© 20th Century Studios/The Walt Disney Company (Germany) GmbH (aus „A Haunting in Venice“)

Entsättigte Klangfarben - Hildur Guđnadóttir

Ein Porträt der eigenwilligen Musik der isländischen (Film-)Komponistin Hildur Guđnadóttir

Veröffentlicht am
20. September 2023
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Jenseits großer Orchesterklänge und eingängiger Melodien hat sich die Isländerin Hildur Guđnadóttir in den letzten Jahren zu einer der aufregendsten internationalen Filmkomponistinnen entwickelt. Für ihre Musik zu „Joker“ wurde sie mit einem „Oscar“ geehrt; aktuell ist ihre Arbeit für Kenneth Branaghs „A Haunting in Venice“ zu hören. Ein Porträt.


Wie klingt das Ende des Sommers? Wäre man in der Spätromantik eines Frederick Delius, würde die Sonne bereits nachmittags sehr tief stehen und die welk-roten Blätter würden mit subtilem Aufwand der gesamten Streicher-Besetzung von Dur nach Moll schwelgend-langsam in einen pittoresk gelegenen See in Yorkshire segeln …

Musik vermag eine Menge, wenn man sie entsprechend orchestriert. Auch bei Hildur Guđnadóttir spürt man Wehmut in ihren allenfalls vom Titel her an Programmmusik erinnernden Klängen. Die vier gesanglosen „Songs“ hat sie für Jóhann Jóhannssons Kurzfilm „Das Ende des Sommers“ zusammen mit dem Regisseur, ihrem langjährigen Freund, 2015 komponiert; außerdem ist sie im Soundtrack mit ihrem Lieblingsinstrument, dem Cello, auch als Musikerin zu hören. In Island, der Heimat von Guđnadóttir und Jóhannsson, wo sie am 4. September 1982 geboren wurde, geht der Sommer anders zu Ende als im mild-romantischen England. Das zeigen allein schon die harten Kontraste von Jóhannssons auf 8mm gedrehten Schwarz-weiß-Bildern von sich zusammenrottenden Pinguinen oder dem schon von Beginn an dunklen und dann langsam schwarz werdenden Sonnenuntergang, der den Film beschließt. 

Hildur Guđnadóttir (© IMAGO/Cover-Images/BauerGriffin/INSTARimages.com)
Hildur Guđnadóttir (© IMAGO/Cover-Images/BauerGriffin/INSTARimages.com)

Im Gegensatz zu Delius’ letztendlich hoffnungsfroher Spätsommermusik etwa der „North Country Sketches“, würde man sich bei Jóhannsson und Guđnadóttir nicht wundern, wenn sich die Sonne im Herbst einfach gar nicht mehr traut, aufzugehen. Wehmut macht sich bei den an eine geblasene Melodica erinnernden Clusterakkorden des elektronisch verfremdeten Cellos auch breit, und zwar eine endgültige, hoffnungslose. Guđnadóttir und Jóhannsson paaren ihre Klänge mit wortlosen Vokalisten, die wie Sirenen nicht vom Herbst, sondern vom Ende aller Zeiten künden. Das Ende des Sommers ist bei Guđnadóttir und Jóhannsson schlicht der beginnende ewige Winter.


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Hildur Guđnadóttir und Jóhann Jóhannsson als Seelenverwandte zu bezeichnen, ist so falsch nicht. Es scheint, als hätten sie von Beginn an zusammen (Film-)musik gemacht. Schon in Jóhannssons „Prisoners“ (2013), der die Hollywoodkarriere des 2018 so früh verstorbenen Isländers markierte, hat Guđnadóttir das Cello gespielt und mit der Komposition zu „Sicario 2“ („Sicario: Soldado“, 2018) hat sie quasi Jóhannssons Vermächtnis des filmmusikalisch bahnbrechenden ersten Teils von 2015 (nicht immer ganz überzeugend) fortgeführt.


Keine bunte Orchesterpalette

Hildur Guđnadóttir lässt keine schmeichelnde Farbe in ihre Kompositionen – so düster, so brutalistisch klingt ihre Musik. Selbst wenn es darum geht, tiefe Emotionen zu ergründen, wie in Garth Davis’ Bibelfilm „Maria Magdalena“ (2018), hält sie sich mit dem Ausstatten einer bunten Orchesterpalette eigentümlich zurück. Eine Bratsche, eine Violine, ein Saxophon, ein Piano, eine Gitarre, ein von Guđnadóttir gespieltes Halldorophon (hiervon wird noch die Rede sein) und eine Variation kaum lärmenden Schlagwerks: mehr braucht es nicht, um ihre nach wie vor archaische, staubige, nichtsdestotrotz melodischste Musik bislang zu komponieren. Die Wehmut hier geht ganz tief ins Herz und lässt den, der sich auf ihren Minimalismus einlässt, tief befriedigt, aber auch erschöpft zurück. Es ist nicht zuletzt diese Musik, die das dramaturgisch recht konventionelle Werk aus der Ecke der religiösen Kitschfilme führt.

Melodien sind nicht das Ding der Komponistin. Das stellt sie in die Riege jener Filmkomponisten Hollywoods, die quasi als Gegenpol zu Hans Zimmer oder den wenigen noch wirkenden Traditionalisten wie John Williams, Alexandre Desplat, Rachel Portman oder Patrick Doyle fungieren. Diese hatten die Filmmusik einst als Hort der Melodien bewahrt. Max Richter, Cliff Martinez, Clint Mansell, Jóhann Jóhannsson und Hildur Guđnadóttir haben aus der Melodie die Klangfarbe geschält und damit die klassische Filmmusik zu Grabe getragen. Dass diese Klangfarben bei Guđnadóttir entsättigt sind, steht außer Frage. Ihr Interesse gilt den musikalischen Abgründen, ganz analog zu den Sujets, die sie zu vertonen bereit ist.

„Joker“ ist der bislang bekannteste Film-Soundtrack der Komponistin (© Warner Bros.)
„Joker“ ist der bislang bekannteste Film-Soundtrack der Komponistin (© Warner Bros.)


Großer Durchbruch mit „Joker“ & „Chernobyl“

2019 war das Jahr der damals gerade einmal 37-Jährigen. Es ist das Jahr von „Joker“. 2020 bekam sie hierfür den Musik-„Oscar“, und zwar völlig zurecht, weil der isländische Blick auf den Superhelden-Wahnsinn einfach unglaublich sinnig, sinnlich und einprägsam ist. Sie hat nicht, wie sonst bei Marvel und DC üblich, Überwältigungsmusik betrieben, sondern mit der vielleicht gerade 40 Minuten währenden Musik in den zwei Stunden Film das psychische Abdriften des titelgebenden Protagonisten suggestiv herausgeflüstert. Es ist eine Musik für Synthesizer, Violine, Bratsche, Cello, Percussion und eben für dieses ominöse Instrument „Halldorophon“. Es sieht aus, als hätte Picasso ein Cello gemalt und in die Steckdose gesteckt. Es klingt, als würden seine Seiten auf Stahl in einem tiefen, lichtlosen Keller gestrichen. Es scheint ein Lieblingsinstrument Guđnadóttirs zu sein. Zumindest hat sie sich von dem isländischen „Erfinder“ Halldór Úlfarsson extra eines bauen lassen. Sie spielte damit auch in der Musik zu „Arrival“ oder in „Sicario: Soldado“, in dem sie es in Gedenken an Jóhannsson verwendet.

2019 ist aber vor allem das Jahr von „Chernobyl“, der brillanten Miniserie von HBO über die Reaktor-Tragödie. Hier kommt kein Halldorophon zum Zuge. Ohnehin ist hier kaum ein irdisches Instrument zu hören. Es scheint fast so, als stammen die Klänge allesamt vom Teufel, der im Sarkophag des immer noch brodelnden Atommeilers den Geigerzähler spielt. Die Miniserie „Chernobyl“ ist beseelt vom archaischen Sounddesign des vor Strahlung bröselnden Graphits sowie vom sakralen Generalbass, der sich wie Blei auf die Brust der Betrachter/Hörer legt und die Gewissheit streut, dass gerade das, was man nie sehen, nur spüren kann, die todbringende Gefahr darstellt. Hildur Guðnadóttir untermauert mit diesem atonalen, gewaltigen, gewalttätigen Musikansatz den Anspruch auf die würdige Nachfolge des Kollegen/Freundes/Landsmanns/Klangzauberers Jóhann Jóhannsson. „Chernobyl“ ist gleichsam eine Emanzipation von ihm und gehört zu den maßgeblichen Filmmusiken des 21. Jahrhunderts, auch wenn sie nie einen Kinosaal erfüllen konnte.


Nach Corona: „Die Aussprache“ & „Tár“

Was dann folgte, war Schweigen … zumindest ein filmmusikalisches. 2020 und 2021 lähmte so viele. Auch 2022 gab es keine Paukenschläge. Das wäre auch nicht Guðnadóttirs Stil gewesen. Ihr Wesen und ihre Kunst verlangt nicht nach Trommeln. „Women Talking“ ist sicherlich ihre konventionellste Filmmusik bislang. Der Film von Sarah Polley, der auf Deutsch „Die Aussprache“ heißt, spielt in einer von allem Weltlichen abgeschiedenen Mennonitenkolonie. Hier regiert die Vergangenheit, mit allen für die dort lebenden Frauen bitteren Konsequenzen. Die Musik ist dementsprechend retro. Ein zu viel an Ländlichkeit, ohne dabei ob all der Gitarren auszubrechen. Eine Enttäuschung, so wie der Film.

Neben Mahler und Elgar prägt Guðnadóttirs Musik das Künstlerinnendrama „Tár“ (© Focus Features, LLC./Universal Studios)
Guðnadóttirs Musik prägt auch das Künstlerinnendrama „Tár“ (© Focus Features, LLC./Universal Studios)

Doch dann gibt es ja auch noch „Tár“. In allen Belangen genau das Gegenteil von „Die Aussprache“. Ein wahrer Kunstfilm, der in der Welt des Kulturbetriebes spielt. Egomanische Klassikstars; weltlicher geht es kaum. Da es bei Todd Field in erster Linie ums Dirigieren, ums Scheitern, um Mahlers Fünfte und um Elgars Cello-Konzert geht, ist eigentlich für Filmmusik kein Platz. Dennoch durfte Hildur Guðnadóttir etwas Kleines, aber Feines zu diesem epischen Abgesang auf ein Künstlerego beisteuern: nämlich vor allem drei kurze Sätze eines wütenden, expressionistischen Cellostückes, das im Film die Dirigentin Lydia Tár (gespielt von Cate Blanchett) komponiert. Leider geht die Musik von Guðnadóttir im fertigen Zweieinhalbstunden-Film nahezu komplett unter. Tragisch, wenn man per definitionem gegen Mahler und Elgar nicht anspielen darf.


Heimsuchung mit Soloklarinette

Wie klingt Venedig 1947? Noch ein bisschen wie bei Luchino Visconti, nach Gustav Mahler? Nach Dekadenz und Verfall? Sicherlich nicht bei Hildur Guðnadóttir. Kenneth Branagh wollte für „A Haunting in Venice“ (2023) dezidiert keine Melodien von Patrick Doyle wie zu seinen letzten beiden Agatha-Christie-VerfilmungenMord im Orient Express“ und „Tod auf dem Nil“. „A Haunting in Venice“ sollte anders werden, ganz anders, düsterer und gruseliger. Es ist dem Regisseur auch ein Stück weit gelungen, was auch an der Musik liegt. Dabei gelingt es Guðnadóttir, die Musik-Klischees des Horrorgenres genial zu dekonstruieren. Nein, es gibt kein großes Orchester, keine Spieluhr. Eine einzige Soloklarinette begleitet die Zuschauer durch ein finsteres Haus, während von seiner noch finstereren Vergangenheit gekündet wird. Suggestiv, weil atemberaubend simpel. Leider hat ihr Branagh nur zweimal die Gelegenheit gegeben, mit diesem Einfall zu spielen. Vielleicht liegt es genau daran, dass der Film im Ganzen lange nicht so gruselig ist, wie er hätte sein können. Man hätte einfach die Komponistin machen lassen sollen!

Viel Musik hat Hildur Guðnadóttir auch zu ihrem neuesten Werk nicht beizusteuern, ihre Arbeit droht einmal mehr im Gesamtwerk unterzugehen. Doch ihr minimalistischer, modernistischer Ansatz ist ein Segen für den ansonsten sehr konservativen Ausstattungsfilm. Für die „Oscars“ wird das wahrscheinlich aber nicht reichen. Zu wünschen bleibt indes, dass Guðnadóttirs Kreativität bald wieder die Chance bekommt, abendfüllend zum Zuge zu kommen. Nicht nur ein paar Takte hier und ein paar Takte da. Als nächstes steht 2024 „Joker: Folie à Deux“ an. Hildur Guðnadóttir wird es schon richten!

Musik jenseits der Gruselklischees prägt „A Haunting in Venice“ (© The Walt Disney Company Switzerland)
Musik jenseits der Gruselklischees prägt „A Haunting in Venice“ (© The Walt Disney Company Switzerland)

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