Angeblich ist der gebürtigen und später in den USA lebenden Engländerin Frances Hodgson Burnett (1849-1924) die Idee zu ihrem 1911 erschienenen Roman "The Secret Garden" 1909 beim Anlegen eines Gartens ihres neuen Hauses gekommen. Das 1949 schon einmal verfilmte und 1987 in einer Fernsehfassung gebrachte Buch weist jedoch so sehr einige Parallelen zu Theodor Storms Erzählung "Viola tricolor" von 1873 auf, daß man sich nicht der Vermutung entziehen kann, die Burnett habe das Werk des großen Husumer Novellisten gut gekannt. Denn wie bei Storm verschließt auch bei Burnett ein Mann in nicht zu bändigendem Schmerz nach dem Tode seiner geliebten Frau den Garten, in dem sie sich so gern aufhielt, und läßt ihn verwildern. Sogar das zutrauliche Vögelein, ein Rotbrüstchen, das im Garten von "Viola tricolor" singt und nistet, kommt im Burnettschen "Garten der Vergangenheit" vor. Und wie bei Storm die zehnjährige Nesi ein entscheidendes Motiv beim Ringen um das Wiederaufschließen des verwucherten Gartens abgibt, spielt bei Burnett die ungefähr zehnjährige Mary die Hauptrolle im Kampf um die "Befreiung" des Gartens von seinen tränendunklen Geheimnissen.Mit Marys Bemühen um neues Leben für den Garten rückt der um die Jahrhundertwende spielende Film allerdings von Stormschen Motiven ab. Das Mädchen hat in Indien, als das Land vom englischen Vizekönig beherrscht wurde, bei einem Erdbeben die Eltern verloren. Im kolonialen Prachtstil des elterlichen Hauses wie in einer Märchenwelt voller dienstbarer Geister aufgewachsen, kommt Mary mit entsprechenden Allüren als Waisenkind in das im englischen Hochmoor liegende Schloß eines Lords, der ungehemmt seiner frühverstorbenen Frau nachtrauert. Sie war die Schwester von Marys Mutter; und weil Mary mit der Toten eine geradezu schockierende Ähnlichkeit hat, hält Onkel Lord beflissen Abstand, um nur ja nicht immerzu ein peinigendes "Abbild" vor Augen zu haben. So findet Mary wiederum nicht die ersehnte Liebe, Wärme und Geborgenheit, die sie schon bei ihren Eltern in Indien hatte entbehren müssen, weil die ganz und gar im gesellschaftlichen Leben der Kolonialoffiziere aufgegangen waren. Mary entbehrt Zuneigung und Zärtlichkeit im Schloß des Onkels um so mehr, als die strenge und vom Leben verhärtete Haushälterin ihr mit allen möglichen Verboten und Auflagen den Tag schwer macht. Es ist auch diese Frau, die Colin, des Lords kleinen Sohn, aus Marys Blickfeld ebenso fernhält wie aus dem des Vaters. Denn Colin gilt als behindertes Kind, das nicht laufen kann. Wie sehr dieses Fehlen an Beweglichkeit aber nur eine psychische Reaktion auf Liebesmangel ist, zeigt sich, als Mary und ein naturkundiger Bauernjunge, mit dem sie sich inzwischen angefreundet hat, entgegen allen Verboten und Widerständen Colin seiner Matratzengruft in einem abgelegenen und verdunkelten Zimmer entreißen und per Rollstuhl ins sonnendurchflutete Freie schaffen. Und sie bringen Colin zielstrebig zum Laufen in dem Garten, der so lange abgeschlossen war, und den Mary nach neugieriger Entdeckung mit einem aufgespürten Schlüssel wieder geöffnet und mit dem befreundeten Bauernjungen von verdorrtem Gestrüpp befreit und zu neuer Blüte gebracht hat. Und weil in einem Augenblick von Colins inzwischen bis zu Hüpfen und Springen gediehener Beweglichkeit der unverändert trauernde Lord von einer Reise heimkehrt, bricht dessen manischer Gram in sich zusammen und ein neues herzenswarmes, von allen seelischen Lasten befreites Leben bricht im Schloß an, wo Mary nun endlich die ersehnte Heimat und Familie findet, und selbst die Haushälterin ihrer inneren Panzerung entschlüpft und sich zu besserer Menschlichkeit wandelt.Der Film enthält einen hohen Anspruch wie alle Filme der Agnieszka Holland, zuletzt noch "Hitlerjunge Salomon"
(fd 29 376). Aber er hat neben Vorzügen wie Atmosphäre, gute Darstellerführung und sensible Farbdramaturgie auch unübersehbare inszenatorische Schwächen. Was nützt die genau sitzende Psychologie in der Veranschaulichung kindlicher Hoffnungen, Glückserwartungen, Enttäuschungen und Leiden, wenn dieser "innere Realismus" von einer Sentimentalität und Märchenhaftigkeit überlagert wird, in der vor allem eine an Walt Disney geschulte Verniedlichung oder Vermenschlichung von Tieren die Hauptrolle spielt. Da tummeln sich Lämmlein, Zicklein, Eichhörnchen, Kaninchen, Vögel, Wassergeflügel und Rehbock zur Unterstreichung menschlicher Gefühle, als ginge es um einen Lehrfilm für Fortbildungskurse zum Wohle ehrgeiziger Tiertrainer. Auch wird mehr als nötig aus dem Fundus der Filmsymbolik geschöpft. Vor allem werden die Natur und ihre Elemente und Jahreszeiten, wenn auch mit wunderschönen Bildern, handkräftig genutzt, um die Veränderungen zu verdeutlichen, denen die Menschen in diesem Film zu ihrem Unglück wie zu ihrem Heil unterworfen sind. Denn das ist das eigentliche Thema: der Aufbau menschlicher Beziehungen bis zur Gemeinschaft trotz unterschiedlicher individueller Intensität und Ausdrucksformen, die unbedingte personale Annahme in gegenseitiger Liebe und Achtung, die Entwicklung gemeinsamer Wege von der Selbstverlorenheit zur heilsamen Selbstfindung. Denn nur so, laut Film, kann neues Leben in Ruinen einkehren. Das alles ergibt sich jedoch nicht so sehr durch die aus dem kleinen Garten-Universum abgeleiteten Metaphern, sondern eindrucksvoll vorrangig aus dem hervorragenden Spiel der kindlichen Darsteller und der Schauspielkunst von Maggie Smith. Während der Darsteller des gramgebeugten Lords das Larmoyante seiner Rolle bis zur unfreiwilligen Komik überzeichnet, überführt die Smith ihren an sich eindimensional angelegten Part als strenge Haushälterin an den Klippen des naheliegenden Märchenklischees von böser Stiefmutter/ Fee/Hexe vorbei in ein fein schattiertes Menschenbild, das in seiner Glaubwürdigkeit all das ahnen läßt, was eine Persönlichkeit bis zur seelischen Dürre verformen kann.