Der kanadische Schauspieler Félix-Antoine Duval war bisher überwiegend in kleineren Rollen oder Fernsehproduktionen zu sehen. In „Saint-Narcisse“ wird er nun zum richtigen Leinwandstar. Die Kamera begehrt ihn von der ersten Einstellung an: langsam fährt sie über seinen Schritt, tastet sich an seiner ledernen Motorradkleidung hoch und verharrt schließlich bei Duvals schmalem, ebenmäßigem Gesicht, das von zerzausten Locken und einem eigenwillig unregelmäßig wachsenden Bart gerahmt wird.
Den Körper des Hauptdarstellers inszeniert Regisseur Bruce LaBruce wie ein Spektakel. Immer wieder findet er im Laufe des Films Gelegenheit, Duvals durchtrainierten Body in voller Pracht zu präsentieren. Dessen Anziehungskraft ist dabei auch für die in den frühen 1970er-Jahren angesiedelte Geschichte bedeutsam. Denn der etwas planlose, von seiner Oma großgezogene Protagonist Dominic wird nicht nur von anderen begehrt, sondern findet sich auch selbst ziemlich unwiderstehlich. Mithilfe seiner Polaroidkamera knipst er ständig Selbstporträts, die er anschließend gebannt betrachtet.
SM & der Heilige Sebastian
„Saint-Narcisse“ erzählt von einer Familienzusammenführung mit mythologischem Kern und deutlichem Augenzwinkern. In der titelgebenden Gemeinde macht sich Dominic auf die Suche nach seiner leiblichen Mutter (Angèle Coutu), die dort mit ihrer angriffslustigen Geliebten Irene (Alexandra Petrachuk) zusammenlebt. Während sich das Trio zusammenzuraufen versucht, stößt Dominic immer wieder auf einen mysteriösen Mönch, der in Wahrheit sein verschollener Zwilling Daniel (ebenfalls Duval) ist. Der wirkt mit seinen kurzgeschorenen Haaren, dem glattrasierten Gesicht und seinem mackerhaften Auftreten gleichermaßen androgyner, sinnlicher und härter als Dominic.
Doch auch nachdem sich Dominic äußerlich seinem Bruder angleicht, stehen die beiden für gegensätzliche Welten. Während der eine bei seiner Hippie-Mutter haust, die in der Vergangenheit schon der Hexerei verdächtigt wurde, lebt der andere unter der Fuchtel eines obsessiven Priesters, der eine Vorliebe für SM-Spielchen hat und in Daniel die Reinkarnation des Heiligen Sebastian zu erkennen glaubt.
Narzissmus, Inzest oder Metapher
Wie der Titel verrät, orientiert sich LaBruce teilweise an der Sage um den hübschen Jüngling Narziss, der sich in sein eigenes Spiegelbild verliebt. Hin und wieder gibt es auch andere mythologische Einsprengsel: den in vielen griechischen Tragödien vorkommenden blinden Seher Teiresias etwa lässt „Saint-Narcisse“ als vorlaute Straßendirne auftreten. Ansonsten zeigt sich der Film aber wenig am Dilemma der Originalgeschichte interessiert und widmet sich stattdessen einem möglichen Ausweg. Im Unterschied zu Narziss, der wegen der unerfüllten Liebe zu sich selbst stirbt, kann Dominic mit seinem Zwillingsbruder auch körperlich verschmelzen. Mithilfe der Zauberkraft der Montage konstruiert LaBruce einen leidenschaftlichen Liebesakt im Wald. Ob das nun Narzissmus, Inzest oder eine Metapher für Dominics Selbstfindung ist, scheint dabei nicht so wichtig zu sein.
Bruce LaBruce zählt zu den prominentesten Figuren eines im Punk verwurzelten schwulen Undergrounds. Seine provokativen Filme spielen häufig mit Genre-Zitaten, überschreiten mitunter die Grenze zu Splatter und Pornografie und sind irgendwo zwischen Trash und Hochkultur angesiedelt. Der kanadische Regisseur ist vor allem immer dann in seinem Element, wenn es um die sinnliche Präsenz seines Hauptdarstellers geht, um sexuelle Spannungen oder Grenzüberschreitungen.
Mittlerweile aber scheint LaBruce weniger an exzessiven Tabubrüchen als an leiseren Tönen interessiert zu sein. Das vermeintlich Perverse soll nicht trotzig gefeiert, sondern normalisiert werden. So erzählte er vor einigen Jahren in „Gerontophilia“ (2013) erstaunlich konventionell und warmherzig, wie sich ein junger Pfleger in einen Patienten verliebt, der sein Großvater sein könnte. In „Saint-Narcisse“ lösen sich die Spannungen am Ende zu den Klängen des Funk-Hits „Family Affair“ von Sly Stone in der Utopie einer polyamourösen Patchwork-Familie auf.
Sehnsucht nach einem Zuhause
Die Abkehr vom Anstößigen erweist sich für LaBruce allerdings als nicht sonderlich produktiv. Denn je klassischer die Geschichte über Identität, klerikalen Missbrauch oder die Sehnsucht nach einem Zuhause wird, desto deutlicher zeichnen sich auch die Schwächen der Inszenierung ab. Reine Dialogszenen wirken meist zahnlos und bieder, die sonst eher körperlich präsenten Schauspieler unterfordert, wenn sie stillsitzen müssen. Leben kehrt erst wieder in die Bilder, wenn sich der Schalk LaBruce zurückmeldet. Etwa wenn die Dramatik plötzlich von einer grotesk deformierten Heiligenskulptur sabotiert wird, die mit Glupschaugen in die Kamera schielt.