Man kennt das aus dem Kino, etwa von britischen Filmen wie „The Hit“ oder „Sexy Beast“: Hartgesottene Gangster, die süchtig sind nach der Sonne des Südens. Warum sollte das bei rumänischen Kollegen anders sein?
Allerdings wird in „La Gomera“ nicht einfach ein Flug gebucht, sondern ein Plan geschmiedet, der so komplex ist, dass man leicht die Übersicht verliert. In etwa sieht der so aus: Der Matratzenhändler Zsolt, der für die rumänische oder spanische Mafia Geld gewaschen hat, sitzt in Bukarest im Gefängnis, weil ihm Kokain untergeschoben wurde. Da er aber 30 Millionen in die eigene Tasche gewirtschaftet hat, wollen die Gangster ihn befreien, also eigentlich kidnappen und dann bestrafen.
Hier wird jeder überwacht
Hier kommt der alternde, seltsam stoische Polizist Cristi ins Spiel. Da ihn seine Kollegen verdächtigen, mit Zsolt unter einer Decke zu stecken, wird er rund um die Uhr überwacht, auch in seiner verwanzten und mit versteckten Kameras ausgestatteten Wohnung. Cristi weiß das längst und wundert sich auch nicht weiter darüber, weil seine direkte Vorgesetzte Magda ja offenbar auch überwacht wird. Wie hier überhaupt jeder und jede überwacht zu werden scheint.
Um an Cristi heranzukommen, setzen die Mafiosi auf Zsolts Freundin Gilda, die sich als „woman in red“ an Cristi heranmacht, um ihn in den Plan zur Befreiung von Zsolt einzuweihen. Um keinen Verdacht zu erregen, agiert sie recht spontan als kostspielige Escort-Kraft und spielt die Kameras in Cristis Wohnung auch ganz direkt an. Mit dabei hat sie allerdings auch ein Flugticket auf die kanarische Insel La Gomera. Womit man wieder beim Traum vom Süden wäre!
„El Silbo“ für die Häuserschluchten
Denn auf der zerklüfteten Insel dient die Lautsprache „El Silbo“ als Verständigungsmöglichkeit über größere Entfernungen. Für Nicht-Kundige klingt „El Silbo“, so wird ausgeführt, wie Vogelgezwitscher. Was, so der geniale Plan, in den bukolischen Landschaften von La Gomera funktioniert, sollte auch in den Häuserschluchten von Bukarest funktionieren, auch wenn es dort weit weniger Vögel gibt.
Cristi reist also, standesgemäß begleitet von Iggy Pops notorischem Spät-1970er-Hit „The Passenger“ auf die Kanaren, um im Einzelunterricht „El Silbo“ zu erlernen, wozu nicht nur Grundkenntnisse in Linguistik helfen, sondern auch Sportunterricht zur Erweiterung des Lungenvolumens. Man sieht: Hier wird akribisch gearbeitet.
Zum Glück haben die Mafiosi nicht die Kinemathek in Bukarest besucht, wo gerade der John-Ford-Western „Der schwarze Falke“ gezeigt wird. Dort kann man sehen (und hören), dass auch die Comanchen sich nachts mit Vogelstimmen-Imitationen verständigten. Eine Recherche-Reise in die Reservate der Indianer hätte das Reisebudget der rumänischen Mafia ungleich mehr belastet als der Flug auf die Kanaren.
Alles Kino, alles Entertainment!
Man ist versucht, sich vorzustellen, auf welche Art und unter Zuhilfenahme diverser ungenannter Substanzen plus einer großen Portion Cinephilie das Drehbuch zu „La Gomera“ von Corneliu Porumboiu zusammengeschustert wurde. Hier werden mit großer Lust am Fabulieren und sehr kenntnisreich, aber betont nicht-subtil die Genrekonventionen des Film noir beziehungsweise des Neo-Noir sehr unterhaltsam dekonstruiert und zugleich betont postmodern mit Kapitelüberschriften zu einer a-chronologischen Erzählung gefügt, die voller durchaus grobschlächtig ausgestellter Referenzen an Filme von Alfred Hitchcock, Fritz Lang, Mike Hodges und Brian de Palma oder Quentin Tarantino steckt.
Mit jedem Sprung von La Gomera nach Bukarest, mit jeder Rückblende wird diese Geschichte komplizierter, undurchsichtiger und doppelbödiger. Überdies ist „La Gomera“ von einem Gespür für Absurditäten durchzogen, wenn etwa Cristis Mutter und ihr Sinn für Moral oder die Kirche ins Spiel kommt, oder Gangster so aussehen, als kämen sie direkt vom Set von „Get Carter!“, oder Polizisten sich in Kinematheken treffen oder nur deshalb Kette rauchen, um einen Vorwand zu haben, sich konspirativ Nachschub zu besorgen. Alles Kino, alles Entertainment!
Ein Walzer in Singapur
Die „finalen“ Szenen spielen auf dunklen Waldwegen, in verlassenen Filmkulissen oder schließlich sogar in Singapur, wo zum spektakulären Lichterspiel im „Gardens by the Bay“ schließlich Walzerklänge aus dem alten Europa erklingen. Ironie? Oder doch eher die Erfüllung eines lange gehegten Reisetraums mit Unterstützung des Stadtmarketings von Singapur? Andererseits zeigt „La Gomera“ aber auch, dass ein Filmemacher, der nach geeigneten „Locations“ sucht, nicht ungefährlich lebt. To say the least…