Gerichtsfilm | Deutschland 2023 | 241 Minuten

Regie: RP Kahl

Eine textgetreue Verfilmung des Theaterstücks von Peter Weiss über den ersten Frankfurter Auschwitz-Prozess, der von Dezember 1963 bis August 1965 in Frankfurt/Main stattfand. In den 11 Abschnitten treten insgesamt 39 Zeuginnen und Zeugen vor und belasten die 18 Angeklagten, die die Schuld von sich abzuwälzen versuchen. Umgesetzt als filmische Installation in einem Studio, nutzt der Film fulminant die Möglichkeiten von Kamera und Montage, um Akzente zu setzen und die zeitlose Schärfe von Weiss’ Text zu belegen. Mit einem hervorragenden Ensemble schließt das beeindruckende Werk die Anfänge der Erinnerungskultur an die Gegenwart an und mahnt an die Alternativlosigkeit einer fortdauernden Auseinandersetzung mit den Verbrechen des Holocaust. - Sehenswert ab 14.
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Filmdaten

Produktionsland
Deutschland
Produktionsjahr
2023
Produktionsfirma
Film Mischwaren
Regie
RP Kahl
Buch
Peter Weiss · RP Kahl · Alexander van Dülmen
Kamera
Guido Frenzel
Musik
Matti Gajek
Schnitt
Peter R. Adam · Anne Fabini · Christoph Strothjohann
Darsteller
Rainer Bock (Richter) · Clemens Schick (Ankläger) · Bernhard Schütz (Verteidiger) · Christian Kaiser (Zeuge 1) · Dirk Ossig (Zeuge 2)
Länge
241 Minuten
Kinostart
25.07.2024
Fsk
ab 12; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 14.
Genre
Gerichtsfilm | Literaturverfilmung
Externe Links
IMDb | TMDB

Eine Verfilmung des Theaterstücks von Peter Weiss über den ersten Frankfurter Auschwitz-Prozess 1963-1965, umgesetzt als reduzierte, hochintensive filmische Installation.

Diskussion

Was auch immer RP Kahl dazu bewogen haben mag, den fast vergessenen, formal strengen Theater-Klassiker von Peter Weiss in der von ihm gewählten, dem Thema angemessenen Form gerade jetzt zu verfilmen – ihm ist damit jedenfalls der Film der Stunde gelungen. Ein Glücksfall, eine Intervention, der/die einerseits (ob gewollt oder nicht) die Täterperspektive von „The Zone of Interest“ ergänzt, dabei aber ganz auf die durch Sprache entstehenden Bilder im den Köpfen der zumeist wohl nachgeborenen Zuschauer:innen baut und vertraut. Und andererseits dank der gewählten theatralen Strenge auch die Untiefen des clever formulierten und wohl auch so gemeinten Geschwurbels von den ideologisch kontaminierten Bildern des NS-Regimes von „Führer und Verführer“ vermeidet.

„Die Ermittlung“ mit dem Untertitel „Oratorium in 11 Gesängen“, von Peter Weiss aus dem subjektiven Bedürfnis geschrieben, die Konzentrationslager und wie es dazu kommen konnte, zu verstehen, ist dabei zugleich auch ein fesselnder Sprung zurück an den Beginn der bundesdeutschen Erinnerungskultur zum Holocaust: dem ersten Frankfurter Auschwitz-Prozess, der von Dezember 1963 bis August 1965 in Frankfurt/Main stattfand.

Recherche vor dem Holocaust-Diskurs der 1960er-Jahre

Weiss hatte seine Arbeit noch vor der Urteilsverkündung im August 1965 abgeschlossen; die Uraufführung von „Die Ermittlung“ fand am 19. Oktober 1965 in 15 Theatern gleichzeitig statt. Wichtig war Peter Weiss die Perspektive seines Stücks, die durch den Titel charakterisiert ist: „Das Konzentrationslager selbst kommt in meinem Stück nicht vor; wir blicken darauf zurück wie diejenigen, die an den tatsächlichen Verhandlungen teilnahmen, aus der Perspektive der Gegenwart.“ Es geht also in der „Ermittlung“ um eine Recherche vor dem Hintergrund des damals, Mitte der 1960er-Jahre aktuellen Holocaust-Diskurses, weshalb das Schlusswort des Stücks auch nicht von der Justiz, sondern von einem reuelosen Angeklagten gesprochen wird: „Heute / Da unsere Nation sich wieder / Zu einer führenden Stellung / emporgearbeitet hat / Sollten wir uns mit anderen Dingen befassen / Als mit Vorwürfen / Die längst als verjährt / angesehen werden müssten.“

Das Material, dessen sich Weiss bei der „Ermittlung“ bediente, stammt zu großen Teilen aus der Prozess-Berichterstattung von Bernd Naumann in der „FAZ“, ergänzt um weitere Quellen und wissenschaftliche Literatur, allerdings sehr konzentriert, „nüchtern und ohne Sentimentalität“. Dieses Konzentrat der Aussagen der geladenen Zeugen vor Gericht überführt, wie Weiss anmerkt, persönliche Erlebnisse und Konfrontationen in die Anonymität. Die Zeugen im Stück werden zu Sprachrohren, die referieren, was Hunderte im Verfahren ausdrückten. Wichtig als Steilvorlage von Weiss für die Verfilmung von RP Kahl: „Die Verschiedenheiten in den Erfahrungen können höchstens angedeutet werden in einer Veränderung der Stimme und Haltung.“

Eine filmische Installation

RP Kahl hat das Theaterstück nicht als verfilmtes Theater oder als Adaption des Weiss-Textes, sondern als eine Art filmischer Installation umgesetzt. Gedreht wurde mit mehreren beweglichen Kameras in einem Studio, die Angeklagten sitzen auf einer Seite, die Zeugen treten vor ein Mikrofon und machen ihre Aussagen. Dazu noch der Richter (Rainer Bock), der Staatsanwalt (Clemens Schick) und der Verteidiger (Bernhard Schütz) – ein kompaktes Setting, das dennoch reichlich Raum für Beobachtungen eröffnet. Die Zahl der auftretenden Zeugen hat Kahl gegenüber der Vorlage von 9 auf 39 Darsteller erweitert und hochkarätig besetzt (unter anderem mit Nicolette Krebitz, Christiane Paul, Sabine Timoteo, Marek Harloff, André M. Hennicke, Karl Markovics, Tom Wlaschiha, Robert Hunger-Bühler. Gleiches gilt für die 18 Angeklagten mit unter anderem Wilfried Hochholdinger, Niels-Bruno Schmidt, Thomas Dehler, Timo Jacobs.

Die unterschiedlichen Darsteller:innen haben die Möglichkeit, sich ihren Texten unterschiedlich zu nähern. Die Auftritte changieren zwischen einem nüchternen Vortrag des Textes über eine körperliche Haltung, ein Spiel beim Vortrag des Textes bis hin zu einer Choreografie des Vortrags in der Manier von Huillet/Straub. Auch zeigt die Varianz dialektaler Färbungen die Varianz der Opfer.

Zudem sind Kameras und auch die Montage „neugierig“ und setzen ihrerseits Akzente und fixieren Haltungen. Dass es im Frankfurter Auschwitzprozess um den Nachweis konkreter Tatbeteiligungen geht, führt zu einer Spannung zwischen der kaum zu ertragenden Ungeheuerlichkeit der Zeugenaussagen und der Strategie der Angeklagten – längst wieder in der bürgerlichen Gesellschaft integriert und etabliert – nichts gewusst, nichts gesehen, nichts gehört zu haben, kurz: nicht beteiligt gewesen zu sein. Was gerne auch höhnisch vorgetragen wird. Früh wurde darauf hingewiesen, dass „Die Ermittlung“ mustergültig dokumentiert, dass der Prozessablauf in Frankfurt strukturell die Auschwitz-Konstellation der barbarischen Verhöhnung der Opfer wiederhole.

Von der Sklavenarbeit profitiert

Weil sich Kahl entschieden hat, Weiss’ Text unverändert zu übernehmen, schmuggelt er als Konterbande auch die Haltung des marxistischen Autors in den Film, der zufolge vom Faschismus nicht reden könne, wer vom Kapitalismus schweige. Eine Haltung, die im Diskurs von 1965 auf erhebliche Resonanz stößt, wenn die Namen bedeutender industrieller Komplexe fallen, die von der Sklavenarbeit in den Konzentrationslagern profitiert haben und sich nach 1945 rasch umbenannten, sodass aus der IG Farben die BASF, Hoechst und Bayer wurden. „Verteidiger: Wir protestieren gegen diese Frage / Die keinen anderen Zweck hat / Als das Vertrauen in unsere Industrie zu untergraben. (…) Ankläger: Lassen Sie es uns noch einmal bedenken / Dass die Nachfolger dieser Konzerne heute / Zu glanzvollen Abschlüssen kommen / Und dass sie sich wie es heißt / In einer neuen Expansionsphase befinden.“ Derlei „segensreiche Freundschaft zwischen der Lagerverwaltung und der Industrie“ wird seitens der Verteidigung wiederholt als „Diffamierung“ zurückgewiesen.

Es bleibt dem Zeugen 3 überlassen, diesen empirischen Befund in eine Theorie zu überführen, die die Kontingenz des Geschehens mit der Systemlogik von Auschwitz in Zusammenhang bringt: „Viele von denen die dazu bestimmt wurden / Häftlinge darzustellen / Waren aufgewachsen unter denselben Begriffen / Wie diejenigen / Die in die Rolle der Bewacher gerieten (…) Wir müssen die erhabene Haltung fallen lassen / Dass uns diese Lagerwelt unverständlich ist / Wir kannten alle die Gesellschaft / Aus der das Regime hervorgegangen war / Das solche Lager erzeugen konnte / Die Ordnung die hier galt / War uns in ihrer Anlage vertraut / Deshalb konnten wir uns auch noch zurechtfinden / In ihrer letzten Konsequenz / In der der Ausbeutende in bisher unbekanntem Grad / seine Herrschaft entwickeln durfte / Und der Ausgebeutete / Noch sein eigenes Knochenmehl / liefern musste.“

Das Ausagieren von Machtverhältnissen von oben nach unten

Weil es Peter Weiss aus seiner Perspektive auch um ein Machtgefüge geht, dass das Ausagieren von Machtverhältnissen von oben nach unten ermöglicht, also um ein zutiefst negatives und destruktives Menschenbild, fehlt in „Die Ermittlung“ – auch früh bemerkt – das Wort „Jude“, wiewohl es in den Prozess-Notizen Naumanns wiederholt vorkommt. Bei Weiss wird der Holocaust als Verbrechen gegen die Menschheit verhandelt, als ein System, dass prinzipiell überall etabliert werden kann, wo die strukturellen Bedingungen fortdauern.

Man kann hier an das Diktum Walter Benjamins denken, demzufolge der Ausnahmezustand die Regel sei, worauf die Vorstellung von Geschichte als Fortschrittsgeschichte zu reagieren habe, um dem Staunen über die Möglichkeit des Faschismus etwas Produktives entgegensetzen zu können. Genau hierin liegt das Produktive des von Kahl im Rekurs auf Weiss unternommenen Tigersprungs aus der Geschichte zurück zu den Anfängen einer Erinnerungskultur, die sechzig Jahre später beim Diskursmoment „Täter, menschlich gesehen“ gelandet ist. Hier setzt die notwendige Korrektur der Wiedervorlage der „Ermittlung“ als ganz und gar umwerfendes „Rerun“ des Abgründigen, des Unaussprechlichen, des von rechten Geschichtsklitterern so unsäglich Kleingeredeten ein.

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