© Tobis (aus „Paris, Texas“)

Im Kino des Lebens

Die Begegnung mit bestimmten Filmen und Filmszenen prägt Menschen fürs Leben und beeinflusst ihren eigenen Werdegang. Über das essayistische Filmbuch „Im Kino des Lebens“ von Otto Teischel

Veröffentlicht am
23. Juni 2024
Diskussion

Die Begegnung mit bestimmten Filmen und Filmszenen prägt Menschen fürs Leben und beeinflusst ihren eigenen Werdegang. Das ist die These des Psychotherapeuten Otto Teischel, die er in seinem essayistischen Filmbuch „Im Kino des Lebens“ mit Blick auf seine persönlichen Erfahrungen ausbreitet. Seine Schilderung des Kinos als kollektiver Sehnsuchtsort hat manchen Reiz, verfällt an manchen Stellen aber weniger haltbaren Behauptungen.


Vielleicht ist es so: Kinder leben im Augenblick, Jugendliche entdecken die Zukunft, und je älter wir werden, desto mehr richtet sich der Blick zurück und wir beginnen unser Leben als Geschichte zu erzählen. Glücklich wird, wer das gut genug kann, um es selbst zu glauben.

Auf der vorletzten Seite seines essayistischen Filmbuches „Im Kino des Lebens“ konstatiert Otto Teischel, dass jeder Mensch letztlich „Regisseur und Zuschauer seines eigenen Lebensfilms“ sei. Retrospektiv ergibt alles Sinn. Schließlich hat es uns dahin geführt, wo wir sind. Jede Begegnung ist damit potenziell schicksalhaft. Jedes Erlebnis: ein möglicher Meilenstein. Bei Teischel sind es Begegnungen in Kinosälen und Filmerlebnisse, die er zu richtungsweisenden Wendepunkten auf dem Weg zu seiner eigenen Selbstfindung (v)erklärt. In seinem Buch versucht er, seine Erfahrungen als Kinogänger mit seinem persönlichen Werdegang zu verweben, indem er offenlegt, wie einzelne Filme ihn ergriffen und beeinflusst haben. Mitunter beschreibt er das so eindringlich, als flackerte da zwischen den Szenen von „Frühstück bei Tiffany“, den Einstellungen von „Paris, Texas“ oder den Panoramen in „Jenseits von Afrika“ ein geheimer, nur für ihn sichtbarer Code, der da lautete: „Du musst dein Leben ändern!“


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Die ewige Wiederkehr des Schönen

Allerdings verharrt der Autor oft gerade dann, wenn es persönlich wird, an der Oberfläche: eine Beziehung, die sich als Sackgasse erweist; ein dominanter Vater. Derartige biografische Bruchstücke genügen allerdings kaum, die subjektiv befreiende, emanzipatorische Wirkung eines Kinoerlebnisses glaubhaft zu vermitteln. Teischels persönliches Drehbuch wirkt allzu konstruiert; immer wieder muss ein Erweckungserlebnis oder ein Plot-Twist her. Oft flüchtet Teischel vor sich selbst ins Allgemeinmenschliche. Im essayistischen „Glaubensbekenntnis“ über „die ewige Wiederkehr des Schönen“, in das das Buch im letzten Kapitel mündet, ist dann vor allem von „wir“ und „uns“ und „jedem“ die Rede.

Im Kino des Lebens (© Büchner Verlag)
Im Kino des Lebens (© Büchner Verlag)

Als Psychotherapeut arbeitet Teischel mit dem Medium Film, dem individuellen und – im Kinogespräch – insbesondere auch dem gemeinschaftlichen Filmerleben. Das Persönliche, von dem er erzählt, ist womöglich also exemplarisch gemeint. Das etwas mutlose Verklären dient ihm als rudimentäres Stilmittel im Sinne von Theodor Fontane, um sich dem individuellen Staunen, das sich, wie er glaubt, letztlich nicht in Worte fassen lässt, zumindest indirekt anzunähern. Sein Augenmerk richtet sich damit nicht auf die persönliche Kinoerfahrung, sondern auf das Urmenschliche, das Transzendierende oder das Spirituelle beziehungsweise das Göttliche, das sich darin ausdrückt.

Ist Teischel in „Im Kino des Lebens“ also induktiv-instinktiv etwas Erhabenem auf der Spur? Einer Essenz der Kinokunst? Oder zumindest dessen, was er selbst als solche definiert? Die Sehnsucht bildet für Teischel den Kern aller Kunst, gleichermaßen also die Antriebskraft des Kinos wie des Lebens. Wahrhaftige Filmkunst stachle diese Sehnsucht an, indem sie die „schöpferischen Potentiale“ in uns wecke. Filme, die dagegen nur unterhalten und die Sehnsucht „ersatzweise“ befriedigen wollen, bezeichnet er als „unerträgliche Zeitverschwendung und Beleidigung der Menschenwürde“.

Es scheint ein äußerst eingeschränktes und zutiefst romantisches Filmkunstverständnis zu sein, dem Teischel anhängt. Auf der Suche nach dem „Zauberwort“ schwingt auch die dünkelhafte Unterscheidung von U- und E-Kunst als Echo mit.


Vom Sichtbaren zum Seelischen

Das Kino gilt Teischel als Sehnsuchtsort, an dem die Sehnsucht aber nicht gestillt, sondern vielmehr geweckt werden soll oder am besten beides zugleich. Es ist diese Ambivalenz, die ihn fasziniert: sich selbst in den Figuren auf der Leinwand wiederzuerkennen und doch davon zu lösen. Das Wechselspiel aus Nähe und Distanz könnte kaum nachdrücklicher ins Bild gerückt werden als in jener Szene aus „Paris, Texas“, in der Travis über ein Kabinentelefon einer Peepshow mit Jane spricht. Ein tragisch unglückliches Liebespaar, voneinander getrennt durch eine nur von einer Seite aus durchsichtige Spiegelscheibe. Dieses voyeuristische Setting versinnbildlicht für Teischel die Triebfeder cineastischen Sehnens. Hier schwingt es sich vom Sexuellen auf zum Seelischen.

Ist bei der Katersuche jeder „nur halbwegs mitfühlende Kinobesucher den Tränen nahe“? (© Paramount)
Ist bei der Katersuche jeder „nur halbwegs mitfühlende Kinobesucher den Tränen nahe“? (© Paramount)

Teischel traf diese Erkenntnis „im Oktober 1985 mitten ins von Kummer und Verwirrung zerquälte Herz meiner Sehnsucht“. Eine Liebesbeziehung war gescheitert, an der nächsten wuchsen Zweifel. Aber bedurfte es wirklich Wim Wenders, Harry Dean Stanton und Nastassja Kinski, um diese zu schüren? Hätte nicht ein anderer Film zur selben Zeit ähnliches bewirkt, wenn es doch stets eine universelle Sehnsucht ist, die sich im menschlichen Kunstschaffen Bahn bricht?

Voneinander getrennt, jede und jeder für sich, stimmen die in ihrer Einsamkeit verbundenen Menschen in „Magnolia“ an ihren Esstischen, in ihren Ohrensesseln, Krankenbetten und Autositzen nacheinander in den melancholischen Gesang von Aimee Manns „Wise Up“ ein. „Ich träume, also bin ich nicht.“ „Nicht verrückt.“ Ein abgeschnittenes Ohr zwischen den akkurat gestutzten Halmen des grünleuchtenden Vorstadtrasens öffnet in „Blue Velvet“, einem Film, den Teischel ebenso wenig erwähnt wie Paul Thomas Andersons „Magnolia“ oder Jean-Claude Lauzons „Léolo“, die Pforte in eine verborgene Parallelwelt. Im strömenden Regen sucht Holly Golightly in der Schlussszene von „Frühstück bei Tiffany“ ihren ausgesetzten Kater. Eine Szene, bei der, wie Teischel findet, jeder „nur halbwegs mitfühlende Kinobesucher den Tränen nahe ist“. Ist? Oder gefälligst zu sein hat?


Beglückende Erfahrungen im Kinosaal

Die Sehnsucht nach einem kollektiven Erlebnisraum prägt das Buch derart, dass Teischel sich mehrfach zu apodiktischen Feststellungen hinreißen lässt, die kaum alle Lebenswirklichkeiten widerspiegeln können. Im dritten Kapitel berichtet er von Filmgesprächen, die er 2017 in einem Programmkino in Klagenfurt initiierte, am Beispiel der beglückenden Erfahrung des gemeinsamen Austausches über „Arrival“ von Denis Villeneuve. Ein andermal kommt er auf die befreiende Wirkung des gemeinsamen Lachens zu sprechen.

Filme wie „Arrival“ können einen kollektiven Erfahrungsraum herstellen (© Sony)
Filme wie „Arrival“ können einen kollektiven Erfahrungsraum herstellen (© Sony)

Gewiss kann ein Kinosaal jener (gemeinschafts-)sinnstiftende Ort sein, an dem alle miteinander auf ihr Menschsein verwiesen werden. Oder auch nur auf ihre Herkunft. Als Jack Dawson kurz vor Weihnachten 1997 auf der Kinoleinwand einer Einkaufsmall in Madison, Wisconsin, Rose DeWitt Bukater vom Sprung in den Nordatlantik abhielt, indem er ihr vom eiskalten Wasser des Lake Wissota in Wisconsin erzählte, brach im Saal spontan Jubel und Applaus aus. Ein Kinobesuch kann ein Gemeinschaftserlebnis werden. Aber muss er das auch? Teischel war damals in Madison nicht im Publikum. „Titanic“ kommt in seinem Buch nicht vor.

Wie aber könnte uns ein Film berühren, wenn es keine emotionale Schnittmenge zwischen Filmschaffenden und Zuschauenden gäbe? Und doch war mir, zurück vom Wir zum Ich, auf dem Weg aus dem Kino nach draußen und oft noch etwas benommen, im Unterschied zu Teischel ganz und gar nicht nach Gesprächen zumute. Der Film in mir lief noch, jedes Wort darüber hätte bedeutet, ihn zu zerreden.

„Wie Filmkunst uns daran erinnert, wer wir sein könnten“, lautet der verheißungsvolle Untertitel von Teischels Essay, das seine persönliche Perspektive zunehmend generalisiert, den Blickwinkel dabei aber paradoxerweise immer mehr verengt. Das Buch lädt allerdings dazu ein, selbst auf die eigene Kinovergangenheit zurückzublicken. Wie Filmkunst uns daran erinnert, wer wir sein könnten, dürfte am Ende auch viel damit zu tun haben, wer wir jeweils gerade sind oder sein möchten.


Literaturhinweis

Im Kino des Lebens. Wie Filmkunst uns daran erinnert, wer wir sein könnten. Von Otto Teischel. Büchner Verlag, Marburg 2024. 226 Seiten, 30 Euro (als E-Book 25 Euro). Erhältlich in jeder Buchhandlung oder hier.

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