Glaubt man französischen Spielfilmen, dann war die Rue Bleue im 9. Pariser Arrondissement in den 1960er-Jahren Mittelpunkt und Synonym für das Leben der Einwanderer. Doch während Chad Chanouga in „17, rue Bleue“ (2001) ein eher düsteres Bild des Viertels und seiner Bewohner, vor allem der dort lebenden Kinder, zeichnet, setzt es François Dupeyron bei „Monsieur Ibrahim und die Blumen des Koran“ in ein freundliches, fast märchenhaftes Licht. Zwar hat auch Momo, der 16-jährige Held, kein Geld und versucht, im Lebensmittelladen des alten Monsieur Ibrahim zu stehlen. Aber Ibrahim verdammt den jugendlichen Ladendieb nicht, sondern versucht, ihn zu verstehen und zu erziehen. Dabei fallen oft Sätze, die in ihrer Einfachheit an Saint-Exupérys kleinen Prinzen erinnern, etwa „Wenn du etwas lernen willst, dann nimm kein Buch, sondern sprich mit jemanden“, oder „Lächeln macht glücklich“ und „Das Paradies steht jedem offen“. Der Film basiert auf einem (nicht nur in Frankreich) erfolgreichen Roman, was seine Sprache und den märchenhaften Charakter erklärt, der sich ganz der Forderung der Nächstenliebe und Toleranz widmet. Denn Momo ist Jude, er lebt bei seinem Vater, einem depressiven Holocaust-Überlebenden, der nie Geld hat.
Der alte Ibrahim, der aussieht wie ein Araber, in Wahrheit aber ein türkischer Moslem ist, fühlt sich genauso einsam wie Momo. Er ist ein Sufi, Anhänger einer mystischen Richtung des Islam, der in der Versenkung das Seelenheil sucht und mit seiner Vitalität dem pubertierenden Jungen imponiert. Momo will endlich Sex mit einer Frau, am liebsten mit einer der Prostituierten, die täglich vor ihm auf der Straße auf- und abgehen. Seine Wunschfrau weist ihn ab, aber mit einer afrikanischen Prostituierten ist er dann auch zufrieden und schenkt ihr zum Zeichen seiner Dankbarkeit sogar seinen Teddybären. So findet er langsam den Mut, das jüdische Mädchen anzusprechen, in das er sich verliebt hat. Doch diese kann mit Momo nichts anfangen, und so landet er wieder bei Ibrahim. Als Momos Vater den Jungen mit ein bisschen Geld allein zurücklässt, um sich anderswo eine Arbeit zu suchen, klammert sich Momo noch mehr an Ibrahim und gibt sich sogar seiner Mutter nicht zu erkennen, als diese ihn mitnehmen will. Das ist kein Wunder, denn Momo und Ibrahim haben viel Spaß miteinander, beispielsweise als der Filmstar Brigitte Bardot (gespielt von Isabelle Adjani) im freizügigen Outfit durch die Straße bummelt, in Ibrahims Laden einkauft und von ihm übers Ohr gehauen wird. Oder wenn Ibrahim versucht, den Führerschein zu erwerben, damit er sich endlich seinen Herzenswunsch erfüllen kann: mit dem Auto in sein türkisches Heimatdorf zu fahren. Die Reise wird für die beiden zum Abenteuer mit einem unerwarteten Ende.
Immer dann, wenn sich Dupeyron darauf konzentriert, den Zeitgeist einzufangen, ist sein Film wunderbar leicht: Die Sonne scheint, die Prostituierten und die anderen selbstbewussten Frauen lachen und flanieren durch die enge Straßen, der pubertierende Momo beobachtet sie mit großen Augen und hört dazu im Radio „Hey Baby“ oder „The More I See You“, weshalb er gar nicht anders kann, als das Leben schön zu finden. Dupeyron und Kameramann Rémy Chevrin zeigen immer nur einen kleinen Ausschnitt der Straße, ohne das, was daneben im großen Paris passiert, und schaffen es dennoch, eine stimmige Atmosphäre zu zaubern. Dagegen wirken die Szenen mit Ibrahim und Momo im Laden stets ein wenig bemüht, zumal bei den leicht philosophischen Gesprächen im Hintergrund auch noch Songs erklingen wie „Why Can’t We Live Together“ und die beiden Protagonisten nie richtig Streit bekommen, weil der gute Ibrahim immer lächelt und alles im milden Licht seiner Religion betrachtet. Doch Omar Sharif, inzwischen 71, spielt den lebensweisen Muslim mit bemerkenswerter Zurückhaltung und einer Nonchalance, die ihn ins Zeitlose, Märchenhafte entrückt (er bekam dafür einen „César“ als bester Hauptdarsteller), während der junge Pierre Boulanger als Momo seinen Gefühlen freien Lauf lassen kann und die Entwicklung seiner Figur überzeugend verkörpert. Der Enge des Pariser Lebens wird im letzten Viertel des Films die Weite der Landschaft in der Türkei gegenübergestellt, was ohne Bruch geht, weil es die ohnehin schon vorhandene mythische Überhöhung nur noch etwas stärker betont. Dass die Reise nicht ganz so ausgeht, wie es sich beide erwarten, ahnt man früh. Das nimmt dem Film zwar seine Spannung, aber nicht seine schönen Bilder und die betonte Lehrhaftigkeit.