Jauja
Drama | Argentinien/Brasilien/Dänemark 2014 | 105 Minuten
Regie: Lisandro Alonso
Filmdaten
- Originaltitel
- JAUJA
- Produktionsland
- Argentinien/Brasilien/Dänemark
- Produktionsjahr
- 2014
- Produktionsfirma
- 4L/Perceval Pic./Fortuna Films/Les Films du Worso/Mantarraya Prod./Massive/Kamoli Films/Bananeira Filmes
- Regie
- Lisandro Alonso
- Buch
- Fabian Casas · Lisandro Alonso
- Kamera
- Timo Salminen
- Musik
- Viggo Mortensen
- Schnitt
- Natalia López · Gonzalo del Val
- Darsteller
- Viggo Mortensen (Gunnar Dinesen) · Viilbjørk Malling Agger (Ingeborg) · Ghita Nørby (Frau in Höhle) · Adrián Fondari (Pittaluga) · Esteban Bigliardi (Angel Milkibar)
- Länge
- 105 Minuten
- Kinostart
- -
- Pädagogische Empfehlung
- - Sehenswert ab 16.
- Genre
- Drama | Historienfilm
- Externe Links
- IMDb | TMDB
Ein dänischer Landvermesser irrt Ende des 19. Jahrhundert auf der Suche nach seiner verschwundenen Tochter durch die argentinische Pampa.
In die koloniale Vergangenheit blickt man in „Jauja“ wie in ein Diorama hinein. In der langen Eröffnungsszene des Films sieht man zwei statische Körper in der unberührten Natur sitzen. Ihre Anordnung – der Vater dem Rücken der Kamera zugewandt, die Tochter frontal – lassen sie miteinander verschränkt und doch gleichsam entzweit aussehen. Der argentinische Filmemacher Lisandro Alonso setzt Figuren und Objekte in Landschaften hinein, bespielt den Bildausschnitt wie eine Guckkastenbühne und wählt die Farben wie ein Maler. Alles an diesen Bildern – auf 35mm und im 4:3-Format gedreht – wirkt artifiziell und übersteuert. So wird die Idee eines Historienbildes, das sich dem filmischen Realismus verpflichtet, gleich mit der ersten Einstellung deutlich beiseitegewischt.
„Im Laufe der Zeit nahm die Mythenbildung groteske Ausmaße an“, ist auf der einleitenden Texttafel zu lesen. Die Rede ist von Jauja, einem „Land des Überflusses und des Glücks“, gelegen im fernen Patagonien. Viele hätten versucht, diesen Ort zu finden, berichtet die Inka-Legende, doch niemand sei jemals zurückgekehrt. Die Prophezeiung wirft ihren Schatten auf die Figuren des Films, den Dänen Gunnar Dinesen und seine 15-jährige Tochter Ingeborg. Im Argentinien des 19. Jahrhunderts hat sich der Landvermesser bei der Armee verdingt. Doch die Rohheit der Militärs, eine latente Bedrohung auch für die Unschuld Ingeborgs, befremdet ihn ebenso wie dessen unverhohlener Rassismus.
Die „Conquista del Desierto“ (1878-1885)
Dinesen, schwerer dunkelgrauer Mantel, Seehundbart, selbst im Niemandsland um eine seriöse Erscheinung bemüht, glaubt an Zivilisation, Vermittlung und Kommunikation. Ihm gegenüber steht Lieutenant Pittaluga, ein lüsterner Grobklotz, der von den Indigenen nur als „Kokosnussköpfe“ spricht, die ausgerottet gehörten. Bei seinem ersten Auftritt onaniert er, mit Klunkern und Orden behangen, ungeniert in einer heißen Quelle.
Als Ingeborg eines Nachts mit einem Soldaten verschwindet, bricht Dinesen allein in die wilde Natur auf, um sie zu suchen – und geht in der „Wüste“ (so der ideologische Topos) verloren. Anfangs noch auf einem Pferd unterwegs und mit der aufrechten Haltung eines Militärs, sieht man ihn bald durch Stein-, Gras- und Vulkanlandschaften stapfen, kraxeln, stolpern, keuchen und fluchen. Sein Körper, der eingangs noch die Festigkeit eines Felsblocks ausstrahlte, verliert seine Fassung, entgrenzt sich. Während sich Mensch und Landschaft einander annähern, verschmilzt auch die Wirklichkeit des späten 19. Jahrhunderts mehr und mehr mit der mythologischen Erzählung.
Hintergrund von „Jauja“ ist die sogenannte „Conquista del Desierto“ (Wüstenkampagne), ein militärischer Feldzug, mit dem die argentinische Regierung unter Beteiligung französischer, englischer und dänischer Expeditionen zwischen 1878 und 1885 gegen die indigenen Völker vorging. Ziel war es, die argentinisch-europäische Vorherrschaft über die Pampa und Patagonien zu sichern und die wirtschaftlichen Ressourcen der Gebiete auszuschöpfen. Doch anstatt dieses gewalttätige Kapitel „historisch korrekt“ aufzuarbeiten, errichtet Alonso einen filmischen Raum, in dem Geschichte landschaftlich, körperlich und hypnotisch verarbeitet wird.
Von den „verschlingenden“ und „verschluckenden“ Kräften der Wüste ist in „Jauja“ gleich mehrfach die Rede, und in Ingeborgs Bekenntnis „Ich liebe die Wüste. Die Art, wie sie mich ausfüllt“ schwingt unüberhörbar auch ein sexueller Subtext mit. Der Selbstverlust ist natürlich die koloniale Fantasie schlechthin, eine Fiktion der Literatur und des Kinos, in der nicht zuletzt die Angst vor der Selbstidentifizierung mit der als barbarisch etikettierten Kultur verarbeitet wird – in John Fords Western „Der schwarze Falke“ (1956), auf den Alonso anspielt, wird dieser „Zivilisationsverfall“ fast mit dem Tod bestraft. Auch in „Jauja“ gibt es Gerüchte über einen General Zuluaga, den dieses Schicksal ereilt haben soll; es heißt, er laufe in Frauenkleidern herum und schlachte Europäer ab.
Das Joseph-Conrad’sche Motiv des „Herz der Finsternis“ wird von Alonso durch eine helle, lichtdurchtränkte Version mit weiten Perspektiven und offenen Horizontlinien ersetzt. Sie bleibt jedoch ebenso undurchdringlich wie das Dickicht des Dschungels.
So immersiv wie distanzierend
Ähnlich wie Miguel Gomes, der in „Tabu“ mit den Mitteln des Stummfilms eine Erinnerung an die portugiesische Kolonialvergangenheit fabuliert, die so nie stattgefunden hat, greift auch Alonso auf die Sprache des Kinos zurück, setzt diese neu zusammen und überformt sie. Mit den abgerundeten Ecken verweisen die meist statischen Bilder auf die Fotografie und das frühe Kino; die leuchtenden Farben – die Grün- und Brauntöne der Landschaft zaubern mit dem tiefen Dunkelblau und Rot der Uniformen brillante Kontraste – rufen die Kavalleriewestern von John Ford wach. Als Film ist „Jauja“ ebenso immersiv wie distanzierend. Er verweist beständig auf sein ästhetisches Register, auf das Filmbild als Fenster; gleichzeitig aber bekommt Dinesens Herumgestapfe in überwältigend schönen Landschaften eine immer abgedrehtere Dimension.
Bilder und Klänge sind sorgfältig komponiert. Man hört den Wind in den Gräsern, Meeresrauschen, eine Vielzahl an Tierstimmen, Regen auf Gestein, dazu Dinesens Körper, das sanfte Rasseln des Säbels beim Gehen, seine Schritte, sein Ächzen. Die Detailarbeit bildet einen schönen Kontrast zur Offenheit der Erzählung. Sie franst an den Rändern aus, überschreitet Raum und Zeit und führt am Ende sogar in ein etwas märchenhaftes Dänemark von heute.
Identität, Bewegung, Richtung, Raum
Die kolonialen Erzählungen werden von Alonso weniger dekonstruiert als verfehlt. Schließlich begegnet Dinesen auf seinem Irrweg durch die Wüste nicht „dem Anderen“ – die Ureinwohner sind nicht eigentlich Teil des Bildes, und wenn, dann treten sie als kaum fassbare Gestalten in der Ferne auf oder greifen höchstens mal mit der Hand ins Bild hinein, um sich ein Gewehr zu schnappen. Stattdessen findet der Verlorene in einer Höhle eine ältere Frau, die sich zwischen verschiedenen Subjektivitäten bewegt: Fremde, Ehefrau, vielleicht auch Ingeborg am Ende ihres Lebens.
Durch die Zerstreuung und Zersetzung von Identität, Bewegung, Richtung und Raum lässt der Film die Vergangenheit mehr und mehr in die Schichten des Unterbewusstseins sickern – jeder Grashalm, jeder Stein scheint irgendwann davon aufgeladen. Geschichte zeigt sich in „Jauja“ nicht als ein abgeschlossenes Feld, sondern als ein – auch mentaler – Stoff, der noch in der Gegenwart wirksam ist.