John Sayles hat nach "City of Hope"
(fd 29 871) und "Passion Fish"
(fd 30 569) dem urbanen Leben den Rücken gekehrt. Nur auf den ersten Blick ist dies eine Überraschung, hatte er sich doch bereits in seinen ersten Drehbüchern für die sparsam kalkulierten Produktionen Roger Cormans mit dem fantastischen Genre auseinandergesetzt, zu dem er nun mit dieser Literaturverfilmung zurückkehrt. Gleichwohl ist "Das Geheimnis von Roan Inish", wie die wörtliche Übersetzung nach dem Handlungsort, einer irischen Insel lautet, alles andere als ein Genrefilm. Sayles' fantastischer Realismus läßt, vergleichbar einer folkloristischen Ballade, das Überwirkliche als Teil des Lebens erscheinen und die Geschicke der Handelnden bestimmen, ohne daß dies besonderen Augenmerks bedürfte. Allerdings sind es in dieser Geschichte nur wenige, denen der intuitive Zugang zu den wundersamen Erscheinungen vergönnt ist.Das Mädchen Fiona ist zu seinen Großeltern an die west-irische Küste geschickt worden, wo es sich mit seinem älteren Cousin Eamon anfreundet. Die fantasiebegabten Kinder sind empfänglich für die Erzählungen des Großvaters, insbesondere die traurige Geschichte von Fionas verschollenem älterem Bruder, den man als Säugling in einer Wiege auf den Wellen geschaukelt hatte und der auf das offene Meer gespült worden war. Gerüchte im Dorf wollen ihn noch am Leben wissen, noch immer schwimme seine Wiege auf den Wassern um die Insel "Roan Inish". Als Fiona im Dorf Tadgh Coneely einen entfernten Verwandten kennenlernt, gewinnt sie einen Verbündeten im Glauben an die Legende. Er erzählt ihr von den sogenannten "Selkies", sagenumwobenen Wesen, zur Hälfte Mensch, zur Hälfte Seehund. In einer Rückblende erfährt man die Geschichte ihres Vorfahren Liam, der einem weiblichen Selkie die Seehundhaut raubte und ihn so zur Frau gewann. Aus seinem Besitz habe die Wiege gestammt, mit der ihr Bruder verlorenging. Daraufhin erspäht Fiona diesen tatsächlich, spielend mit den Seehunden auf Roan Inish. Nun ist es an ihr, ihre zweifelnden Großeltern von der Richtigkeit ihrer Beobachtung zu überzeugen."Ich bin nicht so sehr daran interessiert, was ich über etwas denke, als darüber, wie die Dinge in den Augen eines anderen erschienen", äußerte John Sayles einmal. "Darum sind meine Geschichten so anders." Dies ist wohl die Erklärung für die stilistische Konsequenz seiner überwirklichen Naturromantik, die er in Details den Gesetzen eines deutlichen Realismus unterwirft. So erfährt zwar das Dargestellte in seiner Wiedergabe manche Verklärung, nicht aber der archaische Alltag der Dorfbewohner. Der renommierte Kameramann Haskell Wexler erreicht Verklärungen wie Dramatisierungen seiner Naturstimmungen, ohne dabei in jene geschmäcklerischen Konventionen zu verfallen, die dem fantastischen Genre so oft den angestrebten Zauber rauben. Man kann Sayles' Ästhetik dahingehend beschreiben, daß er der Subjektivität einer Empfindung ein solches Gewicht beimißt, daß er sie nach außen hin mit den Attributen des Realismus ausstattet. Auch die Tradition - in diesem Fall das irische Volksmärchen, das seinerseits den Stil der Romanvorlage bestimmte - kann so eine um Objektivität ringende Glaubhaftigkeit ausstrahlen. Man sieht also eine mit allem erdenklichem Aufwand Bild gewordene Erfindung, die nicht vorgibt, wirklich zu sein, sondern um eine innere Stimmigkeit bemüht ist. Die Erzählung bleibt so als solche erkennbar."Das Geheimnis des Seehund-Babys" lebt von einem ruhigen, volksliedhaften Erzählduktus und enthält sich jeder Spekulation. Einziger Spannungsmoment ist die Konfrontation der Großeltern mit der unglaublichen Beobachtung Fionas. Der Fantasie des (gerade auch jüngeren) Zuschauers bleiben so deutliche Freiräume. Warme Erdfarben bestimmen die Ausstattung, betonen die naturverbundene Grundstimmung der Erzählung, führen allerdings auch zu einer gewissen Monotonie. In dieser stilistischen Konsequenz ist Sayles Natur-Mytizismus allemal imponierend, wie immer man auch geschmacklich zu seiner Ästhetik steht.