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Filmliteratur: „Filmzeit, Lebenszeit“

Edgar Reitz lässt in seiner fast 700-seitigen Autobiografie die Stationen seines Lebens und Schaffens Revue passieren

Veröffentlicht am
24. Januar 2023
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Der 90-jährige „Heimat“-Schöpfer Edgar Reitz lässt in seiner fast 700-seitigen Autobiografie die Stationen seines Lebens und Schaffens Revue passieren. Anekdotenreich erzählt er so episch wie persönlich und nahe an den Zeitläufen eines ganzen Jahrhunderts.


„Historische Daten haben etwas Willkürliches“, schreibt Edgar Reitz am Anfang des Kapitels „Nebensachen“. „Sie suggerieren uns, dass es eine Hierarchie der Ereignisse gibt, durch die festgelegt ist, was unausweichliche Konsequenzen hat. Ich habe diese Sicht, die das Leben in Haupt- und Nebenlinien aufteilt, nie wirklich verstanden. Beim Erzählen von Geschichten ist meine Lust an den Nebensachen sogar immer stärker geworden, bis ich glaubte, in ihnen das Geheimnis gefunden zu haben, das eine Geschichte zum Leben erweckt. In den Hauptsachen erstarren die Geschichten, in den Nebensachen blühen sie auf.“ Das tun auch seine Memoiren. „Filmzeit, Lebenszeit“ ist ein veritables Erinnerungsbuch, das mit seinen vielen Verzweigungen schnell eine Sogwirkung entfaltet.


Ärger mit den „Quoten-Idioten“

Reitz fängt chronologisch mit seiner Kindheit in Hunsrück in den 1930er-Jahren an und setzt die innere Reise mit der Jugend im Krieg und der Nachkriegszeit fort. Die Autorenfilmerzeit in Ulm und München während der 1960er-Jahre schließt sich an. Reitz war 1962 Unterzeichner des Oberhausener Manifests und entwickelte neben Herzog, Wenders oder Fassbinder eine eigene Sicht auf den Neuen Deutschen Film. Danach die Entstehung des autobiografisch gefärbten „Heimat“-Epos ab 1981, das die deutsche Geschichte des 20. Jahrhunderts aus der Alltagsperspektive von unten einfing. Das gewagte Projekt, das innerhalb des öffentlich-rechtlichen Fernsehens entstand, erwies sich als Triumph eines neuen filmischen Erzählens, das weitere Nachfolgeprojekte nach sich zog, was nicht heißt, dass es keine Probleme gab. Im Kapitel „Die Fernsehdämmerung“ berichtet Reitz ausführlich über den Einzug der „Quoten-Idioten“ seit den Nullerjahren, die ihm seine Arbeit erheblich erschwert haben.

„Es gibt nur wenige Höhepunkte, die mir in diesem Erfolgszirkus unvergesslich blieben“, schreibt er aber auch schmunzelnd. „Eine schöne Erinnerung knüpft sich an die Aufführungsreihe im Pariser Vorort Nanterre, wo der Regisseur Patrice Chéreau im Théatre des Amandiers, dessen Intendant er damals war, sechs Wochen lang „Heimat“ zeigte. Scharenweise zogen die Pariser Filmfreunde Abend für Abend in den Vorort. Die Stadtverwaltung musste einen Sonderzug eigens für die „Heimat“-Besucher einsetzen.“

Dazwischen reihen sich Erinnerungen an unzählige Begegnungen, etwa mit Willy Zielke, den wegweisenden Kameramann und das Opfer von Leni Riefenstahl, mit Romy Schneider, Josef von Sternberg oder Luis Buñuel, natürlich auch mit den deutschen Kollegen Alexander Kluge und Werner Herzog, die großen Einfluss auf sein Werk ausübten.

Aus dem monmentualen "Heimat"-Zyklus (imago/United Archives)
Aus dem monumentalen "Heimat"-Zyklus (imago/United Archives)

Auch Privates kommt unaufdringlich zur Sprache. Oder Reflexionen über sein bevorzugtes Thema Zeit. „Kann es sein, dass Zeit nur eine menschliche Erfindung ist, um Kausalitäten, Willen und Handeln, Entfernung und Nähe zu erklären?“, schreibt er am Ende des Buchs. „Ist es vielleicht so, dass es eine für alle verbindliche Zeit, die objektiv beschrieben werden kann, gar nicht gibt?“


Wachsen heißt Vergessen

Die Zeit, die man für die Lektüre des Buches investiert, ist definitiv bestens aufgehoben, wenn man ins Schwarze treffende Gedanken über die Gegenwart wie diese zu lesen bekommt: „Erinnerung ist inzwischen ein von Manipulation und kommerziellen Interessen überwuchertes Gelände. Das Vergessen hat eine neue Dimension angenommen. Wachstum und Vergessen sind eng miteinander verbunden. Solange Wachstum eine Gottheit der Industriegesellschaft ist, wird das Vergessen herrschen, denn es ist die Voraussetzung des Neuen. Der Wachstumswahn hat auch alle Kulturbereiche erfasst. Jedes Jahr gibt es mehr Künstler aller Sparten, und folglich werden jedes Jahr mehr Künstler vergessen. Ganz zu schweigen von den Großen der vergangenen Jahrzehnte, Menschenwachstum bedeutet Menschenvergessenheit.“



Literaturhinweis

Filmzeit, Lebenszeit. Erinnerungen. Von Edgar Reitz. Rowohlt Berlin Verlag, Berlin 2022. 672 S., 30 EUR. Bezug: in jeder Buchhandlung oder hier.

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