Die portugiesische Kinogeschichte wird oft mit Manoel de Oliveira gleichgesetzt, doch brachte das Land auch jenseits dieses filmischen Übervaters Filmemacher von internationalem Format hervor. Für Stephan Ahrens gehören die Werke des Regisseurs Fernando Lopes (1935-2012) zu den aufregendsten Filmen aus Portugal: Ein Oeuvre, das im Cinema Novo der 1960er-Jahre seinen Anfang nahm und bis in die 2000er-Jahre hinein die politischen Wandel des Jahrhunderts in einfühlenden Dokumentarfilmen wie in bitterbösen Satiren spiegelte.
Die Chance, ein großer Boxer zu werden, ist verpasst. Sein Bruder gab sich in einem Boxkampf für ihn aus, ging k.o., und als der Versuch, seinen Ruf wiederherzustellen, scheitert, lässt ihn sein Agent in Portugal fallen. Nun ist er 31 Jahre alt.
„Belarmino“ (1964) ist ein Film über ein verpasstes Leben. „Hätte Belarmino in einem anderen Land gelebt, wäre vielleicht ein großer Champion aus ihm geworden“, wird ernüchtert zusammengefasst. Mit einer distanzierten, meist aus der Ferne ihren Protagonisten suchenden Kamera folgt Regisseur Fernando Lopes dem BoxerBelarmino Fragoso auf seinen einsamen Streifzügen durch Lissabon, über die Praça dos Restauradores, an Tramhaltestellen, wo er Frauen nachstellt, in Cabarets und Bars. Den Fluss des alltäglichen Lebens bremst Lopes mit Standbildern. Den entscheidenden Boxkampf friert er immer wieder ein, im gestoppten Bild lässt sich Belarminos Gesicht genau betrachten und ausdeuten. Die Physiognomie des Boxers ist abweisend, zerrüttet von Kämpfen, sein Gesicht hart. Aber hier sehen wir nicht mehr als zuvor. Belarmino bleibt uns fremd. Vielleicht deckt Film die Wahrheit auf, aber was, so fragt Lopes hier, sehen wir von der Wahrheit?
Das könnte Sie auch interessieren:
Am Ende bummelt Belarmino übermüdet durch die morgengrauende Stadt, besprengt sein Gesicht mit kaltem Wasser und schlendert schließlich aus dem Bild, verschwindet aus dem Film. Wie sehr kann man einen Menschen verstehen?
Pionier des Cinema Novo
Auch wenn er weit weniger poetisch-provozierend als „Os Verdes Anos“ (1964) von Paulo Rocha daherkommt, gehört „Belarmino“ zu den Gründungsfilmen des sogenannten Cinema Novo, zu jenem filmischen Aufbruch, mit dem in Portugal in den 1960er-Jahren eine filmische Neue Welle losbrach. Die Lage des portugiesischen Kinos im Jahr 1957, als Lopes seine Ausbildung beim Fernsehen begann, ließe sich in Anlehnung an „Belarmino“ zusammenfassen: „Würde man in einem anderen Land leben, ließen sich anspruchsvolle Filme drehen.“ Mit Hilfe eines neuen staatlichen Stipendiumprogrammes, mit dem Nachwuchsfilmschaffende im Ausland ausgebildet werden sollten, um das portugiesische Kino auf Vordermann zu bringen, ging Lopes nach London. Von dort brachte er die Überzeugung mit, ein Film müsse eine Einstellung zur Gesellschaft haben, könne nicht an ihr vorbeifilmen.
Bereits 1961 lief sein Kurzfilm „As Pedras e o Tempo“ im Rahmen eines Nachwuchsprogramms. Der Dokumentarfilm über Stein gewordene Geschichte in Evora, einer der ältesten Städte des Landes, markiert einen Aufbruch. Doch trotz dieser Vorreiterrolle konnte Lopes nie die Aufmerksamkeit gewinnen wie der vielleicht künstlerisch rückhaltlosere Rocha und stand — wie fast jeder portugiesische Filmschaffende — im Schatten von Manoel de Oliveira. Lopes war kein Stilist. Brüche und Wechsel durchziehen sein Werk, Geniales steht neben Konventionellem. Lopes’ Kino ist eine berührende Introvertiertheit eigen, in dem er kritisch nach den möglichen Ausbrüchen aus einer abweisenden Gesellschaft sucht.
Versteinerte Beziehungen in der Salazar-Diktatur
Während „Belarmino“ sich seinem Protagonisten dokumentarisch nähert, ist „Uma Abelha na Chuva“ (1972) jeder dokumentarischen Einstellung fern. Wieder ist die Welt wie in „As Pedras e o Tempo“ eine versteinerte. In langsamen, von rechts nach links laufenden Bewegungen fängt die Kamera eher zufällig die Handelnden ein. In diesem erstarrten Milieu lebt ein Paar, reich, feudal und voller Hass. Auf dem Weg zu ihrem Anwesen bittet die Frau den Kutscher, auf das lahmende Pferd Rücksicht zu nehmen. Neben ihr schnarcht der Gatte, sein schlaffer Körper sackt immer mehr zu ihr. Sehr langsam und umso intensiver steigt in ihrem angespannten Gesicht Ekel auf: Nur noch nach Hause, weg von dem Mann. Sie ergreift die Peitsche. Vom Trittbrett aus treibt sie das Pferd unnachgiebig an.
Freilich lassen sich die Geschichte von abgebrochenen Lebensläufen und verstockten Beziehungen als ein Kommentar auf das Leben im Estado Novo des Diktators Salazar lesen. Lopes war immer ein politischer Filmemacher und beschrieb Belarmino als einen Revolutionär: „Er war das Gegenteil jener Erstickung, in der Portugal zu dieser Zeit war.“ Belarmino ist Hoffnungsträger, aber kein Tatmensch. Während der Nelkenrevolution 1974/75 glaubte Lopes an einen aktiven Neuanfang. Das Kollektiv ersetzte den Regisseur und Lopes drehte zusammen mit Gérard Castello Lopes und Nunu de Bragança „Nacionalidade: Portugués“.
Die Strenge und das Misstrauen
Doch steht in Lopes’ Kino der Vereinzelte im Mittelpunkt. In ebenso strengen, ruhigen wie faszinierenden Inszenierungen spiegelt sich bei Lopes in ruinösen Beziehungen gesellschaftliche Gegenwart. So gelang ihm 2002 mit „O Delfim“ eine bitterböse Analyse der letzten Jahre des Estado Novo. Ende der 1960er-Jahre ist der Dauphin Palma Bravo die gefürchtete Autorität in dem Städtchen Gafeira und über die Lagune. Ein Jahr später ist er verschwunden, lebt nur noch in Gerüchten weiter und um die Lagune herum darf jeder jagen. Aber in dem Jägerkollektiv planen bereits die ersten, die Jagd als ein Event für Touristen anzulegen. Die Revolutionäre des Fremdenverkehrs sind an die Stelle des Dauphins getreten, an den sich scheinbar nur noch ein Jagdgast, der Erzähler, genau erinnert. Er war bei Palma Bravo eingeladen und wurde Zeuge einer Ehe, in der der Mann seiner Frau jeglichen Umgang verbietet.
„O Delfim“ spielt in jener Zeit, in der „Uma Abelha na Chuva“ entstand, und teilt mit ihm das Milieu. Aber hier ist eine Ehe nicht in Hass versunken. Die Frau, Maria de Mercês, sehnt sich nach Berührungen ihres Mannes, der nur seine Hand zu heben braucht, um in ihrem Gesicht den Ausdruck gespannter Erwartung aufscheinen zu lassen. Wir sehen Marias Hände erst beim Solitär, dann beim lustvollen Streicheln eines Seidenschals und schließlich auf der nackten Brust des aus Angola stammenden Dieners Domingos. Von hier beginnt indes keine heimliche Affäre, sondern ein Verbrechen. Nach einer durchzechten Nacht streichelt Palma Bravo, noch schlaftrunken, die Schulter neben ihm, greift in das kurze, lockige Haar. Erschrocken erkennt er Domingos neben sich, seine leblosen Augen weit aufgerissen. Hier tötet nicht der Ehemann den Geliebten, die Ehefrau legt ihrem Gatten eine Leiche ins Bett. Ein ehelicher Betrug schmiedet neue, zuweilen rachsüchtige Bindungen, wie Lopes es in „Os sorrisos do destino“ (2009) inszeniert. Dieses Verbrechen hingegen zerstört jede Bindung. Tatmenschen misstraute Lopes.
Fotos: Gemini Films, Atalanta Filmes, Midas Filmes