Momentaufnahmen einer nicht vorhersehbaren Katastrophe: Am 23. Dezember 1993 betritt ein Student die Zweigstelle einer Wiener Bank, ermordet drei Menschen, tötet sich anschließend selbst. Eine überaus sachlich angelegte Chronologie der Ereignisse, die das Leben der einzelnen Beteiligten vorstellt, die auf Grund einer unglückseligen Verkettung in den Amoklauf einbezogen werden. Ein sehr kühler Film, der keine psychologische Erklärung liefert und durch seine distanzierte Betrachtungsweise für nachhaltige Verunsicherung sorgt.
- Sehenswert.
71 Fragmente einer Chronologie des Zufalls
Drama | Österreich/Deutschland 1993/94 | 99 Minuten
Regie: Michael Haneke
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Filmdaten
- Produktionsland
- Österreich/Deutschland
- Produktionsjahr
- 1993/94
- Produktionsfirma
- Veit Heiduschka/Wege Filmproduktionsges.
- Regie
- Michael Haneke
- Buch
- Michael Haneke
- Kamera
- Christian Berger
- Schnitt
- Marie Homolkova
- Darsteller
- Gabriel Cosmin Urdes (Marian Radu) · Lukas Miko (Max) · Otto Grünmandl (Tomek) · Anne Bennent (Inge Brunner) · Udo Samel (Paul Brunner)
- Länge
- 99 Minuten
- Kinostart
- -
- Fsk
- ab 12; f
- Pädagogische Empfehlung
- - Sehenswert.
- Genre
- Drama
- Externe Links
- IMDb | TMDB
Diskussion
Im Anfang war - Mord: Am 23.12.1993 erschoß der 19jährige Student Maximilian B. in der Zweigstelle einer Wiener Bank drei Menschen und tötete sich kurz darauf selbst mit einem Schuß in den Kopf, steht im Vorspann zum vorliegenden letzten Teil der (mit "Der siebente Kontinent" und "Bennys Video" begonnenen) Trilogie. Was diesem Vor-Satz folgt, ist die versuchte Genese eines "angekündigten" Todes in Form einer komplexen Chronik, deren konsequent durchgehaltene Struktur präzise den Titel des Films erfüllt. Von Tschetschenien über Somalia bis hin nach Haiti fuhrt der Bilderreigen aktueller Fernsehberichterstattung von den Krisenherden dieser Erde, mit dem die Chronik mit Datum vom 12. Oktober 1993 einsetzt. Die Übertragung der allzu vertrauten Fernsehbilder bricht plötzlich ab, um nach einer kurzen Dunkelphase die fortan filmisch segmentierte Spurensuche aufzunehmen. Sie setzt mit einem fremdländischen Jungen ein, der vorsichtig ein Grenzgewässer durchstreift, dann versteckt auf der Ladefläche eines Femlasters hockt und schließlich in einer ausgedehnten Kamerafahrt in das Neonlicht einer nächtlichen Metropole eintaucht. Die folgenden, untereinander zunächst m keinem erkennbaren Zusammenhang stehenden Sequenzen zeigen einen jungen Mann, der Schußwaffen entwendet, eine frühmorgendlich-gereizte Familienszene, Studenten beim Tangram-Spiel, ein kinderloses Ehepaar mit Adoptivtochter sowie eine Bankangestellte und deren pensionierten Vater: insgesamt ein Dutzend Protagonisten, auf deren persönliche Lebensumstände nach und nach vielfältig verschachtelte - stets von Schwarzbildern unterbrochene - Segmente mehr oder minder kurze und scheinbar willkürlich gewählte Schlaglichter werfen. Gleichsam als indirekter Fremdenführer durch die vertraute Wohlstandswelt der Einheimischen fungiert dabei der zwölfjährige Waisenjunge aus der Eingangssequenz, der im Laufe von zahlreichen Momentaufnahmen als rumänischer Flüchtling vorgestellt wird und den Zuschauer zeitweise seiner Entfremdung enthebt. Wie in einem Puzzle passen einzelne Teile zueinander, verborgene Zusammenhänge können gelegentlich gedanklich ergänzt werden, während einzelne Ausschnitte bis zum Schluß ohne ergänzendes Gegenstück wie erratische Blöcke liegen bleiben. In bewußt unspektakulären, alltägliche Verrichtungen minimal variierenden Wiederholungen werden (er)nüchtern(d)e Einblicke in den Mechanismus einer wohlsituierten Mittelschicht unserer Massengesellschaft gegeben. Zur Figur des gereizten Frühaufstehers fügt sich das Erscheinungsbild eines gottesfürchtigen Geldtransporteurs, der besorgt am Kindesbett Nachtwache hält. Das kinderlose Ehepaar wird, nach gescheiterten Adoptionsversuchen mit der autistischen Anni, später den rumänischen Flüchtlingsjungen vorübergehend zu sich nehmen. Der allein lebende Pensionist wird der Familie seiner gestreßten Tochter mit endlosen Telefonaten auf die Nerven gehen. Und der Waffendieb wiederum wird sich als Kommilitone des Sportstudenten Max erweisen, der am Ende "zufällig" Amok läuft. Sie alle wirken wie konforme Einzelkämpfer in einem hermetischen Aktionsradius zwanghaften Beschäftigungsdranges, in dessen routiniertem Vollzug der "menschliche Faktor" als Störfall im Betriebssystem schlechthin erscheint. Hektik und Hast verdecken Leere und Langeweile, die unmittelbar denjenigen befallen, der im Produktionsprozeß nicht mehr mithalten kann (wie der Pensionist), oder ohne Einstiegschance bleibt (wie der rumänische Junge). Gefühle werden funktionalisiert und Ängste gnadenlos verdrängt, Vereinzelung und Vereinsamung herrschen vor und Selbstverleugnung gilt als die Kardinaltugend einer systematisch zu Tode kommenden Gesellschaft gesichtsloser Optimisten. Wo die isolierten Handlungsfäden sich notwendigerweise dennoch zu kreuzen drohen, verhindern allein ritualisierte Umgangsformen folgenschwere Verwicklungen. Dabei lauert allenthalben das schlechte Gewissen und alle müssen sich andauernd für ihre wahnsinnige Unfähigkeit zur Liebe buchstäblich entschuldigen. Merkwürdig kontrastiert dabei das sensationslüsterne Bombardement der immergleichen Schrekkensbilder von immer neuen Kriegsschauplätzen mit der totalen Ereignislosigkeit in der sterilen Binnenwelt der Medienkonsumenten. Ein Querschnitt durch ein Gesellschaftsgefüge mit fatalistisch-pessimistischen Zügen, dessen mühsam kontrollierte Beziehungsund Bindungslosigkeit in den 71 fragmentarischen Bruchstücken eines allgegenwärtigen "Bürgerkrieges" künstlerisch schlüssig einsichtig wird. Die klug kalkulierte dramaturgische Verklammerung eines Masssenmordes ohne hinlängliches (und damit letzlich besänftigendes) Motiv birgt für den Zuschauer ein Höchstmaß an unaufgelöster Irritation und Interaktion. Der von einer präzisen Kamera getragene Spannungsbogen wird geschickt über zahlreiche Zwischenstationen zum unausweichlichen Finale geführt, das die "zufällig" zu Opfern werdenden Personen am Tatort erst- und letztmals zusammenführt. Im Unterschied zu früheren Arbeiten beläßt es Haneke bei einzelnen Personen nicht bei einer nüchternen Beobachtung. Neben den beiden gesellschaftlichen Außenseitern (Pensionär und Flüchtling) gehört seine Sympathie zweifelsfrei dem zum Mörder gezwungenen Max. Andererseits erfahren beispielsweise die Szenen einer kinderlosen Ehe (in hervorragender Darstellung) ihre satirische Zuspitzung. Bemerkenswerterweise jedoch findet die Offenheit der Form eines Chronisten, die absichtlich verschiedene Lesarten einer widersprüchlichen Wirklichkeit zuließe, häufig keine adäquate inhaltlich-interpretatorische Entsprechung. Der Moralist Haneke scheint angesichts einer tatsächlichen Ambivalenz den Konsequenzen eigener Ambitionen geradezu zu mißtrauen und sichert sich von vorneherein mit einer weitgehend illustrativ ideologisierenden Medien- und Gesellschaftskritik ab. Eine verengende Polemik wider den lediglich behaupteten freien Blick für den Realitätswert eines Bildes, die sich zudem dem Verdacht aussetzt, alles nicht ins Schema von der "emotionalen Vergletscherung" Passende auszumerzen und damit der (fiktiven) Zufälligkeit selbst zuwiderzulaufen und letztlich Zweifel an der Lauterkeit der Mission insgesamt aufkommen läßt. Als Produkt des in Frage gestellten Zeitalters multimedialer Massenkommunikation partizipiert der Film freilich zugleich an dessen uniformen Denkmustern und manifestiert damit - unfreiwillig? - die Erwartungen eines Teils des intellektuellen Publikums.
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