In den Filmen des türkischen Regisseurs Nuri Bilge Ceylan bleibt vieles unausgesprochen, auch wenn die Figuren oft endlos miteinander diskutieren. Der Filmemacher geht in der Tradition Tschechows wie Tarkowskis auf die Suche nach einem Sinn der Welt, deckt die Lächerlichkeit des Seins auf und blickt doch immer auch zärtlich auf die Menschen in all ihren Schwächen. Sein jüngster Film „Auf trockenen Gräsern“ zeugt von seiner mittlerweile erreichten Meisterschaft, mit der er ebenso plastisch wie allegorisch zu erzählen versteht. Ein Porträt.
„Der Film, in dem scheinbar nichts passiert, aber in dem eigentlich alles passiert, das ist meine Art Film.“
(Nuri Bilge Ceylan)
Der türkische Filmemacher Nuri Bilge Ceylan stammt aus Çanakkale in der Marmararegion im Nordwesten des Landes. Er wurde dort im Januar 1959 geboren. Wahrscheinlich hat es geschneit, anders ist nicht zu erklären, warum er den Schnee filmt wie kaum ein anderer. Fallender Schnee vor den Fenstern, in weiße Unwirklichkeit getauchte Landschaften, sich in Haaren verheddernde Flocken. Dieser Schnee aber ist mehr als Schnee. Er wandelt sich zu einem Stimmungsbild, gar zur Metapher. Nie verfestigen sich solche Zuschreibungen, sie liegen letztlich im Auge der Betrachtenden. In diesen Filmen wackelt der Boden unter den Füßen der Wahrheit.
Das könnte Sie auch interessieren:
- Zwischen den Zeilen: Ein Gespräch mit dem türkischen Filmemacher Semih Kaplanoglu
- Spiegel der Türkei: Die Netflix-Serie „Bir Başkadır“
Im Stadtzentrum Çanakkales nahe der Küste findet sich heute das riesengroße Holzpferd aus Wolfgang Petersens „Troja“. Es ist eine klobige Touristenattraktion nahe der ehemaligen Stätte der historischen Stadt, die Homer zu seinem literarischen Urtext inspirierte und deren Existenz einst vom skrupellosen und umstrittenen deutschen Archäologen Heinrich Schliemann nachgewiesen wurde. Die Filmproduktion vermachte dieses Requisit der türkischen Regierung. In seinem „The Wild Pear Tree“ zeigt Ceylan das hölzerne Ungetüm nicht nur, sein Protagonist Sinan, ein angehender Schriftsteller, versteckt sich in einem Albtraum darin. Eine irgendwie merkwürdige Szene ist das, in der viel von Ceylans Kino sichtbar wird.
Sehende mit blinden Flecken
Denn Sinan ist, wie so viele der an der Welt krankenden Männer in Ceylans Filmen, zunächst einmal ein heimlich Schauender, ein Eingeschlichener, ein Beobachter. Er betrachtet seine Umgebung, seine Familie, die Werte der Gesellschaft, die Landschaft, die Stadt, und durch ihn sehen auch wir. Kein Zufall, dass andere Protagonisten bei Ceylan Fotografen (wie er selbst vor seiner Filmkarriere) oder Filmemacher sind. Gleichzeitig sehen wir aber auch den, der sieht, und wir sehen, dass sein Sehen nicht unschuldig ist. Auch die Sehenden haben ihre blinden Flecken. Daraus entsteht Ambiguität und ein Verständnis darüber, dass es keine einfachen Wahrheiten gibt.
Ein Beispiel: Im Film verdächtigt Sinan seinen Vater der Spielsucht. Einmal glaubt er ihn zu erwischen. Es stellt sich aber heraus, dass der Vater nur eine Zeichnung seines verloren gegangenen, tatsächlich von Sinan weggebrachten Hundes anfertigte. Das ändert nichts daran, dass der Vater trotzdem spielsüchtig ist. Aber die Dinge sind eben nicht so einfach. Man kann nicht alles sehen, auch wenn man alles sehen kann. So ist das immer in den bislang neun Spielfilmen des besonders in Cannes über die Jahre mit Preisen überschütteten Filmemachers. Er selbst hat einmal gesagt, dass er das Kino als eine Möglichkeit kennengelernt hätte, die eigenen Abgründe zu zeigen. Gemeint sein dürften der Egoismus, die Heuchelei, der Zorn, die Gier und die Misanthropie, die viele seiner Figuren beherrscht. Aber es ist eben nur die halbe Wahrheit. Denn in den Filmen gibt es auch eine Idee des Guten, es gibt Humor und plötzliche Wärme, wie am Ende des Films, wenn Sinan erkennt, dass sein Vater ihn wirklich liebt. Dann registriert die Kamera ein Flackern in den Augen, eine Sehnsucht oder eine Träne.
Was so oder so deutlich wird: Wie schwer es fällt, über das zu sprechen, was eigentlich bewegt. Immer wieder nutzt Ceylan fulminante Nahaufnahmen, um in Gesichtern nach den Gefühlen zu suchen, die nicht in Sprache verwandelt werden. Die Erkenntnis aus seinen Filmen ist ernüchternd: Kaum wer handelt nach dem, was sie oder ihn eigentlich bewegt. Alle verstecken sich in Scham und verborgener Wut, Verdrängung und Ohnmacht.
Landschaften, konkret und abstrakt
Als Petersens „Troja“ in die Kinos kam, feiert Ceylan, der mit der in den 1970er-Jahren florierenden Filmkultur in der Türkei aufgewachsen ist, gerade seinen ersten internationalen Durchbruch mit „Uzak – Weit“. Der zweite folgte einige Jahre später mit „Once Upon a Time in Anatolia“, einer in Anton Tschechow getränkten, absurden Moralstudie, in der ein Verbrechen begangen und mehr oder weniger aufgeklärt wurde, der Tatort aber in den endlosen Steppen Anatoliens nicht mehr auffindbar scheint. Wie in all seinen Filmen spielt die Landschaft eine Hauptrolle. Sie changiert zwischen konkreter Präsenz und abstrakter Metapher. Einmal glaubt man, sie wäre ein Seelenbild der Figuren, dann wieder widerspricht sie der dramaturgischen Wirklichkeit.
Das gilt in „Once Upon a Time in Anatolia“ auch für die Szene, die einen in einen Bach rollenden Apfel zeigt. Der kubanisch-amerikanische Filmwissenschaftler Gilberto Perez sah in dieser Szene den Inbegriff einer filmischen Metapher, indem er die Äpfel als mögliche Wirklichkeiten deutete, die irgendwann nicht mehr voneinander zu unterscheiden wären und alle ihren eigenen Weg im Bach folgten. Andererseits fallen Äpfel nun mal von Bäumen und kullern über die Erde. Es ist etwas, das geschieht, ganz lakonisch registriert wird und womöglich nichts bedeutet.
Das liebste Bild Ceylans zeigt einsame Männer in einer Landschaft, so auch in „Uzak“. Machtlos erstarren die Körper vor dem überwältigenden Gelände. Ceylan zeigt Menschen als Produkt ihrer Umgebung. In seinen frühen Filmen suchen diese Männer nach Orten, an denen sie sein können und bleiben dürfen. Oft finden sie diese nicht, mäandern stattdessen in wortlosen Sequenzen über unwegsame Pfade. Der Ort, an dem sie sind, wird immer zum Gefängnis. Vieles in seinen Filmen scheint bedeckt vom hüzün, dem kollektiven türkischen Gefühl einer Schwermut, die die Wirklichkeit in eine Schwärze hüllt.
Was die Männer suchen, ist ein Sinn, da bleibt Ceylan ein Existenzialist, der sich nie gescheut hat, in die Fußstapfen der großen modernistischen Filmemacher wie Antonioni, Bergman oder Tarkowski zu treten. Ceylan ist sich der Fallstricke solcher Vergleiche durchaus bewusst, das zeigt sich bereits in „Uzak“, in dem ein Mann Tarkowskis „Stalker“ ansieht, um den anderen zum Einschlafen zu bringen, nur um sogleich weiter Pornos anschauen zu können. Was wie ein selbstreferentieller Scherz daherkommt, offenbart gleichzeitig die für Ceylan entscheidende Lächerlichkeit des Seins. Einmal hat er das Kino mit dem Sitzen im Café verglichen. Man beobachte und frage sich, was da wohl vorgeht in den Menschen am anderen Tisch.
Gegen die eindeutige Haltung
Geschult ist dieser Blick auf die Welt an der russischen Literatur, Ceylan selbst erzählt gern, wie er als junger Mann auf Dostojewski und Tschechow stieß und überrascht war, wie viel deren Figuren mit ihm gemein hätten. Die von ihm gezeigte Absurdität zielt immer zugleich auf die türkische Mentalität wie auf einen Universalismus. Ein politischer Filmemacher ist er nicht, es sei denn zwischen den Zeilen. Die Militärfahrzeuge, die in seinem jüngsten Werk „Auf trockenen Gräsern“ durchs Bild fahren, bleiben ein Ereignis am Rand des Geschehens. Eine eindeutige Haltung einzunehmen, dagegen kämpfen die Filme Ceylans wie nicht zuletzt sein letzter Film, der sich um einen womöglich übergriffigen Akt eines Lehrers an seiner Schülerin dreht. Statt eine Perspektive zu zeigen, interessiert sich der Filmemacher für die Gleichzeitigkeit verschiedener Blickwinkel.
Was dieses Kino leistet: Es erinnert daran, was Menschlichkeit eigentlich heißt. Nicht die gutgemeinten Gesten, die hehren Ideale, sondern die Schwächen und Widersprüche sind es, die den Mensch zum Menschen machen. Ein bestimmter, von Jean Renoir oder dem Neorealismus ausgehender Strang des humanistischen Kinos hat diese Idee beiseitegelegt. In diesen Filmen lernt man, das Gute im Menschen zu sehen. Dagegen gibt es nichts zu sagen. Bei Ceylan aber lernt man, dass man den Menschen nicht verklären kann. Ihn zu lieben, ist keine Sache des Auslassens, man liebt ihn trotz seiner Makel. In seinen schlechtesten Momenten wird Ceylan apologetisch, in der Regel aber ist er ein Realist, der den Zuschauern ihr Urteil überlässt.
Das mit den aufeinandertreffenden Blickwinkeln gilt auch für seine inzwischen die Filme dominierenden Dialoge, große, fast literarisch-philosophische Auseinandersetzungen über den Sinn der Welt. Was ist die Rolle des Islam in der modernen Gesellschaft? Wie geht man damit um, wenn man Gefühle hat, die das eigene Leben bedrohen? Was ist Gerechtigkeit? Die Fragen sind nicht klein. Zum ersten Mal wagte sich Ceylan, der bis dahin eher für wortkarges Bilderkino stand, in ein sprachlastiges Kammerspiel mit seinem „Winterschlaf“. In dieser freien Adaption von Tschechows Erzählung „Meine Frau“ zeigt er anhand eines sich von der Welt abwendenden Mannes, der ein Hotel in der von Erosion und Schnee heimgesuchten Landschaft Kappadokiens leitet, wie sich Zwischenmenschlichkeit, Geld und Kunst zu einem undurchdringbaren Gestöber verdichten, aus dem niemand wirklich entkommt. Wer Trost sucht, ist hier falsch, und doch lässt sich aus den scharfen Beobachtungen menschlicher (bei Ceylan vor allem männlicher) Regungen etwas ableiten, was Ceylans Landsmann, der Schriftsteller Orhan Pamuk, einmal so beschrieb: „Man handelt, weil man glaubt, dass irgendwer in der Welt das gleiche fühlt wie man selbst.“
Bereitschaft zur filmischen Selbstentblößung
Oft wurden Ceylans Filme als autobiografisch verstanden, das gilt vor allem für seine frühen Arbeiten, in denen er seine Familienmitglieder, seine eigene Wohnung oder sein Auto filmte. In seinem zwischen Feldern und Bäumen gedrehten „Bedrängnis im Mai“ thematisiert er seine eigene Arbeit an „Die Stadt“. Die Verbindungen über die Filme hinweg erinnern an etwas aus der Mode gefallene Gesten von sich selbst eingenommener Filmautoren, in ihnen verrät sich letztlich aber vor allem eine radikale Bereitschaft zur filmischen Selbstentblößung. Die männlichen Figuren dienten als Alter Ego Ceylans, so war das auch bei Mehmet Emin Toprak, der in „Uzak“ versucht, in Istanbul Fuß zu fassen. Der Schauspieler verstarb mit nur 28 Jahren bei einem Autounfall. Das führte dazu, dass Ceylan in seinem nächsten und vielleicht besten Film, „Jahreszeiten– İklimler“, selbst die Hauptrolle übernahm, seine Partnerin und Drehbuchautorin Ebru Ceylan spielt im Film seine Freundin. In einer unvergesslichen Szene in der Hitze eines Strandes, man sieht jeden Schweißtropfen in den hochauflösenden Bildern, geht die Frau ins Meer, der Mann bleibt am Strand zurück. Er beginnt zu sprechen, übt die Worte ein, mit denen er sich von ihr trennen will. Er wiederholt und wiederholt. Plötzlich ein Schnitt und man merkt, dass die Frau nun neben ihm sitzt. Ist es die Hitze oder ein Traum oder ein Zeitsprung? Die Wahrnehmung wird unter den Füßen weggezogen, alles bleibt so unwirklich, dass man jederzeit merkt, dass es eine Konstruktion ist. Das mit den verschiedenen Blickwinkeln meint nicht nur seine Figuren, es schließt auch den Blick der Kamera ein.
Das Wetter in „Jahreszeiten“ ist so wichtig wie die Motivationen der Charaktere. Vielleicht mit Ausnahme von Joris Ivens’ Filmen über den Regen oder den Wind hat kaum jemand so eindrücklich gezeigt, wie abhängig Menschen vom Wetter sind. Diese Aufmerksamkeit für Wind und Schnee, Hitze und Schwüle erinnert nicht zuletzt an „Yol - Der Weg“ von Yılmaz Güney und Şerif Gören, dem Urfilm des modernen türkischen Kinos aus dem Jahr 1982. Darin wird von einigen kurdischen und türkischen Strafgefangenen erzählt, die im Hafturlaub eine sich verändernde Welt kennenlernen. Besonders eindrücklich bleibt auch hier eine Sequenz im Schneetreiben, in der sich die ganze Unwirtlichkeit eines Systems und einer Landschaft versinnbildlichen. Der Film wurde im Verborgenen gedreht, Güney flüchtete in die Schweiz, um ihn fertigzustellen, bevor er die „Goldene Palme“ in Cannes gewann. Nach dem Militärputsch 1980 fiel das Kino des Landes in eine Krise. 1966 wurden noch 239 türkische Filme in einem Jahr produziert, auch dank des Yeşilçam, des türkischen Mainstreamfilms, der nach der Straße Yeşilçam Sokağı in Istanbul benannt wurde, in der sich das Zentrum des Studiosystems befand. Anfang der 1990er-Jahre waren es nur noch elf türkische Filme. Güney, ein kurdischstämmiger Dissident, der wegen eines Mordes im Gefängnis saß, schrieb das Drehbuch in der Haft. Ceylan, der sich mit politischen Äußerungen sehr zurückhält, äußerte in Cannes einmal seine Sympathie für diesen Filmemacher, ansonsten hält er sich aus politischen Themen heraus.
In gewisser Weise ist Ceylan ein Kind der ab den späten 1990er-Jahren entstehenden Szene unabhängiger Filmemacher in der Türkei. Namen wie Derviş Zaim („Salto in den Sarg“), Reha Erdem („My Only Sunshine“), Zeki Demirkubuz („Kader-– Schicksal“) oder Semih Kaplanoğlu mit seiner „Yusuf“-Trilogie entwickelten neue, zunächst kleinere Mittel, um persönliche Filme zu realisieren. Das türkische Kino, hierzulande vor allem in ideologisch fragwürdigen oder albernen Blockbustern vertreten und sich als für den deutschen Kulturdiskurs beinahe unsichtbare Präsenz im Kinoalltag bewegend, spaltet sich heute in eskapistischen Mainstream, Migrationskino und Autoren wie Ceylan.
Lächerliche Männer im Zentrum und Frauen am Rand
Inzwischen dreht Ceylan Filme, die man abschätzig als Euro-Pudding bezeichnet, das Geld kommt von überall. Es überrascht nicht, dass diese Filmemacher fast alle männlich sind, das kann man schon an den Filmen Ceylans ablesen, in denen Frauen meist sehr untergeordnete, beinahe ins Symbolische gewandte Figuren spielen. Sie existieren auf verblassenden Fotografien wie in „Once Upon a Time in Anatolia“ oder als Stimme auf Anrufbeantwortern in „Uzak“. Meist werfen sie den Männern vielsagende Blicke zu und ihnen wird eine zerstörerische, fast magische Kraft zugeschrieben. Das heißt keineswegs, dass Ceylan Männer überhöht, ganz im Gegenteil. Sein Kino stellt patriarchale Allmachtsfantasien in ihrer impotenten Lächerlichkeit bloß. Es ist trotzdem so, dass das zeitgenössische Autorenkino nach wie vor deutlich besser darin ist, die Lächerlichkeit des Mannes als überhaupt eine Frau darzustellen. In „Auf trockenen Gräsern“ gibt es zumindest den Versuch mit der aktivistisch tätigen, verbitterten Figur Nuray.
In Hinblick auf den Autounfall Mehmet Emin Topraks überrascht es wenig, dass Ceylan just einen solchen, tödlichen Unfall an den Beginn seines fast expressionistisch anmutenden „Drei Affen“ stellt. In dieser sich um Macht und niederträchtiges Begehren drehenden Dreiecksgeschichte reizt der Filmemacher sämtliche Mittel der Farbkorrektur aus und entwirft kontrastreiche Höllenbilder, in denen die Ringe unter den Augen mit den Wolken am Horizont korrelieren. Das Melodramatische dominiert hier, lässt die Abgründe deutlicher zu Tage treten als in den späteren, subtil humorvolleren Arbeiten.
Dass Ceylans Fotoarbeiten an der überscharfen, glattgebügelten Wucht und Werbeästhetik von „National Geographic“ orientiert sind, lässt sich manchmal auch in den Filmen nicht verbergen. Für einen Filmemacher, der davon berichtet, wie undeutlich man eigentlich sehen kann, erscheinen die Bilder zu hochglänzend, man traut den Augen kaum. Wie handwerklich souverän er andererseits inzwischen mit seinen technischen Mitteln umgeht, steht außer Frage. Ein langer Spaziergang in „The Wild Pear Tree“ mitsamt einiger Aufnahmen von Drohnen beweist das eindrucksvoll. Die Kamera ist immer dort, wo sich etwas erkennen lässt, sie ist aber auch stets dort, wo sie sich selbst gewahr wird als Maschine der Wahrheitsfindung und Lüge zugleich. Die Kamera Ceylans ist ein bisschen wie das trojanische Pferd der „Iliás“. Sie ist dort, wo sie sonst nicht sein dürfte, registriert, um die Menschen genau dann zu sehen, wenn sie am zerbrechlichsten sind.
Was das Unerklärliche aus uns macht
Bei einer solch beeindruckenden und überwältigenden Filmographie findet man den Kern des Schaffens oft in einem frühen Film. In „Die Stadt“ von Ceylan gibt es einen Jungen, der an einem Waldrand mit einer Schildkröte spielt. Aus einer Laune heraus entscheidet er sich, die Schildkröte auf deren Rücken zu legen. Dann haut er ab. Die Kamera verweilt noch ein wenig beim zappelnden, hilflosen Tier. Später dann bekommt der Junge es mit dem Gewissen zu tun. Er begreift, dass er einen Fehler gemacht hat, möchte den aber nicht gestehen. Er schämt sich für sein Verbrechen. Das erinnert fast an die biblische Paradieserzählung, nur dass die Versuchung bei Ceylan mehr mit Albert Camus’ „Der Fremde“ und dem wie beiläufig oder zufällig entstehenden Mord an einem Araber am Strand zu tun hat als mit einer Schlange. Diese Launen, dieses Unerklärliche und wie es uns beschäftigt und verwandelt, steht im Herzen der Filme von Ceylan. Manchmal betrifft es eine Untat, manchmal die Entdeckung einer Schönheit oder Zärtlichkeit, nie aber ist es rational.
Dann auf einmal hält die Zeit an. Der Wind wird lauter, alles verlangsamt sich, die Dialoge verstummen, die Alltäglichkeit verabschiedet sich. Haare wehen, Äste rascheln, eine Präsenz wird spürbar, die das Sein überragt. In diesen wiederkehrenden Szenen greift Ceylan nach den Gefühlen, die sich sonst nur den Bruchteil einer Sekunde halten. Eine plötzliche Bewusstwerdung, ein Begehren, eine Wärme. Für Momente schweben seine Filme auf diesen Gefühlen und die Welt wird ganz gegenwärtig, dann zählt die Frucht am Obstbaum wie der Staub wie der Blick der Geliebten wie die innere Verzweiflung wie die sofort auf der Haut schmelzende Schneeflocke. In diesen Sekunden kommt Ceylans Kino zu sich, man erkennt, dass all diese Worte, all diese Bilder nichts zählen im Anblick der vergehenden Zeit und des sich ausbreitenden Raums.