© arsenal institut e.V. ("Sonnensystem" von Thomas Heise)

Himmel und Erde

Thomas Heise und sein neuer Film „Sonnensystem“

Veröffentlicht am
14. Juni 2024
Diskussion

Zum 200. Jahrestag der Unabhängigkeit Lateinamerikas von den spanischen Kolonisatoren wollte das Goethe-Institut einen Film über die Dialektik der Befreiung in Auftrag geben. Das war der Ausgangspunkt von "Sonnensystem" von Thomas Heise.


Die Idee wurde vor drei, vier Jahren geboren. Wie andere Goethe-Institute in Lateinamerika erhielt auch das Haus in Buenos Aires die Chance, Projekte zu realisieren, die mit dem 200. Jahrestag der Unabhängigkeit von den spanischen Kolonisatoren verbunden waren. „Lateinamerika in deutschen Visionen“, lautete der Arbeitstitel, und das Vorhaben kam Gabriela Massuh und Inge Stache gerade recht: Schon lange hatten die beiden Goethe-Mitarbeiterinnen nach einer Möglichkeit gesucht, dem Wechselspiel von Unabhängigkeit und neuen Abhängigkeiten nachzuspüren, soziale Bewegungen in Argentinien zu unterstützen, etwa durch gemeinsame kulturelle Initiativen.

I Stoff dafür gibt es in Argentinien in Hülle und Fülle: das Los der Bergarbeiter, die von multinationalen, meist kanadischen Konzernen ausgebeutet werden; die Enteignung und Vertreibung von Kleinbauern, deren Ackerflächen dem gewinnbringenden Anbau genmanipulierter Sojabohnen dienen; oder die Lebensumstände der indigenen Bevölkerung. Jahrzehntelang wurden die Ureinwohner des Landes aus dem öffentlichen Bewusstsein ausgeklammert, kamen weder in Zeitungen noch im Fernsehen vor. Erst seit einiger Zeit ist eine vorsichtige Änderung der Informationspolitik zu beobachten, doch noch immer weiß ein Großteil der Argentinier nicht, wie und wovon die indigenen Völker leben, wie der Staat, die Großgrundbesitzer und die Konzerne mit ihnen umgehen. In dieser Phase der Überlegungen kam Thomas Heise ins Spiel. Mehrfach zu Gast bei argentinischen Filmfestivals, zuletzt mit seiner Studie „Material“ (2009), wurde er von den Goethe-Frauen angesprochen, ob für ihn ein Projekt zum Thema denkbar sei. Weil Heise in Deutschland schon mehrfach mit Amateurdarstellern an Brecht- und Heiner-Müller-Inszenierungen gearbeitet hatte, war zunächst ein Theaterstück mit einer indigenen Gruppe im Gespräch. Dann entstand der Plan zu einem Film. Auf der Suche nach einem Drehort fiel die Wahl schließlich auf das Volk der Kolla in Tinkunaku.

II Tinkunaku ist eine indigene Gemeinschaft von vier Gemeinden im Norden der Provinz Salta, rund 2000 Kilometer von Buenos Aires entfernt, unweit der bolivianischen Grenze. Die Anfahrt von der Hauptstadt aus dauert mehr als einen Tag; über Salta und Orán geht es zuletzt viereinhalb Stunden auf einer unbefestigten Straße in die Berge. Dabei sind mehrere Flussläufe zu durchqueren, was in der Regenzeit zum Abenteuer werden kann: Fahrgäste müssen aussteigen und durchs Wasser waten, weil das Auto sonst vielleicht stecken bleibt. Touristen verirren sich nicht in diese Gegend, es gibt keine Hotels, keine Pensionen, bestenfalls zwei neu erbaute Schulen, in denen man, nach Anmeldung, mit dem eigenen Schlafsack übernachten kann. Und doch ist die Moderne in manchem Bauernhaus mit einer Satellitenschüssel und in fast allen mit einem DVD-Player präsent: Am liebsten schauen die 1500 Einwohner von Tinkunaku Seifenopern und Folklore, wie überall auf der Welt. Rio Blanquito, der Hauptort, ist ein lang gestrecktes Dorf mit vielen einzelnen Höfen, Hunden, Hühnern, Schafen und Kühen, die auch allein über die Straße in den nahen Wald spazieren. Auf einer Anhöhe mitten im Ort entsteht eine neue Kirche; die alte wurde abgerissen. Die Sekundarschule, in der rund 60 Kinder von der siebten bis zur zwölften Klasse lernen, bietet auch Unterricht über das Handwerk und die Traditionen ihres indigenen Volkes an; das Interesse ist aber eher gering. Im Frühling ziehen einige Bauern mit ihren Familien in das rund dreieinhalbtausend Meter hoch gelegene Santa Cruz, wo sie ein Sommerquartier haben und Felder bestellen. Der Fußmarsch, mit Sack und Pack, ist beschwerlich und dauert länger als einen Tag, aber das Land dort oben ist ebenso frucht- wie unverzichtbar. Und wunderschön: die atemberaubende Landschaft der Yunga und Quechua. In Rio Blanquito und Santa Cruz hat Thomas Heise im August und September 2009 sechs Wochen lang gedreht, vier Wochen im Februar 2010. Zuvor hatte er ohne Kamera recherchiert, einige Bauern und ihre Familien kennen gelernt, sich mit ihnen angefreundet. Und von den widerstreitenden Meinungen erfahren, die es hier zu Gegenwart und Zukunft von Tinkunaku gibt. Der Bürgermeister von Orán, der nächsten größeren Stadt, hat das Volk der Kolla unlängst aufgefordert, sich nicht „vor Veränderungen zu verschließen“ und eine touristische Infrastruktur aufzubauen. Das würde aber bedeuten, das ursprüngliche Leben, das sich hier über Jahrhunderte erhalten hat, aufzugeben oder bestenfalls als Touristenattraktion zu vermarkten: Beides käme einer Gefährdung der indigenen Identität gleich. Der Bürgermeister war, ehe er sein Amt antrat, Rechtsanwalt bei El Tabascal, der größten Zuckerrohrfabrik dieses Gebietes. Seit langem streckt die Monopolfirma ihre Fühler nach dem Land der Kleinbauern aus, bedroht die Lebensweise der Kolla. Wie lange es die kleinen Höfe noch gibt, die nie im Grundbuch eingetragen, sondern von Generation zu Generation weitergereicht wurden, vermag niemand vorherzusagen. Dennoch lag es Heise fern, eine sozialökonomische Reportage zu drehen. Einen Film zu machen, der vorgibt, Strukturen zu beschreiben, von denen er im Grunde wenig weiß, war Heise suspekt. Stattdessen tastete er sich, mit größtmöglicher Zurückhaltung, an das Leben in Tinkunaku heran, beobachtete das Zusammenspiel von Natur und Mensch, Arbeitsvorgänge, Feste, Rituale. Eine Gegenwart, die aus der Ewigkeit zu kommen scheint und schon bald verschwunden sein kann, nur in den Träumen – und im Film – überlebt. Aus den 20 Stunden Material, die am Ende der Dreharbeiten vorlagen, wurden Interviews konsequent ausgeklammert (obwohl Heise welche aufgenommen hatte), weil Worte einen Zustand festschreiben, statt sich auf den Fluss der Dinge einzulassen: „Außerdem haben mir Interviews keinen Erkenntnisgewinn gebracht“, sagte Heise. Warum er den Film „Sonnensystem“ genannt habe, fragte Herminio Cruz, der Präsident der Gemeinde, vor der ersten Aufführung in Rio Blanquito. „Weil es nicht nur um Tinkunaku geht“, antwortete Heise, „sondern um etwas Universelles. Jahreszeiten, Landschaft, Erde. Werden und Vergehen.“

III „Sonnensystem“ beginnt im Morgengrauen, mit einem Sonnenaufgang, einem orangenen Himmel, weißen Wolkenformationen vor strahlendem Blau. Dann kahle Berge und einsame Gehöfte, geschützt vor den Stürmen des Winters: Fenster und Türen sind mit Backsteinen gefüllt. Schließlich ein Gewitter, nach dem der Urwald, die Natur zu neuem Leben erwacht. Erst spät sind auch Menschen zu sehen: die Schöpfungsgeschichte, in filmischen Bildern verdichtet. Heise beobachtet, wie Lehm geformt wird, wie der Bauer Viviano, der zugleich ein begnadeter Sattler ist, das Leder weich klopft: Handwerk, das Zeit und Kraft benötigt. Winter und Sommer, graue und grüne Landschaften, Kirche und Schule; ein Umzug, zu dem die Einwohner ihre traditionellen farbigen Festkleider angelegt haben. Maskenspiele und ein Friedhof im Nebel. Ein Junge, der mit einem Stein Körner zu Mehl klopft; es ist anstrengend, er atmet schwer. Wäsche, die zum Trocknen über einen Zaun gelegt ist. Die Geburt eines Tisches. Der Tod eines Stiers. Der Bergbach, der zu einem reißenden Fluss anschwillt. Das Ameisenvolk, das sich eine eigene Straße angelegt hat, auf der es kleine Blätter und Halme transportiert. Naturbilder von seltener Schönheit und Erhabenheit (Kamera: Robert Nickolaus, Jutta Tränkle, René Frölke, Thomas Heise). Fast so etwas wie das Paradies. Dann eine Fahrt in die Stadt. Das gemeinsame Durchqueren des Wassers; noch hilft einer dem anderen. Die letzten Bilder des Films hat Heise in Buenos Aires gedreht, eine unendlich lange Fahrt entlang der Slums südlich des Hauptbahnhofs. Ein Ghetto, von Gittern und Mauern umgeben, eng, baumlos, überall Berge von Müllsäcken. Dazu das „Lacrymosa“, die Tränen, die bei der Kreuzigung Christi vergossen worden sind. Auch Bewohner von Tinkunaku, vor allem junge Leute, sind auf ihrer Suche nach Arbeit, Wohlstand, Glück womöglich in diesen Slums gelandet. Vielleicht ist es sogar das Schicksal der meisten, die das bodenständige, naturverbundene, aber eben auch bescheidene Leben in den Bergen hinter sich lassen wollten. Sieht so, fragt Heise, die Zukunft der Menschen aus? Vertrieben aus dem Paradies, gestrandet in der Wegwerfgesellschaft? Vergessen die alten Werte, ohne dass neue gefunden wurden: Mobiltelefone und Satellitenschüsseln sind nie in der Lage, die Verbundenheit mit der „Mutter Erde“ und die Solidarität untereinander zu ersetzen. „Sonnensystem“ ist ein universeller, fast biblisch anmutender Film.

IV Zweimal noch möchte Thomas Heise mit der Kamera hierher zurückkehren. Nach etwa sieben Jahren, um zu sehen, wie sich Tinkunaku verändert hat; dann glaubt er, das Spanische auch so weit zu beherrschen, dass die Sprache eine Rolle in seinem Film spielen kann. Noch einmal sieben Jahre später hofft er den jungen Leuten von Tinkunaku die Möglichkeit geben zu können, gemeinsam mit ihm ihren eigenen Film zu drehen: nicht mehr der Blick von „draußen“, den jeder „Fremde“, ob er will oder nicht, mitbringt, sondern der Blick von innen, auf die Schönheiten, Widersprüche und Konflikte des Lebens in den Anden, die Reibungsflächen von Tradition und Moderne. Natürlich wäre Heise dankbar, wenn das Goethe-Institut, mit dessen Vertreterinnen in Buenos Aires er unkompliziert und kameradschaftlich zusammengearbeitet hat, auch die künftigen Projekte in Tinkunaku unterstützt. Für „Sonnensystem“ stellte das Institut rund 20.000 Euro zur Verfügung und organisierte ein Auto, das erst dem Team und jetzt dem Naturpark zur Verfügung steht. Gedreht wurde mit Unterstützung des Filminstituts am Zentrum für Kunst und Medientechnologie Karlsruhe; an der dortigen Hochschule für Gestaltung unterrichtet Heise als Professor; er konnte auf die Technik der Hochschule zurückgreifen und einige seiner Studenten gewinnen, sich aktiv an den Arbeiten zu beteiligen. Löhne wurden nicht gezahlt; auch keine Verträge über Rückstellungen abgeschlossen; bei einem so vagen Budget wäre das auch nicht denkbar gewesen. „Warum machst Du einen Film über uns?“, wollten die Einwohner von Tinkunaku wissen, als Heise mit kleinem Drehstab erstmals in der Gemeinde auftauchte. „In Europa“, antwortete der Regisseur, „reduziert sich die Kenntnis von Argentinien auf Buenos Aires, den Tango, Maradona und Evita. Keiner kennt Tinkunaku. Durch den Film wird man von Eurem Alltag erfahren, von Eurer Arbeit, den Landschaften, Eurem Handwerk.“ Nach der öffentlichen Aufführung auf dem Marktplatz in Rio Blanquito, auf großer Leinwand, für die meisten Einwohner das erste Kinoerlebnis überhaupt, war es zunächst ganz still. Dann gab es Beifall und viele Fragen, die Gott und die Welt berührten. Das Bleibende und das, was verschwindet. Genau so, wie es sich Thomas Heise gewünscht hatte.


Hinweis

„Sonnensystem” läuft im April auf den Filmfestivals in Nyon und Buenos Aires. Die Volksbühne Berlin präsentiert den Film am 31. März um 20 Uhr in einer Voraufführung.


Buchtipp

Thomas Heise, Spuren.

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