Beim 41. Filmfest München 2024 stechen Filme hervor, die um die Frage nach Verstellung und Authentizität kreisen. Die Suche nach einer Position zwischen eigenen Ambitionen und positiver Wahrnehmung durch andere erweist sich bei einer schwäbischen Nachwuchsbäuerin so zentral wie bei Künstlern in Deutschland oder den USA. Ein universales Thema, das vielfältig aufgegriffen und variiert wird.
Jedes Jahr ziert ein neues Foto die Joghurtgläser einer Firma in der schwäbischen Provinz. Ein Bauer aus der Gegend lässt sich mit Kindern und Tieren abbilden und schreibt so an einer romantisierten Idealvorstellung vom Leben und Arbeiten auf dem Land fort. Zwar wissen alle Landbewohner, wie wenig das Foto mit der Wirklichkeit zu tun hat, und machen sich beim Shooting über die Anweisungen der Fotografen lustig. Doch tief im Herzen sind sie stolz auf die Tradition, die über die Fotos weiterzuleben scheint, während sie tatsächlich mehr und mehr ausstirbt.
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Die Regisseurin Justine Bauer zeigt in ihrem Debütfilm „Milch ins Feuer“ dieses Nebeneinander von Tristesse und Trotz als Gemengelage einer stetig kleiner werdenden Gemeinschaft. Die junge Katinka will den Bauernhof ihrer Familie unbedingt übernehmen, doch selbst ihr engstes Umfeld rät ihr davon dringend ab: „Landwirtschaft rentiert sich nicht mehr.“
Als Alternativen führt ihre Mutter eine Ausbildung bei ALDI, im Schlachthof oder eine Karriere als Försterin oder Jägerin an, falls ihre Tochte unbedingt im Freien arbeiten will. Die Großmutter sitzt derweil auf der Veranda oder anderswo, denkt an früher und wundert sich über die neuen Zeiten. Mit frischen Ideen ist bei ihr ebenso wenig zu rechnen wie bei der jungen Generation, die Katinkas Überzeugung fürs Bauerndasein und ihren Einsatz nicht teilt.
Schuld haben immer die anderen
Der im
schwäbischen Dialekt gedrehte „Milch ins Feuer“ reichert seine Erzählung mit
dokumentarischer Genauigkeit an. Hinter der sommerlichen Leichtigkeit der
Narration offenbaren sich erst langsam die Untiefen einer Gesellschaft, in der
die „gute alte Zeit“ ebenso wenig von Grausamkeiten frei war wie die Gegenwart,
wo jegliches auffällige Verhalten unter den Tieren zur Kastration führt. Dass
die Bauernfamilien aber auch sich selbst um ihren Nachwuchs bringen, ist ihnen
nur dunkel bewusst. Stattdessen wird lieber die Schuld auf „die Städter“, auf Touristen
oder Ausländer geschoben.
Die hautnahe Studie von Justine Bauer ist auch dort als Film gelungen, wo die die Handlung sich etwas ins Redundante verliert und mancher Dialog leicht hölzern klingt. Mittendrin steht die Hauptfigur Katinka, die trotz aller Widerstände das authentische Bäuerinnen-Dasein als Ideal pflegt. Auch wenn sie damit buchstäblich allein ist auf weiter Flur.
In den ersten Tagen des Festivals eint viele Filme der Blick auf (überwiegend) junge Figuren, die nach einem authentischen Leben und belastbaren Idealen suchen und sich vor der Austauschbarkeit und Beliebigkeit des Daseins fürchten. In „Sonnenplätze“ von Aaron Arens kreist die Handlung um den Versuch der Jungautorin Samuela „Sam“ Maibaum (Julia Windischbauer), ihr erstes Manuskript zu veröffentlichen. Doch die unsichere Nachwuchsschriftstellerin wird von allen abgeblockt; die Lektorin schenkt ihr nur deshalb Aufmerksamkeit, weil Sam die Tochter eines Literaten ist, dem mit einem einzigen Roman ein gefeierter Coup gelungen ist. Eine andere Nachwuchsautorin empfiehlt Sam mehr beiläufig als aus Interesse, ihren Roman kapitelweise auf einer Internetseite hochzuladen, auf der Leser die Autoren auch finanziell unterstützen. Dass diese im Gegenzug aber erwarten, mit ihren Kommentaren zu Mitautoren zu werden, erfährt Sam erst, als sie sich dort angemeldet hat.
Gar nicht erst in Betracht gezogen
Arens reiht eine Sammlung von Künstlertypen um die Protagonistin herum, die nicht frei von Klischees sind. Ein Prachtexemplar eines weltentrückt- selbstgefälligen Literaten ist ihr Vater Jo Maibaum (Niels Bormann), der nach der Trennung von seiner Familie weiter ihr Haus auf Lanzarote besetzt hält, rauschartig seine Memoiren in die Schreibmaschine hämmert, obwohl an dieser kein Vokal mehr funktioniert, und seine Verachtung für die Welt und den Großteil seiner Mitmenschen kultiviert.
Ihm entgegengesetzt ist die Mutter (Juliane Köhler), die für Solidität und Spießertum steht, mit ihren hohen Ansprüchen aber auch ihre Kinder von sich wegstößt. Die Möglichkeit, im mütterlichen Verlag zu publizieren, hat Sam gar nicht erst in Betracht gezogen. Umso mehr, als sie in ihrem Roman mit ihrer Familie hart ins Gericht geht, und ihre Mutter sie überdies unverhohlen als Versagerin bezeichnet. Ihre Erwartungen setzt die lieber auf Sams jüngeren Bruder (Jeremias Meyer) und dessen Pianisten-Laufbahn.
Doch der entzieht sich ebenfalls ihrem Einfluss, als Sam sich eine Auszeit auf Lanzarote gönnen will. Kurzentschlossen reisen die Geschwister zusammen, nicht ahnend, dass sie auf der Insel ihrem entfremdeten Vater wiederbegegnen. Angesichts ihrer gemeinsamen Gegnerschaft gegen die Pläne der Mutter – nicht zuletzt den, das Ferienhaus zu verkaufen –, arrangieren sich Vater und jüngere Generation. Zumal Jo lobende Worte für Sams Manuskript findet und ihr vorschlägt, dieses erneut bei der Lektorin einzureichen. Mit der einzigen Änderung, ihn als Co-Autor zu nennen.
Im Sog der Selbstzweifel
Arens entwickelt
diese Geschichte mit einer Reihe gewitzter Dialoge, überzeugenden Schauspielern
und einer zentralen Figur, deren existenzielles Bangen pointiert
nachvollziehbar wird. Denn auch mit den neuen Plänen warten weitere
Demütigungen auf Sam. Im Verlag springen die Verantwortlichen tatsächlich auf
ihren Roman an, wollen aber ausschließlich mit ihrem Vater reden. Ihre
Beschwerde, dass mit dem Hochladen im Internet nun auch andere in ihrem Roman
mitmischen, stößt auf blankes Unverständnis.
Die zermürbenden Selbstzweifel vermögen Arens und seine Hauptdarstellerin Julia Windischbauer souverän deutlich zu machen. Allerdings zieht sich der Film mehr und mehr auf die durchgedrehte Künstlerfamilie zurück. Die Inszenierung suhlt sich in den gegenseitigen Eitelkeiten und Sticheleien und entfernt sich damit vom eigentlichen Zentrum.
Ebenfalls um ein künstlerisches Identitätsdilemma dreht sich „Im Rosengarten“, ergänzt um kulturelle und ethnische Fragen nach Zugehörigkeit. Einige Aspekte des Films von Leis Bagdach sind denen von „Sonnenplätze“ nicht unähnlich, auch wenn der Regisseur statt Literatur Musik ins Zentrum setzt. Auch hier gründen Ruhm und künstlerische Persona der Hauptfigur auf ihrem Debüt, in diesem Fall einem Rap-Album, mit dem Yakoub (Kostja Ullmann) alias FTHR die Branche im Sturm eroberte. Die Veröffentlichung liegt nun aber schon einige Jahre zurück; Yakoub ist in den Vierzigern, und als „authentisch“ bezeichnet sein Manager nur noch die Drogen- und Finanzprobleme des Rappers, die gerade wieder zu einem publikumswirksamen Zusammenbruch auf der Bühne geführt haben.
Rap, Richard Strauß & Wagner
Yakoubs drängendste Nöte liegen jedoch auf persönlicher Ebene. Nach über 30 Jahren erhält er wieder Nachricht von seinem aus Syrien stammenden Vater (Husam Chadat), der ihn und seine deutsche Mutter einst verließ und in seine Heimat zurückkehrte. Jetzt ist er erneut nach Deutschland gereist, hat dort aber unmittelbar einen Herzinfarkt erlitten. Mitgebracht hat er Yakoubs fünfzehnjährige Halbschwester Latifa (Safinaz Sattar), die kein Wort Deutsch versteht, während der mit seiner Herkunft hadernde Deutschsyrer kein Arabisch spricht und auch nicht vorhat, sich um die Jugendliche zu kümmern. Beharrlich heftet diese sich aber an seine Fersen, sodass er gezwungen ist, sich mit der Vergangenheit zu konfrontieren.
Bagdach setzt auf harte Kontraste, zwischen denen die Wurzellosigkeit des Protagonisten sichtbar wird. Die Rap-Musik, die eigentlich das innere Wesen von Yakoub ausdrücken soll, gefällt niemanden, und auch der Musiker wirft die Kassette seines Debüts bald aus dem Autofenster. Immer wieder setzt Bagdach im Soundtrack auf die Begegnung mit deutschen (Volks-)Liedgut, auf Kunstlieder von Richard Strauss oder Richard Wagner, Chorgesang und Akkordeon, die Teil einer Gegenwelt sind, durch die sich Yakoub bewegt.
Die Feindseligkeit ihm gegenüber beginnt bereits bei seinem Großvater und anderen Bewohnern des biederen Schwarzwalddorfes, in dem er aufgewachsen ist. Das sucht er jetzt wieder auf, um Latifa dort vielleicht absetzen zu können. Zuhauf fliegen ihm deutschnationale und ausländerfeindliche Sprüche entgegen, ebenso wie körperliche Angriffe. Yakoub seinerseits fremdelt mit den Bestandteilen seiner arabisch-muslimischen Herkunft. Die freundliche Aufnahme in einer Moschee bleibt ein Moment ohne Nachklang. Die Chance auf eine Öffnung und auf eine Versöhnung seiner widerstreitenden Persönlichkeitsaspekte verbindet sich am ehesten über das Verhältnis zu Latifa, der stillen, aber aufmerksam an ihm hängenden Halbschwester, die Yakoub irgendwann nicht mehr einfach nur abzuschütteln versucht.
Mit US-amerikanischem Optimismus
In den neuen deutschen Filmen ist die die Suche nach Identität ein hervorstechendes Thema; doch auch in anderen Filmen ist es durchaus verbreitet. Der Coming-of-Age-Film „Didi“ von Sean Wang spielt sehr ähnliche Überlegungen und Erfahrungen, allerdings mit US-amerikanischem Optimismus.
Die autobiografisch geprägte Hauptfigur Chris Wang (Izaac Wang) wächst als Sohn taiwanesischer Einwanderer in Kalifornien nach der Jahrtausendwende auf und sucht als pubertierender Jugendlicher nach seinem Platz. Seine Gefühlswelt und Interessen unterscheiden sich nicht von der seiner Altersgenossen. Doch er bekommt zu spüren, dass er wegen seiner Herkunft als Fremdling wahrgenommen wird. Sogar der Tonfall seiner besten Freunde ist von Beleidigungen durchsetzt, die öfter treffen, als die Teenager das zugeben würden. Chris’ Vater arbeitet in Taiwan und ist demonstrativ abwesend; seine Mutter und Großmutter leben derweil in ihrer eigenen Welt, in der weiterhin Mandarin gesprochen wird und Unverständnis über das Verhalten der Kinder herrscht.
„Didi“ konzentriert sich auf die Perspektive der Jungenfigur, platziert aber auch die Blickwinkel der weiblichen Familienmitglieder gekonnt daneben. Für Chris wird der Drang nach Loslösung immer bestimmender, während er gleichzeitig seinen Traum vom Filmemachen verfolgt. Einige Skater glauben ihm, dass er tolle Videos von ihren Aktionen aufnehmen kann, und lassen zu, dass er mit der Gruppe abhängt. Dabei erfährt er aber ebenso die Grenzen seines Könnens wie die Ablehnung seiner Wurzeln – er gibt vor, ein „Halbasiate“ zu sein. Der temporeiche Film läuft auf eine Einsicht in die Notwendigkeit von Kompromissen hinaus. Authentizität ist auf Dauer nicht mit Leugnung und Verstellung vereinbar.
Eine Frage des Überlebens
Solche Überlegungen spielen auch in dem Theaterfilm „The Great Lillian Hall“ einen entscheidenden Part, allerdings mit einer Hauptfigur, die in ihrem Metier so viel erreicht hat, dass sie einem zufriedenen Lebensabend entgegenblicken könnte. Doch Lillian Hall (Jessica Lange) steht einer Situation gegenüber, die ihren Ruf ruinieren könnte.
Nachdem sich bei den Proben zu einer Broadway-Aufführung von „Der Kirschgarten“ Textaussetzer häufen, diagnostiziert der Arzt eine rapide voranschreitende Demenz. Lillians Versuche, dies zu verheimlichen und weiterzuarbeiten, glücken aber nicht lange. Da sich die peinlichen Augenblicke auf der Bühne häufen, droht die Aufführung ein Desaster zu werden. Ein Rückzug kommt aber weder für ihr Ego noch für den Regisseur in Frage, der auf ihren prominenten Namen setzt.
Der von Michael Cristofer inszenierte Film präsentiert diesen Stoff als großes Melodram, in dem Jessica Lange, aber auch Nebendarsteller wie Kathy Bates und Pierce Brosnan ihre Auftritte genießen. Gleichwohl vermittelt sich die Überlebensfrage der Schauspielerin glaubhaft und intensiv. Obwohl sie als Künstlerin ungeheuer viel erreicht hat, ringt auch Lillian Hall nicht weniger mit der Selbst- und Außenwahrnehmung als Katinka, Sam, Yakoub und Chris.