Drama | Argentinien/Brasilien/Dänemark 2014 | 105 Minuten

Regie: Lisandro Alonso

Ende des 19. Jahrhunderts verdingt sich ein dänischer Landvermesser beim argentinischen Militär, das mit grausamer Brutalität gegen die indigene Bevölkerung agiert. Als die Tochter des Ingenieurs spurlos verschwindet, macht sich der Mann auf eine verzweifelte Suche, die aber zunehmend zu einer surreal-mystischen Suche nach sich selbst wird. Der mit großer ästhetischer Strenge und akustischer Meisterschaft inszenierte Film schlägt in Bann, wirkt aber auch distanzierend, weil er die kolonialen Erzählungen nicht dekonstruiert, sondern ignoriert. Statt die „Conquista del Desierteo“ von 1878 bis 1885 historisch aufzuarbeiten, dient sie eher zur Entgrenzung von Identitäten und Gewissheiten. - Sehenswert ab 16.
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Filmdaten

Originaltitel
JAUJA
Produktionsland
Argentinien/Brasilien/Dänemark
Produktionsjahr
2014
Produktionsfirma
4L/Perceval Pic./Fortuna Films/Les Films du Worso/Mantarraya Prod./Massive/Kamoli Films/Bananeira Filmes
Regie
Lisandro Alonso
Buch
Fabian Casas · Lisandro Alonso
Kamera
Timo Salminen
Musik
Viggo Mortensen
Schnitt
Natalia López · Gonzalo del Val
Darsteller
Viggo Mortensen (Gunnar Dinesen) · Viilbjørk Malling Agger (Ingeborg) · Ghita Nørby (Frau in Höhle) · Adrián Fondari (Pittaluga) · Esteban Bigliardi (Angel Milkibar)
Länge
105 Minuten
Kinostart
-
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 16.
Genre
Drama | Historienfilm
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IMDb | TMDB

Ein dänischer Landvermesser irrt Ende des 19. Jahrhundert auf der Suche nach seiner verschwundenen Tochter durch die argentinische Pampa.

Diskussion

In die koloniale Vergangenheit blickt man in „Jauja“ wie in ein Diorama hinein. In der langen Eröffnungsszene des Films sieht man zwei statische Körper in der unberührten Natur sitzen. Ihre Anordnung – der Vater dem Rücken der Kamera zugewandt, die Tochter frontal – lassen sie miteinander verschränkt und doch gleichsam entzweit aussehen. Der argentinische Filmemacher Lisandro Alonso setzt Figuren und Objekte in Landschaften hinein, bespielt den Bildausschnitt wie eine Guckkastenbühne und wählt die Farben wie ein Maler. Alles an diesen Bildern – auf 35mm und im 4:3-Format gedreht – wirkt artifiziell und übersteuert. So wird die Idee eines Historienbildes, das sich dem filmischen Realismus verpflichtet, gleich mit der ersten Einstellung deutlich beiseitegewischt.

„Im Laufe der Zeit nahm die Mythenbildung groteske Ausmaße an“, ist auf der einleitenden Texttafel zu lesen. Die Rede ist von Jauja, einem „Land des Überflusses und des Glücks“, gelegen im fernen Patagonien. Viele hätten versucht, diesen Ort zu finden, berichtet die Inka-Legende, doch niemand sei jemals zurückgekehrt. Die Prophezeiung wirft ihren Schatten auf die Figuren des Films, den Dänen Gunnar Dinesen und seine 15-jährige Tochter Ingeborg. Im Argentinien des 19. Jahrhunderts hat sich der Landvermesser bei der Armee verdingt. Doch die Rohheit der Militärs, eine latente Bedrohung auch für die Unschuld Ingeborgs, befremdet ihn ebenso wie dessen unverhohlener Rassismus.

Die „Conquista del Desierto“ (1878-1885)

Dinesen, schwerer dunkelgrauer Mantel, Seehundbart, selbst im Niemandsland um eine seriöse Erscheinung bemüht, glaubt an Zivilisation, Vermittlung und Kommunikation. Ihm gegenüber steht Lieutenant Pittaluga, ein lüsterner Grobklotz, der von den Indigenen nur als „Kokosnussköpfe“ spricht, die ausgerottet gehörten. Bei seinem ersten Auftritt onaniert er, mit Klunkern und Orden behangen, ungeniert in einer heißen Quelle.

Als Ingeborg eines Nachts mit einem Soldaten verschwindet, bricht Dinesen allein in die wilde Natur auf, um sie zu suchen – und geht in der „Wüste“ (so der ideologische Topos) verloren. Anfangs noch auf einem Pferd unterwegs und mit der aufrechten Haltung eines Militärs, sieht man ihn bald durch Stein-, Gras- und Vulkanlandschaften stapfen, kraxeln, stolpern, keuchen und fluchen. Sein Körper, der eingangs noch die Festigkeit eines Felsblocks ausstrahlte, verliert seine Fassung, entgrenzt sich. Während sich Mensch und Landschaft einander annähern, verschmilzt auch die Wirklichkeit des späten 19. Jahrhunderts mehr und mehr mit der mythologischen Erzählung.

Hintergrund von „Jauja“ ist die sogenannte „Conquista del Desierto“ (Wüstenkampagne), ein militärischer Feldzug, mit dem die argentinische Regierung unter Beteiligung französischer, englischer und dänischer Expeditionen zwischen 1878 und 1885 gegen die indigenen Völker vorging. Ziel war es, die argentinisch-europäische Vorherrschaft über die Pampa und Patagonien zu sichern und die wirtschaftlichen Ressourcen der Gebiete auszuschöpfen. Doch anstatt dieses gewalttätige Kapitel „historisch korrekt“ aufzuarbeiten, errichtet Alonso einen filmischen Raum, in dem Geschichte landschaftlich, körperlich und hypnotisch verarbeitet wird.

Von den „verschlingenden“ und „verschluckenden“ Kräften der Wüste ist in „Jauja“ gleich mehrfach die Rede, und in Ingeborgs Bekenntnis „Ich liebe die Wüste. Die Art, wie sie mich ausfüllt“ schwingt unüberhörbar auch ein sexueller Subtext mit. Der Selbstverlust ist natürlich die koloniale Fantasie schlechthin, eine Fiktion der Literatur und des Kinos, in der nicht zuletzt die Angst vor der Selbstidentifizierung mit der als barbarisch etikettierten Kultur verarbeitet wird – in John Fords Western „Der schwarze Falke“ (1956), auf den Alonso anspielt, wird dieser „Zivilisationsverfall“ fast mit dem Tod bestraft. Auch in „Jauja“ gibt es Gerüchte über einen General Zuluaga, den dieses Schicksal ereilt haben soll; es heißt, er laufe in Frauenkleidern herum und schlachte Europäer ab.

Das Joseph-Conrad’sche Motiv des „Herz der Finsternis“ wird von Alonso durch eine helle, lichtdurchtränkte Version mit weiten Perspektiven und offenen Horizontlinien ersetzt. Sie bleibt jedoch ebenso undurchdringlich wie das Dickicht des Dschungels.

So immersiv wie distanzierend

Ähnlich wie Miguel Gomes, der in „Tabu“ mit den Mitteln des Stummfilms eine Erinnerung an die portugiesische Kolonialvergangenheit fabuliert, die so nie stattgefunden hat, greift auch Alonso auf die Sprache des Kinos zurück, setzt diese neu zusammen und überformt sie. Mit den abgerundeten Ecken verweisen die meist statischen Bilder auf die Fotografie und das frühe Kino; die leuchtenden Farben – die Grün- und Brauntöne der Landschaft zaubern mit dem tiefen Dunkelblau und Rot der Uniformen brillante Kontraste – rufen die Kavalleriewestern von John Ford wach. Als Film ist „Jauja“ ebenso immersiv wie distanzierend. Er verweist beständig auf sein ästhetisches Register, auf das Filmbild als Fenster; gleichzeitig aber bekommt Dinesens Herumgestapfe in überwältigend schönen Landschaften eine immer abgedrehtere Dimension.

Bilder und Klänge sind sorgfältig komponiert. Man hört den Wind in den Gräsern, Meeresrauschen, eine Vielzahl an Tierstimmen, Regen auf Gestein, dazu Dinesens Körper, das sanfte Rasseln des Säbels beim Gehen, seine Schritte, sein Ächzen. Die Detailarbeit bildet einen schönen Kontrast zur Offenheit der Erzählung. Sie franst an den Rändern aus, überschreitet Raum und Zeit und führt am Ende sogar in ein etwas märchenhaftes Dänemark von heute.

Identität, Bewegung, Richtung, Raum

Die kolonialen Erzählungen werden von Alonso weniger dekonstruiert als verfehlt. Schließlich begegnet Dinesen auf seinem Irrweg durch die Wüste nicht „dem Anderen“ – die Ureinwohner sind nicht eigentlich Teil des Bildes, und wenn, dann treten sie als kaum fassbare Gestalten in der Ferne auf oder greifen höchstens mal mit der Hand ins Bild hinein, um sich ein Gewehr zu schnappen. Stattdessen findet der Verlorene in einer Höhle eine ältere Frau, die sich zwischen verschiedenen Subjektivitäten bewegt: Fremde, Ehefrau, vielleicht auch Ingeborg am Ende ihres Lebens.

Durch die Zerstreuung und Zersetzung von Identität, Bewegung, Richtung und Raum lässt der Film die Vergangenheit mehr und mehr in die Schichten des Unterbewusstseins sickern – jeder Grashalm, jeder Stein scheint irgendwann davon aufgeladen. Geschichte zeigt sich in „Jauja“ nicht als ein abgeschlossenes Feld, sondern als ein – auch mentaler – Stoff, der noch in der Gegenwart wirksam ist.

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