könnte ein Alter Ego der Autorin und Zeichnerin Camille Jourdy sein, denn sie zeichnet wie Jourdy gleichermaßen Kinderbücher und Comics. Visuell erscheinen Jourdys Arbeiten – ob für jung oder alt – ähnlich. Der Zeichenstil hat sowohl bei den Kinderbüchern als auch bei den Graphic Novel etwas Naives, Kindliches, betont Freundliches und Farbenfrohes. Wer ihre Graphic Novel „Rosalie Blum“ gelesen hat, weiß aber, dass sich hinter den freundlichen Bildern auch tiefe, menschliche Dramen abspielen können. „Rosalie Blum“, erstveröffentlicht 2007 bis 2009 in drei Bänden (deutsche Gesamtausgabe 2012 bei Reprodukt), wurde bereits 2015 von Julien Rappeneau verfilmt. Die Adaption fand aber anders als „Juliette ...“ ihren Weg nicht in die deutschen Kinos. 

"Rosalie Blum" (© Reprodukt)
"Rosalie Blum" (© Reprodukt)

„Rosalie Blum“ erscheint zu Beginn wie ein Krimi: Ein Mann verfolgt eine Frau. Die Geschichte, ebenfalls in einer französischen Kleinstadt angesiedelt, zielt jedoch nicht auf etwas ganz anderes ab: Wie „Juliette“ ist sie eine genaue Milieustudie eines Provinzortes und zudem eine zarte Emanzipationsgeschichte. Auf 350 farbigen Seiten erzählt Camille Jourdy von einsamen Herzen, von biografischen Altlasten, von Konflikten und Annäherungen. Jourdy setzt ihre anrührenden Geschichte in „Rosalie Blum“ wie auch in „Juliette ...“ nicht nur in wunderschönen Farbzeichnungen um, sondern testet immer wieder die Möglichkeiten des Mediums spielerisch aus. So gibt es fast nie Rahmungen für die Panels, mitunter noch freiere Seitenlayouts. Auch Sprechblasen gibt es nicht, die Dialoge sind frei in die Bilder gesetzt, längere Passagen kommen ganz ohne Text aus. Auch arbeitet Jourdy raffiniert mit Parallelhandlungen und Subplots, deren Handlungsstränge sie meisterlich und überraschend verknüpft.

Genau skizzierte Alltagsszenarien

In all dem ähnelt ihre Arbeit ihrer britischen Kollegin Posy Simmonds, deren Graphic Novels „Tamara Drewe“ und „Gemma Bovary“ ebenfalls verfilmt wurden, erstere von Stephen Frears (dt. „Immer Drama mit Tamara“); nur ihre Graphic Novel „Cassandra Darke“ wartet noch auf eine Adaption. Nicht nur der Fokus auf scheinbar ganz durchschnittliche weibliche Hauptfiguren ist den beiden Zeichnerinnen und Autorinnen gemeinsam, sondern auch die genau skizzierten Alltagsszenerien. Und nicht zuletzt veröffentlicht auch Posy Simmonds, die in diesem Jahr den Ehrenpreis für ihr Lebenswerk beim Comicfestival in Angoulême, dem großen, französischen Bruder von Erlangen, erhielt, Kinderbücher.

Panels lösen sich auf - wie in "Juliette" (© Reprodukt)
Panels lösen sich auf - wie in "Juliette" (© Reprodukt)

Doch Camille Jourdy gehört einer anderen Generation an. 1979 in Frankreich geboren und in Lyon lebend, ist sie gut 35 Jahre jünger als Simmonds. Jourdy hat neben ihren Comics knapp zehn Kinderbücher beziehungsweise Kindercomics veröffentlicht, darunter „Versteckt oder Nicht“, „Pepin und Olivia“ oder „Die Vunderwollen“ (Reprodukt).

Mit einem teils fantastischen Figurenarsenal dreht sich auch hier alles um Alltag und Alltagsbewältigung. Was für die Graphic Novels gilt, gilt auch für die Kindercomics: Die Leichtigkeit und Freundlichkeit der Zeichnungen kann darüber hinwegtäuschen, dass die behandelten Themen tiefe und auch tragische Gefühle transportieren. Und so sollte man die Vermarktung der Verfilmung „Juliette im Frühling“ als französische „Sommerkomödie“ auch nicht ganz wörtlich nehmen, auch wenn der ein oder andere Lacher vorprogrammiert ist.

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