Der Belgier Joris Mertens, der bislang als Setdesigner und Storyboard-Künstler tätig war, debütiert mit rund 50 Jahren als Comiczeichner. Seine Bände „Béatrice“ (2021) und „Das große Los“ (2022) sind jetzt auch in Deutschland erschienen. Mit ungemein detailreichen Bildern erzählen sie nicht zuletzt auch von Mertens’ Liebe zum Kino. Der Film noir und die klassischen französischen Krimis prägen den Look der Comics.
Der Belgier Joris Mertens hat knapp drei Jahrzehnte lang in der Filmindustrie gearbeitet. Als Setdesigner, Art Director, Illustrator, Storyboarder, Fotograf oder Grafikdesigner war er an belgischen und anderen europäischen Filmproduktionen beteiligt. Ein Leben für den Film, könnte man sagen. Ob es der magische 50. Geburtstag als „Lebensmitte“ oder die Pandemie waren, die einen Bruch in seiner beruflichen Biografie beförderten, weiß Mertens selbst nicht ganz genau zu sagen, denn beides fiel zeitlich zusammen. Es gab in dieser Zeit jedenfalls eine Art Freiraum, in denen die beiden Comics entstanden, die 2021 und 2022 erschienen sind.
Die Leidenschaft und die Idee, einen Comic zu realisieren, muss aber schon lange in ihm gegärt haben. Das Handwerk des Zeichnens beherrschte Mertens schon in seinem ersten Berufsleben und perfektionierte es darin technisch so sehr, dass seine Zeichnungen im Debütalbum „Béatrice“ zu Ausrufen größter Bewunderung animierten.
„Béatrice“ erzählt nur mit Bildern, komplett ohne Text, vom monotonen Leben einer Handschuh-Verkäuferin in einer Stadt, die Brüssel sein könnte. Aufstehen, mit der Eisenbahn zum Kaufhaus fahren, arbeiten, nach Hause gehen, im Zug und im Bett lesen (Françoise Sagans „Bonjour Tristesse“) – so sehen die Tage der jungen Frau aus. Als sie eines Morgens im Jahr 1972 eine rote Tasche im Bahnhof sieht, ändert das ihr Leben. Am Abend steht die Tasche unbemerkt von den Menschenmassen immer noch dort, und Béatrice nimmt sie heimlich mit nach Hause. Der geheimnisvolle Schatz entpuppt sich als Fotoalbum aus den 1920er-Jahren, dessen Bilder ein junges, reiches Paar zeigen und Béatrice in eine geheimnisvolle Welt entführen, die sehr weit von ihrem eigenen Leben entfernt scheint.
Eine Vorliebe für den Film noir
Der Comic ohne Worte zieht allein durch die unglaublich detailreichen Farbzeichnungen (und das raffinierte, dramaturgisch begründete Spiel mit Farbe und Schwarz-weiß) in Bann, von der kleinen Innenszene bis zum seitenfüllenden Panel einer Stadtansicht als Panorama. Hier wie auch in Mertens’ zweiten Album „Das große Los“, die beide jetzt auf Deutsch erschienen sind, scheint in jedem Panel Mertens jahrelange Arbeit beim Film durch. Die stimmungsvoll gesetzten Licht- und Schatteneffekte, die zwischen düsteren Häuserschatten und dem warmen Lichtermeer der Großstadt vermitteln, das Spiel mit ungewöhnlichen Perspektiven und die Auswahl des Bildausschnittes, der Erzählrhythmus, der durch die Handlungselemente, aber auch durch die unterschiedliche Größe und Anordnung der einzelnen Panels strukturiert wird – all das ist so nahe an einer Filmästhetik, wie man es selten in dieser Perfektion gesehen hat.
Mertens’ Vorlieben für den US-amerikanischen Film noir sind leicht auszumachen, aber auch für den kühlen, französischen Krimi, Verfilmungen der Romane von Georges Simenon oder Léo Malet, Werken mit Jean Gabin, Lino Ventura, Jean-Paul Belmondo oder Alain Delon, von Regisseuren wie Jean-Pierre Melville und anderen.
Die kleinen Träume der kleinen Menschen
Gleiches gilt für die Dramaturgie, die nach Exposition und langsamer Zuspitzung bei beiden Comics mit einem bösen Plot-Twist aufwartet. In „Das große Los“, zeitlich und örtlich ähnlich wie „Béatrice“ verortet, hier aber klassisch mit Sprechblasen erzählt, trifft es einen einsamen Fahrer einer Wäscherei, der – mit einem neuen Beifahrer konfrontiert – ebenfalls aus seinem Alltagstrott gerissen wird. Natürlich spielt die Geschichte in finsterstem Dauerregen, bei dem sich die grellen Großstadtlichter eindrucksvoll auf dem nassen Kopfsteinpflaster spiegeln.
Nach der Lektüre der Comics möchte man gleich wieder von vorne beginnen. Die Story kennt man nun ja, weshalb man sich in Ruhe in die fantastischen Zeichnungen versenken kann, von denen jede einzelne einem kleinen Gemälde gleicht. Auch um zu vergessen, dass Mertens für die kleinen Träume der Menschen kein gutes Ende bereithält. Das ist vielleicht das Einzige, was man diesem nicht mehr ganz so jungen Comic-Debütanten vorwerfen könnte.
Beatrice. Von Joris Mertens. Splitter Verlag, Bielefeld 2023. 112 S., 25,00 EUR. Bezug: In Jeder Buchhandlung oder hier.
Das große Los. Von Joris Mertens. Splitter Verlag, Bielefeld 2023. 144 S., 35,00 EUR. Bezug: In Jeder Buchhandlung oder hier.