© Neue Visionen (Thomas Brasch in "Brasch - Das Wünschen und das Fürchten")

Leders Journal (XIV): Bleiben will ich, wo ich nie gewesen bin

Die Fernsehsender kümmern sich bislang nicht um die Schätze in ihren Archiven. Eine Stichprobe anlässlich des biografischen Dramas „Lieber Thomas“, das aktuell in der arte-Mediathek zu sehen ist

Veröffentlicht am
07. Juli 2023
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Die Fernsehsender sind bislang kaum in der Lage, die Schätze ihrer riesigen Archive zugänglich zu machen. Exemplarisch lässt sich das an den verschenkten Möglichkeiten aufzeigen, das mit vielen Bundesfilmpreisen ausgezeichnete Drama „Lieber Thomas“ über den Schriftsteller Thomas Brasch in einen umfassenderen medialen Kontext zu stellen. Der Film ist aktuell in der arte-Mediathek zu sehen.


Merkwürdig, dass es im Fernsehen so selten gelingt, eine Art Zusammenhang dessen herzustellen, was in seinen Archiven isoliert und unter diversen Namen schlummert. Als ein Beispiel sei der Spielfilm „Lieber Thomas“ von Andreas Kleinert genannt, der 2021 in die Kinos kam, im darauffolgenden Jahr viele Bundesfilmpreise erhielt und augenblicklich gerade in der arte-Mediathek (noch bis 13. März) zugänglich ist.

Bis 13. März in der arte-Mediathek: "Lieber Thomas" (Wild Bunch)
Bis 13. März in der arte-Mediathek: "Lieber Thomas" (© Wild Bunch)

„Lieber Thomas“ ist eine biografische Studie des Schriftstellers und Filmregisseurs Thomas Brasch, der 2001 im Alter von 56 Jahren starb. Albrecht Schuch verkörpert ihn auf beeindruckende Weise. Zugleich bietet der Film einen besonderen Blick auf die deutsche Geschichte, denn Brasch war Sohn eines führenden DDR-Politikers, der seinen Kindern den Glauben an den Sozialismus zur Not auch mit Gewalt eintrichterte. Wie dieser Sohn dagegen aufbegehrte, wie er unter dieser Erziehung litt, und wie er sich dennoch nach der Liebe des übermächtigen Vaters sehnte, fasst der Film in so beeindruckende wie erzählerisch konsequente Szenen; so ist die Idee, den Vater Klaus Brasch und den Staatsratsvorsitzenden Erich Honecker von demselben Schauspieler (Jörg Schüttauf) darstellen zu lassen, ebenso überraschend wie nachvollziehbar, waren Vater Brasch und Honecker doch politisch befreundet und von derselben Schwarzen Pädagogik beseelt.

Im realen Leben ist Brasch, wenn man die Zeugnisse aller Freunde, Verwandten und Bekannten zusammennimmt, wohl genau der Berserker gewesen, als der er in „Mein Thomas“ dargestellt wird; jemand, der wie unter Zwang schrieb, enorm produktiv war – der Band seiner gesammelten Gedichte mit dem Titel „Die nennen das Schrei“ umfasst 790 Seiten –, dann aber an seinem großen Roman scheiterte, von dem im Archiv über 10.000 Seiten liegen sollen.


Das ZDF verschenkte eine Chance

Sein Leben als Filmregisseur kommt in „Lieber Thomas“ nur am Rande vor. Sein Studium an der Hochschule für Film und Fernsehen in Potsdam-Babelsberg wird nur kurz angedeutet; es dient vor allem dazu, ihn als rebellischen Geist zu zeigen, der wie Godards „Pierrot le fou“ den Verhältnissen den Spiegel vorhält.

Das ZDF, das an allen drei Kinofilmen von Brasch („Engel aus Eisen“, „Domino“ und „Der Passagier – Welcome to Germany“) als Co-Produzent beteiligt war (Redaktion jeweils Christoph Holch), hätte dies als Chance nutzen können, diese Filme zu wiederholen. Privat kann man das nachholen, da der Suhrkamp Verlag 2010 eine DVD-Box mit den genannten Titeln herausbrachte. Zu entdecken ist darin ein Regisseur mit einer Radikalität, wie sie im deutschen Film selten ist, und der über eine eigenen Bildsprache verfügte, an die Andreas Kleinert mitunter in „Lieber Thomas“ anknüpft, etwa das Flugzeugmotiv, wie er mitunter auch aus dessen literarischen Projekten – etwa die Traumszene des Doppelmordes – zitiert.

Wer etwas von dieser Bildsprache erfahren will, schaue sich nur den Beginn seines letzten Filmes „Der Passagier – Welcome to Germany“ (1988) an, wenn Tony Curtis in einer Plansequenz einer Kamera Anweisungen gibt, wie sie der Hauptfigur, die er als Regisseur eines zu drehenden Filmes für einen Moment spielt, zu folgen hat. Oder man betrachte die Szenen, in denen Katharina Thalbach in „Domino“ durch ein winterliches Berlin des Jahres 1982 streift. Oder man bewundere die reduzierte und eben gar nicht auftrumpfende Rekonstruktion des historischen Berlins Ende der 1940er-Jahre in „Engel aus Eisen“ (1981).

Man hätte sich auch vorstellen können, dass andere Sender den Dokumentarfilm „Brasch – Das Wünschen und das Fürchten“ (2011) von Christoph Rüther in ihr Programm hätten nehmen können, der Braschs Leben vor allem seit der Übersiedelung 1976 in die Bundesrepublik nacherzählt; unter anderem mit Videomaterial, das von Thomas Brasch selbst stammt. Im Netz ist auch das Filmporträt „annäherung an thomas brasch“ zu finden, das Georg Stefan Troller 1977 für das ZDF gedreht hatte. In diesem Film sieht man an einer Stelle, wie Brasch eine Schallplatte auflegt. In seinem Off-Kommentar sagt Troller dazu, dass er diese Szene nur dann verwenden durfte, wenn er erwähnte, dass er Brasch dazu animiert habe. Brasch beharrte also darauf, dass die Inszenierung dieser Szene innerhalb eines dokumentarischen Films sichtbar werde.


Brasch in den Streamingportalen

Bei den einschlägigen Streamingportalen findet man auch den Film „Familie Brasch – Eine deutsche Geschichte“ von Annekatrin Hendel aus dem Jahr 2018 zu entdecken, der die Familiengeschichte weitgehend aus der Perspektive von Marion Brasch, der Schwester von Thomas Brasch, erzählt. Marion Brasch hatte vieles davon bereits in ihrem Roman „Ab jetzt ist Ruhe. Roman meiner fabelhaften Familie“ (2012) berichtet. Auch Klaus Pohl, der als Schauspieler in den Filmen von Thomas Brasch mitgewirkt hat, behandelt in seinem Roman „Die Kinder der preußischen Wüste“ (2011) das Leben seines Freundes und dessen Familie.

"Familie Brasch - Eine deutsche Geschichte" (Salzgeber)
"Familie Brasch - Eine deutsche Geschichte" (© Salzgeber)

Thomas Brasch selbst hatte zu „Engel aus Eisen“ ein Taschenbuch vorgelegt, das neben dem Drehbuch auch Materialien zur Geschichte enthält. Ungleich opulenter ist der Bildband zu „Domino“, der viele Einstellungen des Films als Stills und alle Dialoge versammelt. Nicht zu vergessen der kleine Essay- und Interview-Band „Der Passagier – Das Passagere“, den Karsten Witte 1988 herausbrachte.

Von den Filmprojekten, die Brasch nicht realisieren konnte, erfährt man etwas im Buch „Das blanke Wesen. Thomas Brasch“, das Martina Hanf und Kristin Schulz 2004 herausgebracht haben. Beispielsweise kann man den grandiosen Entwurf eines radikalen Spielfilms „Das Fest der Besiegten“ nachlesen, der seine Geschichte am Rande der Ereignisse des 17. Juni 1953 entwickelt. „Bei der Besetzung“, hat Brasch dem Entwurf beigefügt, „ist an Giulietta Masina, Gene Hackman, Katharina Thalbach und Max von Sydow gedacht“. Man hielte das für bizarr, wüsste man nicht, dass Brasch für „Der Passagier – Welcome to Germany“ Tony Curtis für die Hauptrolle und für „Engel aus Eisen“ Walter Lassally als Kameramann gewinnen konnte.

Wer etwas vom Schriftsteller Thomas Brasch lesen möchte, dem sei neben der bereits erwähnten Gesamtausgabe der Gedichte sein erster Erzählungsband „Vor den Vätern sterben die Söhne“ empfohlen. In vielen Gedichten wie in manchen Passagen der Erzählungen schimmert etwas von dem durch, was Thomas Brasch an Filmen (und an Popmusik) mochte. Unter den Gedichten ist auch jenes – etwas versteckt – zu finden, von dem sich der Film „Lieber Thomas“ die Zwischentitel borgte. Es ist der 6. Teil vom Zyklus „Der Papiertiger“ (zuerst im Band „Kargo“ 1977 veröffentlicht) und geht so:


„Was ich habe, will ich nicht verlieren, aber

wo ich bin will ich nicht bleiben, aber

die ich liebe, will ich nicht verlassen, aber

die ich kenne will ich nicht mehr sehen, aber

wo ich lebe, da will ich nicht sterben, aber

wo ich sterbe, da will ich nicht hin:
Bleiben will ich, wo ich nie gewesen bin.“



Literaturhinweise


Texte von Thomas Brasch

Thomas Brasch, Vor den Vätern sterben die Söhne. Berlin 1977

Thomas Brasch, Kargo. 32. Versuch auf einem untergehenden Schiff aus der eigenen Haut zu kommen. Frankfurt am Main 1977

Thomas Brasch, Die nennen das Schlaf. Gesammelte Gedichte. Herausgegeben von Martina Hanf und Kristin Schulz. Berlin 2013

Thomas Brasch, Engel aus Eisen. Beschreibung eines Films. Frankfurt am Main 1981

Thomas Brasch, Domino. Ein Film. Frankfurt am Main 1982.


Texte zu Thomas Brasch

Martina Hanf/Kristin Schulz (Hg.), Thomas Brasch. Das blanke Wesen. Arbeitsbuch. (=Theater der Zeit) Berlin 2004. (Enthält neben den Skizzen von Filmvorhaben Filme auch Auszüge aus seinen Tagebüchern.)

Karsten Witte, Der Passagier – Das Passagere. Gedanken über Filmarbeit. (Enthält ein Gespräch mit Thomas Brasch und einen Essay von Karsten Witte) Frankfurt am Main 1988

Georg Stefan Troller, Annäherung an Thomas Brasch. Deutschland 1977

Christoph Rüter. BRASCH – Das Wünschen und das Fürchten. Deutschland 2011

Annekatrin Hendel, Familie Brasch. Deutschland 2018

Marion Brasch, Ab jetzt ist Ruhe. Roman meiner fabelhaften Familie. Frankfurt am Main 2013

Klaus Pohl, Die Kinder der preußischen Wüste. Roman. Hamburg 2011

Insa Wilke, Ist das ein Leben. Der Dichter Thomas Brasch. Berlin 2010

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