Bei den Nominierungen für den Deutschen Filmpreis 2024 gehören unter anderem eine stilistisch ausgefeilte Hommage ans Noir-Kino, die filmische Freundschaftsgeschichte zwischen einem Fuchs und einem Soldaten im Zweiten Weltkrieg und ein deutsch-kurdischer Spionagethriller zu den Favoriten. Die meisten „Lola“-Nennungen erhielt am 19. März indes Matthias Glasners dreistündige Familien-, Tod- und Künstler-Nabelschau „Sterben“.
Gestörte Familienbeziehungen sind eine der wenigen Konstanten im deutschen Kino, auf die sich Filmemacher gern und oft durchaus auch mit größerem Anspruch einlassen. Das würdigt in unregelmäßigen Abständen auch der Deutsche Filmpreis mit Auszeichnungen für Werke wie „Toni Erdmann“, „Systemsprenger“ oder „Lieber Thomas“, und auch 2024 könnte der große Sieger bei der „Lola“-Verleihung aus einer inhaltlich ähnlichen Richtung kommen. Bei Bekanntgabe der Nominierungen für den 74. Deutschen Filmpreis am 19. März wurde Matthias Glasners „Sterben“ neunmal bedacht, womit sich das dreistündige autobiografische Projekt des Regisseurs als Favorit für die Gala aufdrängt. Der bei der Berlinale-Premiere mit dem Preis der internationalen Jury für das Drehbuch ausgezeichnete Film hatte dort viel Publikumszuspruch erhalten, war von der Kritik aber kontrovers aufgenommen worden: Zu uneinheitlich im Tonfall seien die beiden Hälften des Werks, zu klischeehaft vor allem die Aussagen über das Künstlertum, zu läppisch die Haltung zum Leben-und-Sterben-Thema, lauteten einige der Vorwürfe. Die Mitglieder der Deutschen Filmakademie halten nun jedoch dagegen. Neben Film, Regie und Drehbuch gehen so auch die Hauptdarsteller Lars Eidinger und Corinna Harfouch, die Nebendarsteller Hans-Uwe Bauer und Robert Gwisdek ins „Lola“-Rennen, ebenso wie unter anderem die im Film prominent vertretene Musik von Lorenz Dangel.
Die besten Deutschen des aktuellen Jahrgangs
Die Favoritenrolle von „Sterben“ verweist allerdings auch darauf, dass die Mitglieder der Deutschen Filmakademie im Vergleich zum Vorjahr aus einem deutlich weniger bemerkenswerten Film-Jahrgang auswählen konnten. 2023 hatten der vierfache „Oscar“-Preisträger „Im Westen nichts Neues“ und der gleichfalls international gefeierte Schulthriller „Das Lehrerzimmer“ die Auswahl dominiert und ihr zu ungewohntem Glanz verholfen, an den die 74. Verleihung eher nicht anschließen wird. Die meistbeachteten deutschen Leistungen fanden sich im vergangenen Jahr zudem in Filmen, mit denen die deutsche Branche nur am Rande zu tun hatte – und die deshalb auch bei den „Lolas“ formal von vornherein ausgeschlossen waren: Christian Friedel und Sandra Hüller im Auschwitz-Drama „The Zone of Interest“ des Briten Jonathan Glazer, ein weiteres Mal Hüller in der Hauptrolle des französischen Dramas „Anatomie eines Falls“, Franz Rogowski im amerikanisch-französischen Liebesfilm „Passages“, Wim Wenders mit seinem japanischen Spielfilm „Perfect Days“.
Trösten konnten sich die Akademie-Mitglieder immerhin mit Wenders’ zweiter Regie-Arbeit im Jahr 2023, der Anselm-Kiefer-Annäherung „Anselm – Das Rauschen der Zeit“, als Nominiertem in der Dokumentarfilm-Kategorie. Dort tritt „Anselm“ gegen „Sieben Winter in Teheran“ über die zum Tode verurteilte Iranerin Reyhaneh Jabbari und gegen „Vergiss Meyn nicht“ über die Proteste im Hambacher Forst an. Auch Christian Friedel bleibt nicht unberücksichtigt und ist in der Nebendarsteller-Kategorie für seinen Auftritt in „15 Jahre“ nominiert, der späten Fortsetzung des 2007 mit der „Lola in Gold“ prämierten Dramas „Vier Minuten“.
Winkt Lars Eidinger die erste „Lola“ seiner Karriere?
Auch Hannah Herzsprung, die dafür seinerzeit ihrer Filmpartnerin Monica Bleibtreu den „Lola“-Vortritt lassen musste, ist als Pianistin und verurteilte Mörderin Jenny von Loeben erneut nominiert und misst sich diesmal mit Corinna Harfouch sowie mit Bayan Leyla in der Rolle einer jungen Deutschkurdin in „Elaha“. Komplettiert wird die Berücksichtigung von „15 Jahre“ mit Adele Neuhauser bei den Nebendarstellerinnen, ihre Konkurrentinnen sind Barbara Philipp für „Sprich mit mir“ und Marie-Lou Sellem für „Knochen und Namen“. Bei den Hauptdarstellern winkt Lars Eidinger die erste „Lola“ seiner Karriere, neben ihm nominiert sind Marc Hosemann für „Sophia, der Tod und ich“ und Simon Morzé für „Der Fuchs“.
„Der Fuchs“, Adrian Goigingers ungewöhnliche Geschichte einer menschlich-tierischen Freundschaft im Zweiten Weltkrieg, wurde auch als einer der sechs „Filme des Jahres“ nominiert, wo sich mit Hans Steinbichlers „Ein ganzes Leben“ eine weitere deutsch-österreichische Koproduktion findet. Mit „Elaha“ der gebürtigen Armenierin Milena Aboyan sowie dem Mysterythriller „Im toten Winkel“ von der türkisch-deutschen Filmregisseurin Ayşe Polat sind auch zwei ambitionierte Arbeiten mit internationalem Flair nominiert. Komplettiert wird die Auswahl durch „Sterben“ und die stilistisch meisterliche Noir-Hommage „Die Theorie von Allem“. Insgesamt entfielen sechs Nominierungen auf den Film von Timm Kröger, der sich damit neben „Sterben“ als Geheimtipp für die Verleihung in Stellung bringt. So hat Kröger auch als Regisseur Chancen – neben Glasner und Polat –, weitere Nominierungen entfielen unter anderem auf Kamera und Szenenbild des ambitionierten Schwarz-weiß-Films. „Im toten Winkel“ und „Der Fuchs“ nehmen es derweil in der Drehbuch-Kategorie mit „Sterben“ auf.
Überarbeitung des Auswahlverfahrens zeigt wenig Wirkung
Nach den Querelen um ihre Nominierungspraxis hatte die Deutsche Filmakademie im letzten Jahr ihr Auswahlverfahren überarbeitet, was in der Konsequenz aber wenig sichtbare Änderungen gebracht hat. Der Wegfall der rund dreißig Filme umfassenden Vorauswahl hat jedenfalls weder zu einer demonstrativ kunstsinnigeren Auswahl wie beim „Preis der Deutschen Filmkritik“ noch zu einer mehr in den Mainstream rutschenden Zusammenstellung geführt. Tatsächlich zeigte sich die Deutsche Filmakademie sogar weniger beeindruckt von kassenträchtigen Werken als in manchem früheren Jahr, am ehesten gehen noch vier Gewerke-Nominierungen für Simon Verhoevens Milli-Vanilli-Filmbiografie „Girl You Know It’s True“ sowie die Kinderfilm-Nominierung für „Checker Tobi und die Reise zu den fliegenden Flüssen“ in diese Richtung. Der Preis für den besucherstärksten Film, in diesem Jahr die jüngste Verfilmung der „Drei ???“, dürfte damit einmal mehr ein ziemlicher Exot in der Gala am 3. Mai sein.
Eher zuhause könnte sich die Ehrenpreisträgerin des Jahres fühlen, die bereits auf eine lange gemeinsame Geschichte mit den Deutschen Filmpreisen zurückblicken kann: Nach vier Auszeichnungen als Schauspielerin in den 1970er-Jahren nimmt Hanna Schygulla dieses Jahr die Ehrung für ein Lebenswerk entgegen.
Nominierungen für den Deutschen Filmpreis 2024
Bester Spielfilm
Bester Dokumentarfilm
Bester Kinderfilm
Checker Tobi und die Reise zu den fliegenden Füssen
Beste Regie
Timm Kröger für „Die Theorie von allem“
Ayşe Polat für „Im toten Winkel“
Matthias Glasner für „Sterben“
Bestes Drehbuch
Adrian Goiginger für „Der Fuchs“
Ayşe Polat für „Im toten Winkel“
Matthias Glasner für „Sterben“
Beste weibliche Hauptrolle
Hannah Herzsprung für „15 Jahre“
Bayan Layla für „Elaha“
Corinna Harfouch für „Sterben“
Beste männliche Hauptrolle
Simon Morzé für „Der Fuchs“
Marc Hosemann für „Sophia, der Tod und Ich“
Lars Eidinger für „Sterben“
Beste weibliche Nebenrolle
Adele Neuhauser für „15 Jahre“
Marie-Lou Sellem für „Knochen und Namen“
Barbara Phillipp für „Sprich mit Mir“
Beste männliche Nebenrolle
Christian Friedel für „15 Jahre“
Hans-Uwe Bauer für „Sterben“
Robert Gwisdek für „Sterben“
Beste Bildgestaltung
Yoshi Heimrath, Paul Sprinz für „Der Fuchs“
Roland Stupich für „Die Theorie von Allem“
Lotta Killian für „Luise“
Bester Schnitt
David J. Achilles für „Falling Into Place“
Nicole Kortlüke für „Sieben Winter in Teheran“
Heike Gnida für „Sterben“
Beste Tongestaltung
Max Vornehm, Christof Ebhardt, Christian Bischoff für „Ein ganzes Leben“
Bahman Ardalan, Ansgar Frerich, Florian Beck für „Leere Netze“
Michael Schlömer, Corinna Fleig, Tobias Fleig für „The Dive“
Beste Filmmusik
Diego Ramos Rodriguez für „Die Theorie von Allem“
John Gürtler, Jan Miserre, Saba Alizadeh für „Leere Netze“
Lorenz Dangel für „Sterben“
Bestes Szenenbild
Cosima Vellenzer, Anika Klatt für „Die Theorie von Allem“
Jurek Kuttner, Marcel Beranek, Hannah Bowe, Bernadette Weinzierl für „Ein ganzes Leben“
Heike Lange, Alexandra Pilhatsch für „Girl You Know It`s True“
Bestes Kostümbild
Tanja Hausner für „Die Herrlichkeit des Lebens“
Ingken Benesch für „Girl You Know It`s True“
Thomes Oláh für „Stella. Ein Leben“
Bestes Maskenbild
Helene Lang für „Ein ganzes Leben“
Alisza Pfeifer, Christina Baier für „Girl You Know It`s True“
Kerstin Gaecklin, Heiko Schmidt für „Stella. Ein Leben“
Beste visuelle Effekte
Kariem Saleh, Adrian Meyer für „Die Theorie von Allem“
Manfred Büttner für „Der Fuchs“
Juri Stanossek, Apollonia Hartmann, Jan Bruda für „Girl You Know It`s True“
Marco Del Bianco, Benedict Neuenfels für „Stella. Ein Leben“
Ehrenpreis