Der 1972 geborene argentinische Regisseur Rodrigo Moreno machte erstmals 2006 mit seinem Debüt „El Custodio - Der Leibwächter“ auf sich aufmerksam. Sein neuester Film „Die Missetäter“ lässt sich über drei Stunden Laufzeit nicht in Schubladen pressen, verbindet eine Bankräuber-Geschichte mit Aussteigerfantasien, einer Dreiecksromanze und dokumentarischen Einsprengseln. Ein Gespräch über die Entstehung des Films aus dem Geist der argentinischen Filmgeschichte heraus und das Spiel mit Realität und einer Fiktion, die überrascht.
Zunächst würde ich Sie bitten, etwas über die argentinische Filmindustrie zu erzählen. Ist sie sehr groß? Ist es eine gesunde Industrie?
Rodrigo Moreno: Ich würde es vorziehen, es nicht eine Filmindustrie zu nennen. Das argentinische Kino ist sehr viel vielschichtiger als nur die Industrie. Wir haben die Filmindustrie, aber wir haben auch eine große und starke Filmszene außerhalb der Industrie. Für mich kommen die interessantesten Aspekte des argentinischen Kinos von dort. Es ist ein sehr diverses, sehr vielschichtiges Kino. Um das argentinische Kino zu definieren, muss man feststellen, dass es viele unterschiedliche Wege gibt, Filme zu machen. Darüber hinaus ist es sehr stark. Jedes Jahr kommen mindestens drei große Filme heraus. Das finde ich bewundernswert. Im Moment ist die Filmindustrie aber von einem ultrarechten Politiker bedroht [Anmerkung: gemeint ist Javier Milei, der am 22. Oktober 2023 zum argentinischen Präsidenten gewählt wurde]. Eine seiner Ideen besteht darin, jede öffentliche Unterstützung für die Kultur und die Künste zu beschneiden. Ohne diese Unterstützung wird die Situation für die Filmschaffenden wohl kritischer werden.
In Mexiko zum Beispiel gibt es ein ausgeprägtes Genre-Kino, vom Melodram über den Western und die Komödie bis zum Krimi. Ist das in Argentinien ähnlich?
Moreno: Das mexikanische und argentinische Kino sind doch sehr unterschiedlich. Das liegt daran, dass Mexiko an die USA grenzt und darum der Einfluss Hollywoods früher sehr stark war und noch immer ist. Hinzu kommt, dass viele amerikanische Filme in Mexiko gedreht wurden – einfach, um Kosten zu sparen. Unsere Tradition ist hingegen nicht so ausgeprägt. Die argentinische Gesellschaft unterscheidet sich sehr von den anderen in Lateinamerika. Der Einfluss europäischer Staaten ist bei uns sehr viel größer. Es gibt so eine Art Modernismus. Schon in den 1940er-Jahren hatten wir viele Studios, drehten viele Filme in unterschiedlichen Genres, in den 1950er-Jahren wurde das Kino sehr modern, es wurde von Ingmar Bergman und dann der Nouvelle Vague beeinflusst. Abgesehen von einigen Regisseuren ist das Kino jener Zeit aber kein Kino, dass mich sehr interessiert.
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2022 war bei einer Retrospektive der Viennale zu sehen, dass es auch argentinische Vertreter des Film noir gab.
Moreno: Die Auswahl der Filme kenne ich nicht. Aber es gibt eine große Verbindung des Film noir mit dem Kunstkino. Vielleicht hat es mit dem „Buenos Aires-Effekt“, wie ich es nennen möchte, zu tun. Buenos Aires ist eine Stadt mit vielen Intellektuellen, es gibt eine große künstlerische Szene, und das färbt natürlich auch auf die Filme ab.
Ihr Film beruht sehr lose auf „Dämon Geld“ (Apenas un Delincuente), 1949 von Hugo Fregonese inszeniert. Inwieweit ist Ihr Film noch vom Original beeinflusst?
Moreno: Nicht sehr. Ich benutzte den Anfang des Films, um ihn mir anzueignen, ihn meinen Interessen anzugleichen, ihm zu gehorchen, aber auch, um ihn zu verwandeln, um ihn zu zerbrechen. Es ist kein Remake im eigentlichen Sinn. Mich interessierte nur der Beginn der Handlung, dann schlage ich eine andere Richtung ein. Aber die Tatsache, dass ich einen anderen Film als Startpunkt hatte, erlaubte mir, mit der Filmsprache zu spielen und mit der filmischen Wirklichkeit. Mein Film ist sich dessen bewusst, dass er dem Original genauso verpflichtet ist wie der Realität.
Sie sagen, dass Ihr Film aus mehreren Genres bestehe: Heist-Movie, Liebesgeschichte, Drama. Aber ist es wirklich ein Heist-Movie? Sie nehmen nämlich jegliche Spannung aus der Szene. Wir sehen dabei zu, wie sich Morán, die Hauptfigur, heimlich das Geld nimmt, weil er die Tresorkombination kennt und weiß, was zu tun ist. Das ist alles sehr sachlich geschildert.
Moreno: Nun ja – da ist aber immer noch das Thema eines Bankraubs. Darum geht es in jedem Heist-Movie. Doch was mache ich aus dieser Vorgabe? Der Fokus liegt auf den Konsequenzen einer Entscheidung, und hier sind die Konsequenzen sehr schwer. Beide Charaktere haben nicht erwartet, was nun auf sie zukommt. Das hat mit existenzialistischen Fragen zu tun, nicht damit, wie man dieser Situation entkommt und sein Leben rettet, das Geld an sich nimmt und dann ein luxuriöses Leben lebt.
Ich mochte den Beginn des Films sehr. Sie zeigen, wie Morán morgens zur Arbeit geht. Da gibt es mehrere Szenen mitten in der Innenstadt von Buenos Aires, mit vielen Passanten. Wie haben Sie das gedreht?
Moreno: Ich mag es sehr, verschiedene Möglichkeiten zu finden, um eine Geschichte zu erzählen. Sehen sie sich zum Beispiel die Bank an, die nicht wie eine Bank im Jahr 2023 aussieht. Wenn Sie heute in eine Bank gehen, ist sie sehr modern und praktisch, auch in Argentinien. In meinem Film hat sie aber einen altmodischen Touch. Das Gefängnis sieht so aus wie jenes in „Flucht von Alcatraz“, dem Film von Don Siegel, die Gefangenen tragen sogar Uniformen. Ich versuche, mich immer ein wenig von der Realität wegzubewegen. Denn ich habe ein großes Interesse daran, eine fiktive Geschichte zu erzählen. Gleichzeitig möchte ich die Zuschauer aber mit etwas Realem konfrontieren, auch wenn dies als Widerspruch erscheinen mag. Darum habe ich die Szenen in der Innenstadt und im öffentlichen Nahverkehr wie einen Dokumentarfilm inszeniert, mit drei Leuten, die Kamera während der Rush Hour in der Mitte der Straße aufgestellt, während viele Menschen aus der U-Bahn kommen. Dieses Chaos wollte ich direkt der Realität entnehmen. Der Film von Hugo Fregonese beginnt mit einer ähnlichen Szene. Die hat mir darin am besten gefallen.
Sehr interessant ist auch die erste Szene zwischen Morán und Román, in der Morán den anderen zwingt, das Geld zu verstecken. Das ist ein Machtkampf zwischen zwei Männern, die aber dieselben Probleme haben, auf der Arbeit, privat, mit ihrer Zukunft.
Moreno: Morán ist ein Einzelgänger, Román hingegen ist sehr viel extrovertierter und geselliger. Das ist die Kluft zwischen beiden. Dann hat Morán so etwas wie eine Eingebung. „Wir sind Sklaven. Wir leben, um zu arbeiten.“ Darum versucht er, den anderen zu überreden, mitzumachen. Es ist fast schon ein philosophischer Weg, jemanden für seine Zwecke einzuspannen, ihn zu überzeugen. Dabei geht es gar nicht so sehr um das Geld, sondern um die schiere Existenz, ums Überleben. In dem Moment ist Román bereit, mitzumachen. Gleichzeitig wird er aber auch von Morán bedroht: „Ich weiß, wie ich dir schaden kann.“ Es ist also kein Machtkampf, sondern etwas anderes, etwas Subtileres.
Die Namen der beiden sind Anagramme, später kommt noch eine Frau hinzu, die Norma heißt.
Moreno: Ja – das ist so. Sie gehören unverbrüchlich zusammen.
Mit dem zweiten Teil des Films gibt es einen großen Wechsel, von der quirligen Metropole Buenos Aires geht es aufs Land, in eine Art Idylle. Die Natur wird immer bedeutender, die Menschen haben plötzlich mehr Zeit.
Moreno: Sie haben Recht – das ist eine Konfrontation zwischen Stadt und Land. Aus meiner Sicht ist das gar nicht so originell, plötzlich mit der Natur konfrontiert zu werden. Es ist so etwas wie ein Ausweg für die beiden Protagonisten. Ich denke dabei vor allem an Morán, der sich vorstellt, in einer Landschaft der Götter zu leben. Im selben Moment braucht er, ganz pragmatisch, einen Platz, um das Geld zu verstecken. Nicht nur das, denn das Verstecken des Geldes ist natürlich eine Konsequenz des Plans. Eine Landschaft wie diese hat keine Regeln. Daher kommt die Idee, auch ein Leben ohne Regeln zu führen. Ohne eine Uhr, die die Geschwindigkeit des Lebens einteilt. Jetzt ist alles möglich.
Dann gibt es zwei Liebesgeschichten. Beide Männer verlieben sich in dieselbe Frau. Das sind sehr leichte, sehr romantische Liebesbeziehungen. Für einen Moment fühlte ich mich an Eric Rohmer erinnert.
Moreno: Als ich am Anfang über den Film nachdachte, wollte ich zwei grundverschiedene Dinge miteinander verbinden: ein Heist-Movie mit Renoirs „Eine Landpartie“ von 1936. Das ist das Portrait von Menschen, die einen Tag in der Natur verbringen. Sie sind einfach da, mehr nicht. Das war meine erste Herausforderung. Darum berührt eine gewisse Tradition des französischen Kinos meinen Film. Nicht nur Rohmer und Renoir, sondern vor allem Jacques Rozier, ein Filmemacher, der international sehr wenig bekannt ist. „Adieu, Philippine“ (1960) und „Du côté d’Orouêt“ (1971) sind Filme von ihm, die ich sehr schätze und die mich beeinflusst haben. Der Krimi-Teil ist auch durch französische Regisseure beeinflusst, die klassische Kriminal-Filme einer neuen Bewertung unterzogen haben, wie zum Beispiel Claude Chabrol.
Es geht in Ihrem Film auch ums Kino an sich. Einer der Bekannten von Norma ist ein Video-Regisseur. Einmal gehen sie sogar gemeinsam ins Kino, um „Das Geld“ von Robert Bresson zu schauen. Und dann sagt jemand einen sehr gewichtigen Satz: „Das Kino ist tot.“ Ist das wirklich Ihre Meinung?
Moreno: Der Dialog geht noch weiter. „Ist das Kino wirklich tot?“ fragt Norma. „Nein, noch nicht ganz“, erhält sie zur Antwort. Es gibt also einen kleinen Lichtstrahl der Hoffnung. Vielleicht ist das Kino noch nicht tot. Doch es leidet sehr – wegen der Fernsehserien, der Pandemie mit geschlossenen Kinos und erfolgreichen Videoplattformen. Besonders die TV-Serien haben das Kino aus dem Fokus rücken lassen. Ich treffe immer mehr Freunde und Bekannte, die darüber reden, welche Serie sie im Fernsehen gesehen haben, nicht, welchen Film sie im Kino gesehen haben. Als ich noch jung war, redete das Bildungsbürgertum in Argentinien leidenschaftlich über Kinofilme. Das ist tragisch. Die Serien funktionieren nämlich nur auf eine einzige Weise: Sie fördern das Verlangen der Zuschauer nach mehr und mehr – bis zur nächsten Episode. Es ist wie eine Coca-Cola mit hohem Zuckeranteil. Zucker verlangt nach noch mehr Zucker. So funktioniert das auch mit den Serien. Das Problem dabei ist, das die Serien angefangen haben, das Kino zu kopieren. Sie sind auch sehr gut und neuerdings sehr aufwändig und teuer gemacht, immer mehr Leute aus der Kinobranche arbeiten für Serien. Nun fangen die Kinofilme an, auszusehen wie Serien. Denken Sie an die Blockbuster mit mehreren Teilen. Die Antwort für das Überleben des Kinos liegt in der Vergangenheit. Hinter uns liegen 120 Jahre große Kinogeschichte. Es gibt verschiedene Wege, sich in der Filmsprache auszudrücken. Darauf sollte man sich besinnen. Lassen Sie uns das Dagewesene neu bewerten.
Abschließend würde ich noch gern über den Humor in Ihrem Film sprechen. Er ist sehr leise und beiläufig. Bei der öffentlichen Vorführung, in der ich den Film gesehen habe, haben die Zuschauer am meisten gelacht, als der Bankdirektor auf dem Stuhl sitzt, der unaufhörlich quietscht.
Moreno: Für mich ist es undenkbar, eine Geschichte ohne Humor zu erzählen. Ohne Humor würde ich mich langweilen. Wenn in der Kunst der Humor fehlt, verliere ich sofort das Interesse. Humor hat sicher auch mit Intelligenz tun, mit Hinterfragen der Realität, mit Kritik üben. Humor schickt einen auf eine bessere Reise, wenn man einen Film schaut. Es ist aber nicht etwas, das ich plane. Es muss sich natürlich ergeben. Der Humor ist für mich grundsätzlich überaus wichtig, nicht nur im Film, sondern auch in Beziehungen, in allen Bereichen des menschlichen Lebens.