© Reprodukt/Sammy Harkham

Der Comic "Blood of the Virgin" über das Exploitationkino der 1970er-Jahre

Mit „Blood of the Virgin“ jagt der Comiczeichner Sammy Harkham seinen Antihelden Seymour durch die Niederungen des Exploitationkinos der frühen 1970er-Jahre

Veröffentlicht am
07. Mai 2023
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Seymour ist einer von unzähligen Filmenthusiasten, die vom Glücksversprechen Hollywoods angelockt in Los Angeles auf ihre Chance warten. Seymour, 27 Jahre jung, wohnt Anfang der 1970er-Jahre zusammen mit seiner Frau und dem Neugeborenen in einem kleinen Reihenhäuschen, das aussieht wie tausend andere. Als Cutter verdingt er sich bei einem kleineren Studio namens Reverie, das B-Movies produziert – also zwei oder drei Ligen unter dem glamourösen Hollywood, das man allgemein mit der Filmbranche in Los Angeles assoziiert.


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Die Devise des Studiobosses Val Henry lautet schlicht und einfach: schnell und billig produzieren! Damit steht das Firmencredo recht deutlich im Widerspruch zu Seymours eigenem Anspruch. Denn eigentlich will der Filmenthusiast mehr, als Filme aus lückenhaften Drehbüchern und windigen Drehs zusammenzuzimmern. In seinem Schreibtisch liegt ein Werwolf-Drehbuch, und letztendlich sieht er sich auch als Regisseur.

Seymour erhofft sich von seinem Drehbuch die große Chance in Hollywood: Die Cover-Abbildung (© Reprodukt/Sammy Harkham)
Seymour erhofft sich von seinem Drehbuch die große Chance in Hollywood: Die Cover-Abbildung (© Reprodukt/Sammy Harkham)

Als die Grindhouse- und Autokinos nach dem letzten Erfolg schnell nach einem neuen Film verlangen, sieht er eine Chance, dass sein Drehbuch endlich verfilmt wird. Und tatsächlich kauft Val den Stoff, und ein neuer Titel ist schnell gefunden: „Blood of the Virgin“! Aber anders als erhofft, will der Produzent den zwei Jahre jüngeren Oswald als Regisseur. Von nun an muss Seymour mitansehen, wie sein Drehbuch Seite für Seite verändert, beschnitten und auf den Kopf gestellt wird. Beim Dreh wird aus rein ökonomischen Gründen mal schnell eine entscheidende Szene aus dem Drehplan gestrichen, fehlende Einstellungen aus älteren Drehs für andere Filme einkopiert, wenn es nur halbwegs passt. Doch dann wird Oswald gefeuert – und Seymour erhält seine große Chance: Für „Blood of the Virgin“ muss er seinen ersten Auftrag als Regisseur meistern!


Knietief im Sumpf von Sex & Crime der B-Movies

In seinem über 300 Seiten starken Comic lässt Comickünstler Sammy Harkham die frühen 1970er-Jahre in L.A. auferstehen. Nicht den Glanz und Glamour von Hollywood, sondern die Seitenstraßen und die Sackgassen in den schmutzigen Randgebieten des billigen Genrefilms, des sogenannten Exploitationkinos. Dazu passt auch der visuelle Stil: Harkhams Schwarz-weiß-Zeichnungen erscheinen schnell skizziert und flüchtig, sind aber mit Grauflächen akzentuiert, die ihnen Atmosphäre und Tiefe verleihen. Nur in einem seiner erzählerischen Schlenker – einer rasant erzählten fiktiven Schauspielerbiografie quer durch das halbe Jahrhundert – gönnt er uns ein wenig Farbe. Größere Tableaus kommen eher sparsam zum Einsatz; stattdessen wird in „schnellen“ Sequenzen aus einer variablen Vielzahl an Panels erzählt, aus denen sich ein detailverliebtes Mosaik von Seymours Welt formt.

Hinter den Kulissen des Exploitationskinos (© Reprodukt/Sammy Harkham)
Hinter den Kulissen des Exploitationskinos (© Reprodukt/Sammy Harkham)

Harkham ist nicht nur für seine eigenen Arbeiten, sondern auch für seine verlegerische Tätigkeit bekannt. Neben seinem eigenen Comicmagazin „Crickets“, in dem bereits einzelne Kapitel von „Blood of the Virgin“ erschienen sind, veröffentlicht er die renommierte Anthologie „Kramers Ergot“, in der er in den letzten 20 Jahren das „Who’s Who“ der internationalen Comicszene publiziert hat.

„Blood of the Virgin“ entstand in den letzten 14 Jahren und ist sein Opus magnum, mit dem er das L.A. der frühen 1970er-Jahre so detailreich auferstehen lässt wie zuletzt im Kino Paul Thomas Anderson mit „Licorice Pizza“. Dank Harkham versinkt man als Leser:in knietief im Sumpf vom Sex & Crime der B-Movies. Wir erleben Seymours angespanntes Familienleben zwischen Windeln und Schlafentzug, wilde Film-Partys, aber auch Verhandlungen im Studio, Testscreenings, die Arbeit im Schneideraum und nicht zuletzt die Arbeit am Set.

Seymour gerät zunehmend an den Rand der Verzweiflung und darüber hinaus, wenn aus Kostengründen Szenen und ganze Rollen gestrichen werden. Noch schlimmer ist es jedoch, wenn die Billigvariante gedreht wird: mal stimmt das Tageslicht längst nicht mehr mit dem der vorangegangenen Einstellung überein, dann wird wiederum aus Zeitgründen der erste, miserable Take genommen. Außendrehs sind sowieso ungerne gesehen. Und „Nachdreh“ ist ein Fremdwort in dem Studio, weil viel zu teuer. Da verwendet man lieber ähnliche Aufnahmen aus anderen Filmen des Studios, die man einfach in den neuen Film hineinkopiert. Und wenn Seymour versucht, in einer Nachtschicht im Schnittraum zu retten, was zu retten ist, steht er am nächsten Tag vor verrammelter Tür: Val hat ihn ausgesperrt und das Projekt in andere Hände übergeben. Seymours Traum gerät zum Albtraum, der den Produktionsbedingungen eines Ed Wood, gerne als leidenschaftlich schlechtester Regisseur der Filmgeschichte apostrophiert („Glen oder Glenda“; „Plan 9 from Outer Space“ – 1994 von Tim Burton in „Ed Wood“ gewürdigt), gleicht.

Zwischen Familienalltag und Filmfantasien (© Reprodukt/Sammy Harkham)
Zwischen Familienalltag und Filmfantasien (© Reprodukt/Sammy Harkham)

„Du bist genau da, wo du sein sollst: ganz unten“

Seymour kämpft sich nicht nur durch seine berufliche Leidenschaft. Beziehungsprobleme stehen für den jungen Vater ebenso an der Tagesordnung wie Seitensprünge und Abstürze. Am Ende seiner Odyssee durch die Hinterhöfe Hollywoods läuft Seymour auf dem Bürgersteig zufällig Myron Finkle, seinem großen Regie-Helden, in die Arme. Der feierte in den 1950er- und 1960er-Jahren seine größten Erfolge, ist nun aber zum abgehalfterten Zyniker geworden. „Du dachtest, du würdest diesen Job lieben. Aber jetzt steckst du mittendrin und alles ist irgendwie anders. Du denkst, du bist nicht der Richtige, du schaffst es nicht … Aber du bist der Richtige. Du bist genau da, wo du sein sollst: ganz unten. Du wurdest verarscht. Daran gewöhnt man sich.“ Das Vorbild für den fiktiven Myron Finkle ist unschwer bei dem legendären B-Movie-Regisseur Roger Corman zu finden. Der hat es in Wirklichkeit deutlich besser getroffen als Finkle – und als Seymour. Aber letzterer kriegt ja vielleicht noch die Kurve ...


Blood of the Virgin“ von Sammy Harkham ist im April 2023 erschienen im Reprodukt Verlag. 269 S. Hardcover, 39 EUR.

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