Der plötzliche Tod des Filmemachers Thomas Heise am 29. Mai hat Bestürzung auslöst. In seinen Filmen begegnete man Außenseitern und Theaterleuten, Stasi-Mitarbeitern und Rechtsradikalen, ohne dass diese je auf solche Zuschreibungen reduziert worden wären. Sie erschienen als Individuen voller Widersprüche, mit komplexen Biografien und Lebenswünschen quer zur Wirklichkeit. Doch statt Porträts präsentierte Heise lieber assoziative Annäherungen, die das Fragmentarische nicht leugneten und stets etwas Materialhaftes an sich hatten.
Die Nachricht, dass der Dokumentarfilm- und Theaterregisseur Thomas Heise am 29. Mai im Alter von 68 Jahren gestorben ist, löste Bestürzung aus. Manche hatten ihn noch, so ihr Eindruck, vor einigen Wochen gesehen, mit ihm gesprochen oder mit ihm auf einem Podium gesessen. Die Bestürzung hatte aber nicht nur mit dem Schock zu tun, den im Grunde fast jede Nachricht vom Tod auslöst. Sondern auch damit, dass alle insgeheim wussten, dass es jemanden wie Thomas Heise nicht mehr geben wird.
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Thomas
Heise (22.8.1955-29.5.2024) war ein Intellektueller in der Tradition von Bert
Brecht und Heiner Müller, bei dem er Unterschlupf fand, nachdem er in seinem
Studium an der HFF Potsdam-Babelsberg so behindert und drangsaliert wurde, dass
er auf seinen Studienplatz verzichtete. Die Filme, die er während des Studiums
und auch später im Auftrag der „Staatlichen Filmdokumentation“ drehte, wurden
verboten oder waren – wie es der Sprache der DDR-Bürokraten hieß – „nicht für öffentliche
Vorführungen vorgesehen“. Heise hat sie nach dem Zusammenbruch der DDR nach und
nach herausgebracht, etwa „Das Haus“ (1984) über die Arbeit einer Ost-Berliner
Stadtverwaltung oder „Volkspolizei“ (1995) über ein Polizeirevier in der
Ostberliner Brunnenstraße.
Die Geschichte seiner Projekte inklusive ihrer Be- und Verhinderung hat er im Materialienband „Spuren. Eine Archäologie der realen Existenz“ (2010) festgehalten. Dieser Band enthält auch Kopien der Akten, die von der Stasi über ihn angelegt worden waren. Heise kommentiert im Buch diese Akten nicht. Sie sind für ihn nicht Dokumente einer Leidensgeschichte. Dass er von der Stasi permanent beobachtet wurde, sagte er in einem Gespräch mit Saskia Walker für die Zeitschrift „Revolver“, habe er ja nicht mitbekommen. Sie dienen eher als Material zum Studium der Verhältnisse, wie sie in der DDR in den 1980er-Jahren herrschten.
Bar jeder dokumentarischen Mode
1992 sorgte sein Film „STAU - Jetzt geht es los“ für große Aufmerksamkeit, weil Heise hier eine Gruppe von Jugendlichen in Halle an der Saale beobachtet, die aus ihrem Rechtsradikalismus kein Hehl machten. Während manche den Film ablehnten, da Heise sich im Film jeglicher Stellungnahme verweigert, lobten ihn andere dafür, dass er filmisch aufmerksam die Lebensverhältnisse registrierte, in der Hass auf Ausländer und Andersdenkende sowie ein gewisser Stolz auf die eigene Nation erwuchs. Es ist ein Milieu, dem die Terrorgruppe NSU entstammte: „Nicht dieselben Menschen, aber dieselbe Generation, dasselbe Alter und auch dieselbe – sage ich jetzt mal – Unbehaustheit spielt da eine Rolle“, sagte Heise 2012 in dem Gespräch mit Saskia Walker.
An
„STAU – Jetzt geht es los“ kann man studieren, auf was der Regisseur alles verzichtete
– auf eigene Erklärungen und Einordnungen, auf eine emotionale Einstimmung, auf
einen narrativen Aufbau. Heises Filme sind bar jeder dokumentarischen Mode.
Stattdessen konzentriert er sich auf die Beobachtungen von Gesellschaft, die er
zunächst in Ansichtstotalen von Industrielandschaften, Abrissarealen, Baustellen,
Wohnhaussiedlungen und Verkehrsknoten findet, und auf die Begegnung mit
Menschen vor der Kamera.
In seinen Filmen begegnet man vielen, die man in anderen deutschen Dokumentarfilmen nie sieht: rechtsradikalen Jugendlichen, Heiminsassen, Strafgefangenen, Stasi-Mitarbeitern, Angestellten einer Behörde, Arbeiterinnen in einem Imbiss oder aber auch Theaterautoren und -regisseuren wie Heiner Müller oder Fritz Marquardt. Aber sie werden in den Filmen nie auf diese Zuschreibungen reduziert. In Heises Filmen erscheinen sie immer als Individuen voller Widersprüche, deren Lebenswünsche oft quer zur Wirklichkeit verlaufen, und meist komplexen Biografien.
Die Begegnungen mit ihnen, aus denen später, mitunter sogar viel später Filme wurden, seien eher zufällig, sagte er selbst einmal. Beim Drehen entstünden dann intensive Beziehungen; er selbst sprach sogar davon, dass „ein Dreh eine Liebesgeschichte“ sei, die sich am Schneidetisch dann objektivierte. Eine Folge dieser Objektivierung ist eine gewisse Distanz zu denen, die der Film beobachtete und mit denen der Regisseur vor der Kamera sprach. Das hat eine gewisse Härte an sich; eine Härte, die der Filmemacher auch gegen sich selbst richtet. Als sich beim Film „STAU“ der Kameramann Sebastian Richter weigerte, die rechtsradikalen Jugendlichen beim Besuch einer KZ-Gedenkstätte zu drehen und stattdessen außerhalb des Geländes auf sie wartete, fand das Heise das damals falsch, um es später als eine richtige „Haltung“ anzuerkennen.
Alles bleibt Material
Das gedrehte Material, für das Kameramänner wie Richter, Peter Badel und Börries Weiffenbach verantwortlich waren, gewinnt in der Montage durch Heise oft etwas Fragmentarisches. Es bleibt sichtbar Material, das deutlich in einen Kontext gestellt wird, ohne dass dieser unbedingt explizit würde. Das Material selbst ist oft bereits das Ergebnis einer Reduktion; viele Filme wurden in Schwarz-weiß-Fassungen öffentlich, selbst wenn sie auf Farbmaterial gedreht wurden. Im Schnitt basieren dann Entscheidungen, welche Einstellung in einem fertigen Film wo ihren oft langen Platz findet, und was auf sie folgt, mehr auf Assoziationen als auf einer aus dem Inhalt resultierenden Logik oder auf einem narrativen Schema. Gerade in der Montage seiner Filme spürt man den Einfluss von Heiner Müller, dessen späte Theaterstücke ja auch durch Brüche und Materialkollisionen bestimmt sind. Ein ästhetisches Verfahren, das bei Zuschauern oft genug eigene Gedanken anstoßen und Assoziationen freisetzen.
Bei der Wahl seiner Stoffe kehrte Thomas Heise immer wieder zu bestimmten Themen und Personen zurück; so fand etwa der Film „STAU“ zwei Fortsetzungen: „Neustadt Stau – Der Stand der Dinge“ (2000) und „Kinder. Wie die Zeit vergeht“ (2007). In „Barluschke“ (1997) und in „Mein Bruder – We Will Meet Again“ (2005) geht es auch um Menschen, die mit der Stasi zugearbeitet haben. In „Material“ (2009) rekonstruiert er die eigene Filmgeschichte nebst der abgebrochenen und der verbotenen Projekte, während er in „Heimat ist ein Raum aus Zeit“ (2019) mit Briefen und Fotos aus der eigenen Familie von der Gewaltgeschichte des 20. Jahrhundert erzählt. Gerade dieser Film führte die Kraft der geschichtlichen Analyse wie auch Heises Assoziationsmontage eindringlich vor. „Heimat ist ein Raum aus Zeit“ ist wie einige andere von Heises Filme in der Mediathek der Bundeszentrale für politische Bildung zugänglich.
Offen sein, offen bleiben
Thomas Heise, der sich in öffentlichen Gesprächen nicht auf einen Begriff bringen oder auf eine bestimmte Position verpflichten lassen wollte, wird als politischer Kopf – auch in der Auseinandersetzung um die Zukunft der audiovisuellen Medien –, als radikaler Dokumentarist und als ein Filmemacher des historischen Zusammenhangs fehlen.