Der
1979 erschienene estnische Science-Fiction-Film „Hotel ,Zum verunglückten
Alpinisten“ fußt auf dem gleichnamigen Roman von Arkadi und Boris Strugatzki,
die mit ihren fantastischen Büchern im sowjetischen Kino tiefe Spuren
hinterlassen haben. Ein Inspektor soll in einem von der Außenwelt abgeschnittenen
Gebirgshotel einen Mord aufklären, bei dem es nicht mit rechten Dingen
zuzugehen scheint. Eine tief melancholische, oft ins Psychedelische abdriftende Genremischung, die mit viel Eigensinn um den
anthropologischen Kern der Erzählung kreist.
Licht und Schatten kämpfen auf dem Gebirgszug um die Vorherrschaft. Während sie Schnee und Felsgestein untereinander aufteilen, schlängelt sich ein Auto über die Serpentinen den Berg hinab. Sein Ziel ist das im Tal liegende Hotel „Zum verunglückten Bergsteiger“. In seinem Inneren spiegeln sich die außerweltlichen Lichtverhältnisse: Grelle Lichtinseln kämpfen um einen Platz in der ansonsten düsteren Eingangshalle. Drinnen wie draußen herrschen die Schatten des dunkelsten Tages und das Licht der hellsten Nacht.
Inspektor Glebski (Uldis Pucitis), der Fahrer des Autors und jüngster Gast des Hotels, hat kein Auge für den Kampf der fremden Kräfte. Ebenso wenig weiß er, woher der Notruf stammt, auf Grund dessen er hierhin entsandt wurde. Für ihn ist das Hotel wenig mehr als ein mit Kuriositäten gewürzter Einsatzort: Spät-Art-Déco-Interieur, ein Hotelhund, der das Gepäck aufs Zimmer bringt und eine Reihe schrulliger Hotelgäste. Glebski lernt sie beim Dinner und auf der anschließenden Party kennen. Mrs. Moses (Irena Kriausaite) macht ihm schöne Augen, fordert ihn zum Tanz auf, bei dem sich das ungleiche Paar näher-, aber doch nie wirklich nahekommt.
Alle sind verdächtig
Mrs. Moses und Glebski rotieren, ausschließlich in Close-Ups gefilmt, von Angesicht zu Angesicht umeinander, bleiben dabei jedoch immer in zwei Einstellungen und damit in zwei unterschiedliche Sphären separiert. Was Glebski zu diesem Zeitpunkt nicht ahnt: Hier tanzen nicht Mann und Frau miteinander und aneinander vorbei, sondern zwei gänzlich fremde Wesen. Als eine Lawine über dem Hotel abgeht, sind sie und die anderen Bewohner des Hotels von der Außenwelt abgeschnitten. Als ein Mord geschieht, sind sie alle Verdächtige.
Ein reiner Agatha-Christie-Krimi ist „Hotel ,Zum verunglückten Alpinisten‘“ dennoch so wenig, wie Protagonist Glebski ein echter Hercule Poirot ist. Die Ermittlungen des pflichtbewussten Inspektors sind tölpelhaft genug, um weder dem Mörder noch den außerweltlichen Kräften auf die Schliche zu kommen. Die eigene Zerrissenheit, die die unweigerliche Konfrontation mit der für ihn unerklärlichen, aber dennoch nicht widerlegbaren Realität des Falls mit sich zieht, reflektiert er in einem Voice-Over, das im Finale zum direkt in die Kamera gesprochenen Gewissenskonflikt wird. Das Pflichtbewusstsein des Staatsdieners ringt mit dem Glauben an eine Kraft, die sich den Regeln der Staatsdoktrin entzieht. Als jemand, der allein entlang dieser Doktrin ermittelt und mit ihrer Rationalität das Außerweltliche und das Surreale zu fassen versucht, greift er ein ums andere Mal ins Leere.
Eine Drift in Surreale
Das Whodunit-Szenario driftet derweil, zu den fantastischen Synthie-Klängen der Filmmusik von Sven Grünberg, sukzessive ins Surreale ab. Ein Mann küsst eine Frau, die keine Frau mehr ist, sondern eine leblose Hülle; ein Mann wird von seinem Ebenbild angegriffen und der Inspektor hat Tagträume von verunglückenden Skifahrern. Das Fremde, an das Glebski nur im Traum zu glauben mag, ist die Schnittstelle der Genres, die die Romanvorlage und das Drehbuch der Brüder Arkadi und Boris Strugatzki mehr gegeneinander ausspielen als miteinander verschmelzen. Als Mysterium ist es der Motor für einen Krimi-Plot, der von scheiternden Ermittlungen erzählt, als übernatürliche Präsenz steht es für einen Lebensentwurf jenseits der stumpfen Rationalitäts- und Autoritätsdoktrin des Staates.
Regisseur Grigori Kromanow, der mit „Hotel ,Zum verunglückten Alpinisten‘“ (1979) und „Die letzte Reliquie“ (1969) gleich zwei Klassiker des estnischen Kinos schuf, taucht die Vorlage der Strugatzkis in psychedelische, humorvolle und surreale Momente, bleibt aber immer in der tiefen Melancholie des sowjetischen Alltags gefangen, den die Vorlage reflektiert. Im Widerspiel der thematischen Pole (Poesie und Rationalität, Gewissen und Pflichtbewusstsein, Regimetreue und Weltoffenheit) wird die Begegnung mit dem Außerweltlichen, wie so oft in der sowjetischen Science-Fiction, zum anthropologischen Phänomen. Erleuchtet wird der Mensch, in einer Welt, in der auf die hellste Nacht der dunkelste Tag folgt.
Hotel "Zum verunglückten Alpinisten". R: Grigori Kromanow. Mit Uldis Pucitis, Jüro Järvat, Lembit Peterson, Mikk Mikiver, Karis Serbis, Irena Kriauzaite. 84. Min. FSK: ab 12. Anbieter: Camera Obscura. Der Film ist als Mediabook (BD + DVD) erschienen. Bonus: Making of, Essay von Chris Schinke. Bezug: In jeder Buchhandlung oder hier.