© imago images/Everett Collection (Szene aus "Wall-E")

Mit Bildern infizieren: Wie das Kino zu den Menschen kommt

Polemische Anmerkungen zu einer überfälligen Belebung der Kinokultur

Veröffentlicht am
08. Juli 2024
Diskussion

Fast jedes Filmfestival schmückt sich mit Foren und Diskussionsrunden, in denen über den Zustand des deutschen Films und des Kinos generell gestritten wird. Doch all das nützt nichts, weil ganze Generationen an Bewegtbilder anderer Art verloren wurden. Es braucht vielmehr einen radikalen Paradigmenwechsel: Um Menschen wieder mit der Liebe zu den Bildern zu infizieren, muss das Kino zu ihnen kommen.


Es zehrt an den Nerven. All diese Diskurs-Events der Filmbranche und ihre rege Betriebsamkeit fressen Energie. Der wortreiche Lärm, die vielen Vorschläge, die sich letztlich nur um sich selbst drehen. Podium reiht sich an Podium. Kongress folgt auf Kongress. Im Publikum sitzen ohnehin nur die bereits Überzeugten: preaching to the converted.

Jede Fördereinrichtung gönnt sich diese Formate, auf denen es zumeist um die Zukunft des deutschen Films und des Kinos geht. Gerne kritisch. Schließlich ist Kritik ein Verkaufsschlager und dient als Feigenblatt. Die Tür zur Veränderung bleibt so immer einen Spalt offen. Man gibt sich reflektiert und gesprächsbereit. Aber nur solange niemand zu aufsässig, subversiv oder gar revolutionär ist.

Auf jedem Filmfestival findet sich ein Tagungsprogramm, in dessen Verlauf von den letztlich immer selben Menschen ein Diskurstheater aufgeführt wird, in dem jeder in der Arena der Ideen den Beweis antreten darf, sich um Himmels willen nicht auf dem Status quo auszuruhen. Was auf diesen Veranstaltungen passiert, ist, wie es der Philosoph Armen Avanessian in Bezug auf Katalogtexte in der bildenden Kunst und die Kunstkritik allgemein angemerkt hat, eine (selbst-) reflexive Art kritischer Nabelschau, in deren Verlauf symbolisches Kapital produziert wird:

„Besonders im Kontext zeitgenössischer Kunstkritik ist die Frage nach der Verstricktheit jedes kritischen Diskurses in einen Konsens mit der Macht virulent und beliebter Anlass für das Ringen um Distinktionsmerkmale (…) mittels immer ausgefeilterer Ausdifferenzierungen des ohnedies schon völlig ausgehöhlten Konzepts Kritik“, heißt es bei Avanessian.

Kulturelles Kapital ist in dieser vernetzten Branche, in der sich letztlich alle kennen, immer auch Kritik-Kapital: Man erhöht den Wert, indem man Diskurs-Content produziert, der zirkuliert, ohne wirklich etwas zu verändern. Polemisch formuliert: Es geht um Networking, dem ein wenig mehr Sinn übergestülpt wird.

Im Diskurs-Karussel: Jeffrey Wright in "Amercian Fiction" (imago/Landmark Media)
Im Diskurs-Karussell: Jeffrey Wright in "American Fiction" (© imago/Landmark Media)


Immer ist das Kino tot

Man wolle, so steht es in den diversen Ankündigungen geschrieben, Akteur:innen aus allen Bereichen in den Austausch bringen: Filmkultur mit Politik und Förderverwaltung und alle Interessierten miteinander an einem Tisch versammeln. Darauf liegen dann die großen Fragen: Ist Filmkultur auf dem Land möglich? Sind die Festivals divers, universalistisch oder individuell genug? Braucht die Filmkultur den Kinosaal? Bisweilen geht es über die Branchenthemen hinaus. Dann wird es sogar kulturphilosophisch, wie auf dem „Lichter Filmfest“ in Frankfurt, wo über Europa, den grassierenden neuen Autoritarismus oder die Kinoarchitektur diskutiert wird. Anscheinend wirkt die Nähe zum Geist von Kracauer, Benjamin und Adorno inspirierend.

All das sind wichtige Themen. All das ist wichtig. Die Polemik dieses Textes will darüber nicht einfach hinwegfegen, dass viele Podiumsgäste und Vortragende ungemein kluge Gedanken haben, die durchaus anregen. Darum geht es hier nicht. Vielmehr stellt sich die Frage, warum aus all dieser Vernetzung und all dieser Kritik so wenig entstanden ist. Am Ende rettet man sich mit der leeren Floskel, dass das Kino, aller Unkenrufen und schlechten Zuschauerzahlen zum Trotz, doch noch immer sehr lebendig sei.

Wenn diese kritischen und fast schon automatisierten Veranstaltungen Teil des Problems sind, folgt daraus aber nur, dass das Kino nicht tot ist, weil es nicht tot sein darf. Das fröhliche Diskurskarussell muss sich munter weiterdrehen. Wir wollen ja keine schlechte Laune bekommen. Solange es noch Krümel gibt, möchte jeder wenigstens einen Rest davon abhaben, und sei es nur der festgedrückte Puderzucker, den man nach Unmengen von Filterkaffee von der leer geräumten Platte kratzt – am liebsten auf einem der Empfänge der Filmförderer während der Berlinale. Also rückt man zusammen, diskutiert und kritisiert. Prekär bleiben wir alle.

Das Kino hat sich derweil in einen Untoten verwandelt, dessen Verwesung lediglich verwaltet wird. Deshalb ist es allerhöchste Zeit, den Zombie wieder auf die echte Welt außerhalb der Filmbubble loszulassen, statt ihn durch die Diskursmanege der Branche zu führen.

Reichen die altgedienten Strategien der Filmvermittlung, das Filmgespräch und all die Q&As, die Freilichtkinos und anderen Varianten des Wanderkinos, das der Kulturpolitik aktuell als Wunderwaffe gilt, um ländliche Gegenden an die Bilder anzuschließen, überhaupt noch aus? Welchen Wert haben diese mitunter ehrenwerten und gleichzeitig ebenso tradierten und angestaubten Ideen von Film und Kino in Zeiten eines medialen Wandels, in dem sich – Stichwort TikTok – ganze Generationen vom Kino abgewendet haben, um es durch Bewegtbilder ganz anderer Art zu ersetzen?

Reichen die alten Strategien: "Contra" (Constantin)
Reichen die alten Strategien: "Contra" (© Constantin)


Ganze Generationen wurden verloren

Um diese schmerzhaften Fragen zu beantworten, müssen die Podien und Kongresse ihr Kino und ihren Film freigeben. Der Elefant in der Branche muss beim Namen genannt werden. Denn dem Zuschauerschwund kann man wohl kaum mit einem besseren Angebot begegnen, das dann die Massen wieder in das Kino lockt. Dafür ist das Ausmaß der Entfremdung von der Lebenswelt Kino zu groß. Wir haben ganze Generationen an die audiovisuellen Narkotika der Sozialen Medien verloren.

Der Rückzug auf das Streaming in den eigenen vier Wänden ist die privatistische und konsumistische Schwundstufe des Kinos: irgendwie noch Film, minus der sozialen, öffentlichen Verräumlichung. Das Kino versammelt uns nicht mehr und bedeutet immer seltener die Welt. Man lässt sich algorithmisch bespielen. Ein Indiz dafür ist auch der viel gefeierte Siegeszug der Serie, die sich schon deshalb in der erzählerischen Breite zergeht, weil Serien ein Produkt sind, mit dem die Menschen auf den Plattformen gehalten werden sollen. Die Serie muss immer weitergehen; ihr narrativer Sog soll zum Weiterschauen verführen. Netflix ist und bleibt Fernsehen.

Damit sich die Menschen wieder für Kinokultur begeistern können, muss man sie jedoch zuerst mit einer Liebe zum Film infizieren. Das heißt: Die Menschen müssen nichts ins Kino; das Kino muss vielmehr zu ihnen, auf die Straße, hinein ins Leben. Es muss ein Versprechen auf Gemeinschaft und Teilhabe einlösen. Genau darin liegt der große Unterschied zum Streaming, das in der Tendenz vereinzelt und isoliert. Film hingegen ist Öffentlichkeit.


Alltagsprojektionen

Als kürzlich die „c/o pop“ in Köln stattfand, veranstaltete man in Ehrenfeld ein mittelgroßes Straßenfest. Verschiedenste Kulturinstitutionen waren dort präsent. Selbstverständlich legten DJs auf und verwandelten einen Teil der Venloer Straße in einen Outdoor-Club. Was aber fehlte, waren Film und Kino. Wieso projiziert man keine Musikfilme auf die Häuserwände oder lässt die Tanzenden in die Bilder von alten Filmen eintauchen? Wieso bleibt das Kino an seinen Ort gekettet und wartet darauf, dass Tickets gelöst werden?

Man könnte so viel ausprobieren und spielerischer sein. Reißt die Stühle aus dem Kinosaal und legt Turnmatten für Kinder aus, damit sie Film auf ihre Weise schauen können, statt sie zur Ruhe zu ermahnen. Am Hype um „Barbie“ sollte man es eigentlich gesehen haben: Die Menschen leben gerne mit einem Film, sie verkleiden sich und fühlten sich deshalb angesprochen. Kinokultur ist nicht passiv. Es geht darin nicht nur um die Projektion eines Films. Der Besuch von „Barbie“ war vielmehr wieder eine (Lebens-)Praxis.

Mehr als ein Film: "Barbie" (Warner Bros.)
Mehr als ein Film: "Barbie" (© Warner Bros.)

Man könnte sich viel offensiver mit der Clubkultur oder den Konzertveranstaltern zusammentun und mit Beamern betanzbare Filmräume erschaffen. Mit Flyern wirbt man für klassische Vorführungen oder Retrospektiven. Kino kann, das zeigt der Erfolg der US-amerikanischen Produktionsfirma „A24“, selbst zum Lifestyle werden. Doch viel zu häufig – abseits vom Superhelden-Franchise-Kino und der damit verbundenen popkulturellen Lebenswelt – bleibt das Arthouse-Kino bieder in seiner Nische: Trailer, Flyer, eins, zwei, drei.

Ohnehin braucht es eine mutige Vermischung der Künste. Konkret auf den Film bezogen bedeutet das, mehr Spiel statt Kanon, über alle Grenzen von U und E hinweg. Wer hat eigentlich diese sehr strenge Trennung von Kinopalast, Theater und Museum eingeführt?

Statt Stummfilmen mit Klavierbegleitung braucht es ein Tanzen in Tanzszenen, ein Knutschen in Filmküssen oder eine Stadtführung durch die Filmbilder einer Stadt. Am Horizont droht dabei natürlich das Urheberrecht. Ich ahne es. Die Verleiher räuspern sich auch schon im Hintergrund. Um einen derartig freien und revoltierenden Umgang mit dem unerschöpflichen Archiv an Bildern zu verwirklichen, eine DJ-Kultur als filmischer Eroberung der Lebensräume, müssen Reformen her. Das ist völlig klar. Ich bin davon überzeugt, dass wir die Filmkultur nur retten, wenn wir die Filme aus dem Kino befreien, und die Menschen wieder entdecken, dass diese Bilder ihre Welt bedeuten können.


Weg mit der selbstgenügsamen Bürgerlichkeit

Zunächst aber gilt es, die furchtbar bürgerliche Haltung gegenüber dem Kino abzulegen. Filmkultur will immer auch Hochkultur sein und schreckt damit ab. Einen Großteil der Menschen kümmert es aber nicht, welche Erfahrungen die Cineasten bei der letzten Tarkowski-Retrospektive gemacht haben. Damit wir uns nicht falsch verstehen: Ich liebe die Filme des russischen Regisseurs. Das Publikum aber muss sein eigenes Kino erfinden: eigene Heldinnen entdecken und den Godard-Jüngern die Deutungshoheit entziehen. Kino ist jetzt. Heute. Es verändert sich.

Auch sollte man sich von diesem grässlichen Begriff „Filmvermittlung“ verabschieden. Das klingt nach Schule und Lehrplan. Auch schon deshalb, weil es durchaus pädagogische Konzepte gibt, in denen der Inhalt des Films, der filmische Wert, erst in der gemeinsamen Auseinandersetzung entsteht. Das Gemeinsame muss sozusagen erst entdeckt werden. Oder noch anders gewendet: Es gilt, Filmkultur neu zu erfinden und nicht zu musealisieren, damit sie nicht bloß bei den Eingeweihten und Wissenden bleibt, wo man sie verwalten und dozieren und allen die Welt erklären kann.

Raus aus der Behaglichkeit: "Die Känguru-Chroniken" (X-Verleih)
Raus aus der Behaglichkeit: "Die Känguru-Chroniken" (© X-Verleih)

Das Kino muss nicht erklärt werden. Seine Bilder müssen vielmehr wieder mit Leben gefüllt werden. Aus sich heraus hat das Kino keine Magie. Erst wenn sich die Filmbilder wieder mit dem Alltag der Menschen verbinden, wird Film seine fantastischen Funken schlagen. Wir alle, die wir in dieser Branche arbeiten, müssen nicht dafür sorgen, dass Menschen wieder ins Kino gehen; wir müssen vielmehr den Film zu den Menschen bringen, indem wir Räume der Erfahrung eröffnen. Vielleicht kann so eine neue Kinokultur entstehen. Darauf sollte alle Konzentration gerichtet werden.

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