Bruder und Schwester

Drama | Frankreich 2022 | 106 Minuten

Regie: Arnaud Desplechin

Ein Roman-Schriftsteller und seine Schwester, eine erfolgreiche Schauspielerin, hegen einen gegenseitigen Hass und haben sich seit Jahren nicht gesehen. Ein fataler Autounfall ihrer Eltern zwingt sie, sich beide im Krankenhaus einzufinden und einen Waffenstillstand zu schließen. Doch ihr psychischer Ausnahmezustand reißt den Abgrund zwischen ihnen immer wieder auf. Das schonungslose Drama seziert präzise und auf mehreren Zeitebenen eine aus den Fugen geratene Geschwisterbeziehung. Vor allem das hervorragende Darstellerduo macht den Zwiespalt und die verletzten Gefühle der Geschwister nachvollziehbar, während die Story kompromisslos in die Abgründe menschlicher Gefühle eintaucht. - Ab 16.
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Filmdaten

Originaltitel
FRÈRE ET SOEUR
Produktionsland
Frankreich
Produktionsjahr
2022
Produktionsfirma
Why Not Prod./Arte France Cinéma
Regie
Arnaud Desplechin
Buch
Arnaud Desplechin · Julie Peyr
Kamera
Irina Lubtchansky
Musik
Grégoire Hetzel
Schnitt
Laurence Briaud
Darsteller
Marion Cotillard (Alice) · Melvil Poupaud (Louis) · Golshifteh Farahani (Faunia) · Patrick Timsit (Zwy) · Cosmina Stratan (Lucia)
Länge
106 Minuten
Kinostart
-
Pädagogische Empfehlung
- Ab 16.
Genre
Drama
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Intensives Drama über die destruktive Beziehung zweier Geschwister, die sie angesichts eines Autounfalls der Eltern an den Rand des Abgrunds bringt.

Diskussion

Als sie ihn in dem Flur des Krankenhauses erblickt, bricht sie zusammen. Nachdem er sie gesehen hat, besäuft er sich besinnungslos. Einmal will er sich ihretwegen sogar vom Dach stürzen. Die Frau und der Mann sind keine ehemaligen Liebhaber, sondern Schwester und Bruder. Ihre gegenseitige Abneigung ist so groß, dass sie seit Jahren nicht mehr miteinander sprechen und es nicht ertragen, in der Nähe des/der anderen zu sein. Ihr beiderseitiger Hass ist destruktiv und führt nirgendwohin. Doch handelt es sich wirklich um Hass, wie beide behaupten? Wie konnte es so weit kommen, dass die Geschwister sich dermaßen entzweit haben? Dieses ungewöhnliche Spannungsverhältnis untersucht Regisseur Arnaud Desplechin in seinem letzten Drama „Bruder und Schwester“, das 2022 im Wettbewerb von Cannes Premiere feierte.

Der Film beginnt mit einer Tragödie. Louis (Melvil Poupaud), das mittlere Kind von drei Geschwistern, hat gerade seinen sechsjährigen Sohn Jacob verloren. Auf der Totenwache für den Kleinen wollen auch Louis’ Schwager Borkman (Francis Leplay) und seine Schwester Alice (Marion Cotillard) ihr Beileid bekunden. Doch Louis droht ihnen in einem Wutanfall mit der Polizei, sodass sie den Rückzug antreten.

Im Roman verunglimpft

Fünf Jahre später wird die Familie erneut von einem Schicksalsschlag heimgesucht. Die betagten Eltern von Alice und Louis werden bei einem Autounfall schwer verletzt und haben nicht mehr lange zu leben. Sie waren auf dem Weg zu einer Theaterinszenierung, bei der Alice die Hauptrolle spielte. Vor der Vorstellung weigerte sie sich zunächst, auf die Bühne zu gehen. Sie fühlte sich in dem neuen Roman ihres Bruders Louis verunglimpft, meinte, die Schmach nicht ertragen zu können, die ihr womöglich vom Publikum entgegenschlagen könnte.

Um seine Eltern im Krankenhaus zu besuchen, verlässt Louis durch die Vermittlung seines besten Freundes Zwy (Patrick Timsit) sein abgeschiedenes Haus in den Bergen, wohin er sich nach dem Tod seines Sohnes mit seiner Frau Faunia (Golshifteh Farahani) zurückgezogen hat. Louis sieht die Eltern, konsumiert Drogen und verfällt in Rauschzustände. Sehr zum Kummer des dritten und jüngsten Geschwisterkinds, des Bruders Fidèle (Benjamin Siksou), tun Alice und Louis alles, um sich aus dem Weg zu gehen. Nach dem Tod der Eltern hört Louis in dem Bestattungsinstitut ein Gespräch zwischen Alice und ihrem Mann mit, in dem sie sich dagegen verwahrt, dass Louis an der Beerdigung teilnimmt. Dann kommt es zufällig doch zu einer Begegnung der beiden in einem Supermarkt. Auf Initiative Louis’ unterhalten sich die beiden kurz, eine Annäherung scheint möglich, bevor die Fehde erneut ausbricht. Doch ewig lässt sich der Hass nicht aufrechterhalten …

Die Wunden sitzen tief

Desplechin bedient sich für sein Porträt einer zerrütteten Familie verschiedener Stilmittel. So spricht Louis in einer Szene im Flugzeug in die Kamera, was auch Alice am Ende des Films tut. Dann wiederum fungiert sie in einer von mehreren Rückblenden als Erzählerin. Darin schildert sie, warum sie angefangen hat, Louis zu hassen. Sie sei nach seinem ersten Bestseller eifersüchtig auf seinen Erfolg gewesen. Auch in der Beziehung von Eltern und Kindern scheint einiges im Argen zu liegen. So erzählt der im Krankenhaus liegende Vater seinem Sohn Louis, dass dessen Mutter ihn nie sehr geliebt habe. Louis wiederum beklagt sich bei seinem Vater, wie die Eltern Alices Hass ihm gegenüber zulassen konnten. Außerdem habe der Vater ihm als Kind und Heranwachsenden immer wieder Beispiele seiner Unzulänglichkeit vor Augen geführt, indem er ihn an berühmten und erfolgreichen Menschen gemessen habe. Die Wunden sitzen tief innerhalb der Familie und brechen in dem Moment vollends auf, als die Kinder von den Eltern Abschied nehmen müssen. Ist dies der Moment, reinen Tisch zu machen?

Angesichts eines offensichtlichen Mangels an Zuneigung oder zumindest von deren ungleicher Verteilung, brechen die Emotionen aus Louis und Alice in etlichen Situationen ungefiltert heraus, und auch ihre Bekanntheit in der Kulturszene kann nichts an ihrer Sucht nach Liebe und Anerkennung ändern. Die Schauspielerin, die als Star in etlichen Theaterstücken glänzt, bekommt Weinkrämpfe und konsumiert unkontrolliert Beruhigungstabletten. Louis dagegen, der zudem den Verlust seines Sohnes erleiden musste, flüchtet sich immer wieder in Alkohol und Drogen und verhält sich in der Öffentlichkeit aggressiv. Melvil Poupaud und Marion Cotillard spielen diese beiden hypersensiblen und zugleich egozentrischen Geschwister von leisen bis hin zu manischen Momenten und offenbaren die ganze Palette ihrer Schauspielkunst. Immer wieder gehen die Gefühle mit den beiden Protagonisten durch: Beherrschen können und wollen sie sich offenbar nicht.

Keinerlei Kompromisse

Das mag mitunter etwas hysterisch wirken, und manchmal dreht die Musik dabei auch noch laut auf. Doch Regisseur Desplechin will weder den Film noch seine Figuren zensieren, und geht in seiner Geschichte keinerlei Kompromisse ein. Wie Eifersucht, Neid und ein sich wandelndes Machtverhältnis sich zu dem Hass hochschaukeln konnten, der in Wirklichkeit nur ein Mangel an Kommunikation ist und sich irgendwann verselbstständigt hat, schildert der Film kunstvoll, indem er zwischen verschiedenen Zeitebenen hin- und herpendelt.

Ein unheimlicher Moment bleibt besonders in Erinnerung: Als ziemlich zu Anfang des Films der Unfall der Eltern auf einer Landstraße gezeigt wird, schleudert zuerst ein Pkw, dann mit unglaublicher Wucht ein Lkw unkontrolliert aus einer Kurve und rast auf das alte Ehepaar zu. Man fühlt sich in einen Science-Fiction-Film hineinversetzt. Es ist, als hätte sich das mächtige Gefährt selbstständig gemacht, als sei es von einer höheren Macht besessen. Das wirkt so surreal wie das Verhältnis von Bruder und Schwester untereinander, das dermaßen aus der Bahn geraten ist, dass man sich fragt, ob diese Beziehung nicht zu entsetzlich ist, um wahr zu sein.

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