Die Kulturwissenschaftlerin Christine Lang versucht mit einem ganzen Theorienbündel aus Film-, Theater-, Kunst-, Medien- und Literaturwissenschaft David Lynchs verschachteltem Jahrhundertfilm „Mulholland Drive“ auf die Spur zu kommen. Das liest sich nicht nur spannend, sondern funktioniert auch als Rätsel-Nachschlagewerk und gibt dem detektivischen Vergnügen am Film zusätzlichen Auftrieb.
Zwei Miniatur-Senioren mit hohen Stimmen krabbeln kichernd unter einer Tür hindurch und treiben eine Frau in den Suizid. Ein monsterartiges Wesen in Lumpen haust hinter einem Schnellrestaurant. Eine Sängerin bricht auf der Bühne ohnmächtig zusammen, aber ihre Stimme ertönt körperlos weiter. Auch wenn man „Mulholland Drive“ von David Lynch lange nicht mehr gesehen hat, erinnert man sich womöglich an solche Details. Und an die Frage: Was hat das alles zu bedeuten? Lässt sich das alles in einen logischen Zusammenhang bringen? Um was handelt es hier eigentlich: um einen Hollywood-Albtraum? Um eine Sterbefantasie? Einen verzwickten Krimi?
Den Plot nachzuerzählen, schreibt die Kulturwissenschaftlerin Christine Lang in ihrer Dissertation „David Lynchs ,Mulholland Drive‘ verstehen“, soll in ihren Augen nach dem Kinostart 2001 die erste Anstrengung der Filmkritik gewesen sein: der Versuch, das Geschehen um zwei Schauspielerinnen in Hollywood (Naomi Watts und Laura Harring) zu rekonstruieren. Zugleich sei in diesen Texten zu lesen gewesen – und das wird bis heute immer noch geschrieben –, dass sich die Geschichte logisch gar nicht aufzulösen lasse. „Mulholland Drive“ gilt vielen als ein besonders eindrucksvolles Beispiel für die Figur des inkonsistenten und „unzuverlässigen“ Erzählers.
Das Zauberkästchen öffnen
Dass ihre Arbeit ausgerechnet das „Verstehen“ im Titel führt, als gäbe es da doch etwas restlos aufzulösen, wirkt auf den ersten Blick schlicht, auf den zweiten anmaßend und auf den dritten wenig attraktiv. Denn kann das jemand ernsthaft wollen, dieses dunkle Zauberkästchen ans Licht zu zerren, es zu öffnen und bis ins letzte Detail auszuleuchten? Und dann auch noch „Szene für Szene“, wie ein Blick ins Inhaltsverzeichnis verrät? Kann es überhaupt einen „Schlüssel zum Verständnis“ geben, den noch niemand ausprobiert hat? Langs Antwort: Ja, nämlich die gute alte Dramaturgie.
Genau genommen das Verhältnis von „visuellem Erzählen“ und der „Dramaturgie der offenen Form“, wie es im Untertitel heißt. Dramaturgisch, behauptet Lang, sei der Film bisher weder hinreichend beschrieben noch verstanden worden. Wovon dieser Film wie erzählt und auch was die Dramaturgie als Praxis und als vernachlässigter Erkenntnisschlüssel kann, will Lang mit ihrer detaillierten Einzelstudie zeigen. Im Rückgriff auf ein großes Bündel an analytischen Werkzeugen aus Film-, Theater-, Kunst-, Literatur- und Kulturwissenschaft und unter Einbeziehung der Produktions- und Rezeptionsgeschichte will sie sowohl den „Erzählinhalt“ als auch „die künstlerischen Strategien“ von David Lynch nachvollziehbar machen. Und darüber hinaus das Bewusstsein für die vielfältigen künstlerischen Gemachtheiten cinematografischen Erzählens jenseits des Plots oder der Figurenpsychologie schärfen.
Dafür zieht Lang Begriffe heran, mit denen sich manche zuletzt im Einführungsseminar für Erzähltheorie oder im dritten Semester Theaterwissenschaft beschäftigt hat. Wolfgang Isers „impliziter Leser“ taucht ebenso auf wie Lessings „Hamburgische Dramaturgie“. Das Erstaunliche aber ist, wie produktiv Lang diese Konzepte wendet und dabei umgekehrt das Theoretische aus dem Film selbst herauszupräparieren versteht, ohne ihm seine frappierende Wirkung zu rauben. Im Gegenteil.
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Nach der Lektüre der Dissertation erscheinen plötzlich auch vermeintliche Nebensächlichkeiten in einem neuen Licht, und sei es nur ein ausgespuckter Schluck Espresso. Kaffee, so erfährt man, taucht innerhalb des Films mehrfach als „Symbol für Imaginationsfähigkeit“ auf. Dass einer der mafiösen Geldgeber des Films im Film, gespielt von dem Filmkomponisten Angelo Badalamenti, sich bei einer fast wortlosen Konferenz mit dem Regisseur Adam Kesher (Justin Theroux) einen hochgepriesenen Espresso aufdrängen lässt, mit miesepetriger Miene nach einer Stoffserviette verlangt und in diese dann sofort in aller Ausführlichkeit hineinspeien wird, ist demnach kein Ausweis des besonders elitären Geschmacks des Moguls. Sondern zeigt, dass dieser Mann des Geldes fantasielos ist und letztlich mit Kunst nicht allzu viel am Hut hat. Ein kleiner, fieser Gag.
Die Lektüre der ebenso nerdig-fleißigen wie übersichtlich strukturierten und klar lesbaren Arbeit öffnet lauter solche Türchen. Mit der Betonung auf „öffnet“, denn die „Bedeutungsoffenheit“ ist geradezu ein Wesensmerkmal ihres Sujets. Der Verdacht der spekulativen Überinterpretation mag sich beim Lesen manchmal reflexartig aufdrängen, doch Lang belegt alle ihre Beobachtungen und schafft durch Querverweise jederzeit eine hervorragende Orientierung sowohl im Film als auch im Buch selbst. Dort, wo es die Argumentation um einen der beiden Haupt-Handlungsstränge nahelegt, überspringt sie einzelne Szenen, verweist aber auf die spätere oder vorherige Analyse. Wo nötig, erinnern kleine Filmstills an die jeweiligen Motive und Momente, und am Ende liefert eine Tabelle eine anschauliche Übersicht über sämtliche Szenen.
Es macht Spaß, nach der erneuten Sichtung von „Mulholland Drive“ im Buch hin- und herzublättern. Und umgekehrt, sich nach dem Lesen die entsprechenden Sequenzen, Szenen oder einzelnen Bilder noch einmal genauer anzusehen. Wie Lynch aus seinem ursprünglich als Fernsehserie konzipierten, als solche zunächst unvollendetem Werk zu dieser einerseits durch Nachdrehs erweiterten und andererseits dann auf Kinofilmlänge reduzierten, fragmentarischen und doch „stabil“ und zwingend wirkenden Form fand, wie er dabei mit genretypischen Wiedererkennungswerten arbeitet, lässt noch immer staunen.
Brücke ins Heute
Das Meta-Symbol für die (filmische) Kunst, aber auch für das Begehren zu verstehen, zugleich die Schleuse in die Welt der Imagination, ist das blaue Kästchen, das die Frau ohne Gedächtnis (Laura Harring) nach ihrem Autounfall in ihrer Tasche findet. Der dazugehörige blaue Schlüssel wirkt futuristisch, aus der Zeit gefallen. Folgt man Lang, baut die film- und mediengeschichtliche Einordnung eine Brücke ins Heute. Stimmten bei der Premiere des Films Kritiker wie Fritz Göttler wehmütige Töne an, in denen „Mulholland Drive“ als Abgesang und letzte Feier des Kinos zu Beginn des neuen Jahrtausends und seiner Digitalisierungsrevolution beschrieben wurde, ist das Werk für Lang ein „Kind seiner Zeit“ auch im Sinne seiner Zukunftsgewandtheit: Wenige Jahre nach dem Kinostart erlangte der Film mit dem Aufkommen der DVD eine noch höhere Popularität, weit über den akademischen Zirkel hinaus. Erstmals konnten alle, nicht nur Filmschaffende, Bild für Bild sehr genau und wiederholt betrachten. Lynch-Fans teilten in den aufkommenden Sozialen Medien ihre Beobachtungen. Film und Regisseur, schreibt Lang in Anlehnung an Slavoj Žižeks Beschreibung von Alfred Hitchcock, könne man geradezu als „theoretisches Phänomen“ bezeichnen.
Die tendenziell unendliche Interpretationsanregung ist allerdings keine Spezifität von „Mulholland Drive“. Gerade zur Jahrtausendwende erschienen mehrere Filme, die zu einer solch „aktiven Rezeption“ aufforderten, etwa Bryan Singers „Die üblichen Verdächtigen“ (1995), „The Sixth Sense“ (1999) von M. Night Shyamalan, David Finchers „Fight Club“ (1999) oder Christopher Nolans „Memento“ (2000). Diese auch „Modular Narratives“, „Puzzlefilms“ oder „Mindgamefilms“ genannten Werke zielen auf ein „partizipatorisches Schauen“, bei dem die Spielregeln des jeweiligen „Erzählsystems“ beim (wiederholten) Sehen immer erst erlernt werden müssen. In Anlehnung an Umberto Ecos Beschreibung entsprechender literarischer Werke sind Zuschauende dazu eingeladen, „die Geschicklichkeit zu bewundern“, mit welcher der Film „ihre Wahrnehmung in die Irre geführt hat“.
Das Subjekt als Phantasma
Das eigentliche Thema von
„Mulholland Drive“, auf das alle Strategien, Symbole und Verweise hinführen, ist
Lang zufolge „das Subjekt als Phantasma“. Ein heilsames Korrektiv zum
gegenwärtigen Siegeszug hart umrissener Identitäten und bis zur Feindseligkeit
hochgehaltener Gewissheit, so und nicht anders zu sein und gesehen werden zu
wollen. Dass auf einen Schuss womöglich auch mal ein Gegenschuss folgt, der
dasselbe Subjekt zeigt, womöglich einen selbst, daran erinnere Lynch.
„Mulholland Drive verstehen“ ist eine verdienstvolle Arbeit, die großes Vergnügen bereitet und im Erklären der so wirkmächtigen Strategien des Films dessen Faszination zusätzlich steigert.
Literaturhinweis
David Lynchs ,Mulholland Drive verstehen‘. Visuelles Erzählen und die Dramaturgie der offenen Form. Von Christine Lang. transcript Verlag, Bielefeld 2023. 288 Seiten, zahlr. Abbildungen. 45 Euro. Bezug: In jeder Buchhandlung oder hier. Als PDF ist das Buch kostenlos hier downloadbar.