Mit viel Publikumszuspruch und einem überdurchschnittlichen Wettbewerb hat sich das Berlinale-Führungsduo Mariette Rissenbeek & Carlo Chatrian nach fünf Jahren verabschiedet. Der „Goldene Bär“ für den Dokumentarfilm „Dahomey“ konnte dabei wie manche andere Jury-Entscheidung nur bedingt überzeugen. Viele ambitionierte Filme sorgten aber dennoch für einen versöhnlichen Abschied der Leiter. Ihrer Nachfolgerin Tricia Tuttle hinterlassen sie allerdings einige Baustellen und offenen Fragen.
Wohin nur mit all den Statuen? Es ist ein Akt von historischer Tragweite, als im November 2021 erstmals 26 Kunstgegenstände nach Benin zurücktransportiert werden, die in der Kolonialzeit geraubt und nach Frankreich geschafft wurden. Diese Rückgabe war aber nicht mehr als ein Anfang, angesichts von über 7000 geraubten Kunstwerken aus Benin. Nicht wenige Menschen aus dem westafrikanischen Land sehen die Rückgabe deshalb als leere Geste oder sogar als Beleidigung, wie es die französisch-senegalesische Regisseurin Mati Diop in ihrem Dokumentarfilm „Dahomey“ anhand einer von ihr arrangierten Diskussion in einer Universität demonstriert. Die überwiegend jungen Beninerinnen und Beniner nehmen die „Restitution“ gründlich auseinander, auch wenn das koloniale Unrecht unstrittig bleibt.
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Die Rückkehr der durchaus als fremd empfundenen Kunstgegenstände aus einer lang vergangenen Zeit stößt auf Fragen und Vorbehalte. Müssen die Kunstwerke weiter so ausgestellt werden, wie sie nach ihrer Ankunft im Präsidentenpalast in Cotonou präsentiert werden? Können sie den Menschen so Zugang zu ihrer Geschichte verschaffen? Oder hat ein Museum nicht selbst den Ruch kolonialer Hinterlassenschaft? „Dahomey“ führt vor Augen, wie komplex die vermeintlich einfache Diskussionslage um die Rückführung kolonialer Raubkunst ist, und fügt dem noch einen Verfremdungseffekt hinzu. Denn eine der Statuen meldet sich aus dem Off zu Wort. Sie beklagt die Ignoranz gegenüber ihrer individuellen Geschichte, formuliert aber auch Unsicherheit angesichts des neuen Standorts im Präsidentenpalast. Von einem befriedigenden Abschluss kann jedenfalls keine Rede sein.
Gegen das Erwartbare
Es war eine durchaus überraschende Entscheidung der Internationalen Jury bei der 74. Berlinale (15.-25.2.2024), den „Goldenen Bären“ an „Dahomey“ zu vergeben. Der nur 67 Minuten lange Film spricht sein Thema zwar aus vielen Blickwinkeln an, doch über einen Beitrag zu einer wichtigen Diskussion gelangt er nicht hinaus. Seine politische Schlagkraft, auf die bei der Preisgala viele Worte entfielen, darf zu Recht bezweifelt werden. Zudem ist der redliche, aber unspektakuläre Ansatz des Dokumentarfilms formal alles andere als repräsentativ für den Wettbewerb 2024, in dem sich etliche Filme eindrücklich gegen das Erwartbare und Eindeutige stemmten.
Doch die Jury fand bei der Aufgabe „Wohin nur mit all den Bären?“ eine allenfalls in Teilen zufriedenstellende Lösung. Ein großes Fragezeichen ist etwa hinter die Auszeichnung für das beste Drehbuch zu setzen, die an Matthias Glasner für sein dreistündiges Drama „Sterben“ ging. Zwar gelingt es Glasner in der ersten Hälfte des Films, dicht und authentisch von der Konfrontation eines Dirigenten (Lars Eidinger) mit dem unausweichlichen Tod seiner Eltern (Hans-Uwe Bauer, Corinna Harfouch) und der Verzweiflung über die eigene Hilflosigkeit zu erzählen. In der Folge zerfasert „Sterben“ aber in klischeeüberfrachtete Handlungsstränge, in denen die selbstzerstörerische Tochter der Sterbenden (Lilith Stangenberg) und ein verblasen-selbstzerstörerischer Komponist (Robert Gwisdek) die Führung übernehmen. Der große, biografisch inspirierte Bogen, den Glasner anstrebt, will nicht gelingen, und auch der anfangs noch schlüssige Humor wirkt zusehends verkrampft. Das macht die Wahl der Jury ziemlich befremdlich – auch wenn es (nicht nur in Berlin) auf Festivals schon fast eine Art Tradition ist, Drehbuch-Preise an Werke zu vergeben, die gerade in dieser Hinsicht schwächeln.
Ein Herz für Vordergründigkeit bewies die Jury auch mit den beiden Schauspiel-Preisen. Für die beste Nebenrolle wurde Emily Watson für ihre Interpretation einer kaltherzigen Klostervorsteherin in „Small Things Like These“ geehrt. Das ist ein einprägsamer Kurzauftritt, neben dem es für die Auszeichnung aber viele andere Möglichkeiten mit mehr Zwischentönen gegeben hätte. Etwa den Auftritt von Lisa Wagner als ähnlich abweisend wirkende, letztlich aber komplexe Gefängniswärterin im NS-Widerstandsdrama „In Liebe, Eure Hilde“ von Andreas Dresen. Dessen Hauptdarstellerin Liv Lisa Fries wäre auch eine der naheliegenden Kandidatinnen für die zweite Schauspiel-Auszeichnung gewesen, neben anderen herausragenden Miminnen wie Lili Farhadpour in der iranischen Tragikomödie „My Favourite Cake“ oder Thinley Lhamo in dem episch angehauchten Drama „Shambhala“.
Doch statt einem der stärksten Jahrgänge für Hauptdarstellerinnen die naheliegende Würdigung zu verschaffen, zeichnete die Jury erstmals seit Einführung der geschlechtsneutralen Kategorien im Jahr 2021 einen Mann mit dem Schauspiel-Preis aus. Wobei der US-Amerikaner Sebastian Stan in „A Different Man“ mit Einsatz überzeugt, um seiner von einer Gesichtskrankheit entstellten Figur Schattierungen zu verleihen; er wird zuerst jedoch von seiner schweren Maske und dann mehr und mehr von kaum nachvollziehbaren Drehbuchkniffen ausgebremst. Im Wettbewerb stand „A Different Man“ eher für die Minderheit der halbgaren, unzureichend durchdachten Filme.
Enge Grenzen überschreiten
Denn den Festival-Jahrgang 2024 prägten gerade künstlerisch innovative Arbeiten, die enggefasste formale Grenzen überschritten und vielfach auch vermeintliche moralische Gewissheiten außer Kraft setzten. Der aus der Dominikanischen Republik stammende Regisseur Nelson Carlo de Los Santos Arias steuerte mit „Pepe“ ein buntes Hybrid zwischen Doku-Material, Geschichtslektion, Tierfilm, Satire und Gesellschaftskritik in Spielszenen zum Wettbewerb bei, entzündet an der Geschichte der Nilpferde aus dem privaten Zoo des Drogenbarons Pablo Escobar. Neben „Shambhala“ über die Suche einer Nepalesin nach ihrem Mann und letztlich nach sich selbst in den Weiten des Himalaya entfaltete sich auch „Black Tea“ von Abderrahmane Sissako als subtile Einlassung auf die Grenzen(losigkeit) bei der Erfüllung persönlicher Wünsche. Bruno Dumont bescherte der Berlinale mit „L’Empire“ seinen bislang gelungensten Abstecher in seine schräge Komik, in Form einer bildmächtigen Satire aufs Science-Fiction-Genre, in der dieses zugleich karikiert wie originell variiert wird. Und Hong Sang-soo präsentierte mit „A Traveler’s Needs“ über eine skurrile französische Sprachlehrerin eine weitere seiner minimalistisch-amüsanten Erkundungen menschlicher Missverständnisse und charakterlicher Reibungen.
Immerhin fanden „A Traveler’s Needs“ (Großer Preis der Jury), „L’Empire“ (Preis der Jury) und „Pepe“ (Regie-Preis) Gnade vor den Augen der Juroren, zu deren Auslassungen man auch die Ignoranz gegenüber dem iranischen Wettbewerbsbeitrag „My Favourite Cake“ zählen muss. Der Film von Maryam Moghaddam und Behtash Sanaeeha hatte sich mit seiner einfühlsamen Handlung um zwei alte Iraner, die sich eines Nachts im Haus der Frau treffen und damit gegen sämtliche Sittenregeln des Landes verstoßen, schon früh als Favorit für die wichtigsten Preise in Stellung gebracht. Am Ende blieb dem überraschend humorvollen Film, der bei aller inszenatorischen Leichtigkeit scharfe Kritik an der Menschenfeindlichkeit des Mullah-Regimes übt, immerhin die Auszeichnungen des Kritikerverbands FIPRESCI und der Ökumenischen Jury; bei der Preis-Gala war selbst über das Schicksal des an der Ausreise aus dem Iran gehinderten Regie-Duos nichts mehr zu hören.
Etwas mehr Glamour wäre wünschenswert
Die Preisverleihung, die ja auch die Abschiedsvorstellung der scheidenden Führungsspitze Mariette Rissenbeek und Carlo Chatrian war, verlief ohnehin zäh und ohne erinnerungswürdige Momente. Von ihrem Hang zum unspektakulären Auftritt, den die beiden Berlinale-Leiter in den fünf Jahren ihrer Amtszeit gepflegt hatten, ließen sie auch hier nicht ab. Die Wellen der Empörung, die der rüde Umgang mit dem künstlerischen Direktor Chatrian 2023 unter Filmschaffenden erzeugt hatte, schwappten nicht in den Berlinale-Palast. Einen leicht kritischen Tonfall leistete sich Chatrian lediglich mit einer Bemerkung zu den gefährdeten Spielstätten in Berlin, die sich mit jedem Jahr frappierender auswirken. Mit dem Arsenal Kino schließt 2024 eine weitere Spielstätte am Potsdamer Platz, und auch der Berlinale-Palast ist akut bedroht, was dem Festival sein Zentrum zu rauben droht. Es dürfte die dringlichste Aufgabe der neuen Berlinale-Leiterin Tricia Tuttle werden, hierfür eine Lösung zu finden.
Die prekäre Kinosituation konnte allerdings auch 2024 die Zuschauer nicht von den Berlinale-Filmen fernhalten. In der Gesamtbilanz scheint sich in der Ära Rissenbeek/Chatrian der Publikumszuspruch aus der Zeit ihres Vorgängers Dieter Kosslick nahtlos erhalten zu haben. Der von manchem Journalisten (vornehmlich aus Berlin), aber auch von der Findungskommission formulierte Eindruck, die Berlinale habe als Publikumsfestival Nachholbedarf, ließ sich einmal mehr nicht an der Wirklichkeit bestätigen – es sei denn, man würde falsche Schlüsse daraus ziehen, dass mit den Massen von Kartenkäufern, die vor Ticketautomaten übernachteten, eines der markantesten Bilder früherer Berlinalen verschwunden ist. An der Umstellung auf ein Online-Buchungssystem, die zu den Neuerungen unter Rissenbeek & Chatrian gehörte, führte angesichts der Corona-Pandemie kein Weg vorbei.
Mit nur fünf
Jahren Dauer geht die Leitung von Rissenbeek/Chatrian als zweitkürzeste in der
Berlinale-Geschichte ein. Lediglich für den Filmpublizisten Wolf Donner war bei
seiner dreijährigen Amtszeit in den 1970er-Jahren noch früher Schluss. Mit der
Entscheidung für die Doppelspitze hatte die Berlinale 2019 Neuland betreten,
aus dem sich die Verantwortlichen jetzt eiligst wieder zurückgezogen haben. Das
darf man mit gutem Recht überhastet nennen, denn abseits des Vorwurfs, dass das
Duo dem Festival kein scharfes „Profil“ verliehen habe, nimmt sich die Bilanz der
fünf Jahre durchaus erfolgreich aus.
Zwar blieb die Reihe „Encounters“ in ihrer Abgrenzung zu den etablierten Sektionen die Präzision schuldig, bereicherte das Programm aber mit vielen Entdeckungen, während die Kürzungen der Filmmenge Sektionen wie dem „Forum“ eher zugutekamen. Auch die Retrospektiven starteten mit zwei exzellent kuratierten Ausgaben zu King Vidor sowie dem Damen-Trio Mae West-Carole Lombard-Rosalind Russell, bevor durch Corona die Darstellerinnen-Retro um ein Jahr verschoben werden musste und Budgetkürzungen zu zwei deutlich magereren Retros führten. Die Nebenreihen um „Panorama“, „Forum“ und die Kinder- und Jugendfilm-Sektion hielten derweil das Niveau früherer Jahre.
Viele Baustellen für die Nachfolgerin
Für den Wettbewerb galt das über die Zeit nicht durchgehend. Im Vergleich zu den durchwachsenen Präsentationen vor allem der letzten Kosslick-Jahre gelang es Chatrian und Rissenbeek dennoch, auf ein deutlich solideres Niveau zu kommen. Mit der Einschränkung, dass Berlin von einer Zusammenstellung, wie sie in Cannes und Venedig möglich ist, weiterhin nur träumen kann, ebenso wie von dem oft dazugehörenden Hollywood-Staraufgebot.
Der Jahrgang 2024 demonstrierte noch einmal, was für die Berlinale machbar ist: einige etablierte Filmschaffende, gemischt mit aufstrebenden, ambitionierten Filmemachern, eine stabile Zahl von Stars und die Chance für Werke aus weniger vertrauten Nationen. Unter diesen Vorgaben bleiben die fünf letzten Wettbewerbe als stark bis herausragend in Erinnerung – mit paradoxen Höheflügen ausgerechnet in den Corona-gebeutelten Jahren 2021 und 2022; lediglich der Jahrgang 2023 fiel in seiner mäßigen Qualität heraus.
Wegen dieser vielversprechenden Entwicklung hätte sich eine Verlängerung des Vertrags von Carlo Chatrian durchaus angeboten, zumal er in vielem seine vormalige Erfahrung als Festivalleiter von Locarno positiv ausschöpfen konnte. Zudem war die Stagnation der Kosslick-Jahre dem jetzt scheidenden Leitungsteam sehr entgegengekommen, was Erwartungen an die Neuordnung des Festivals anging.
Die neue Direktorin Tricia Tuttle kann hingegen weder an die allseits spürbare Erleichterung nach 18 Jahren Kosslick noch an eigene Erfahrungen mit einem künstlerischen Festivalanspruch anknüpfen. Ihre Meriten hat sie sich in erster Linie als Leiterin des Londoner Filmfestivals verdient, das vor allem aufs Publikum zielte und einen für starbesetzte Premieren günstigen Herbsttermin besaß. Nimmt man die Misstöne beim Abgang von Rissenbeek/Chatrian hinzu sowie die generellen Berliner Kino-Baustellen, steht sie wahrhaft vor etlichen Mammutaufgaben. Die nächste Berlinale darf mit Spannung, aber auch mit einigem Bangen erwartet werden.