Im Juni 1943 beginnt für die 13-jährige Fanny das, was im Filmtitel als ihre „Reise“ bezeichnet wird. Aber tatsächlich ist es eine Flucht. Eine Flucht vor der Verfolgung durch die Nazis. Seitdem die Wehrmacht den Nordwesten Frankreichs besetzt hat, werden auch hier Juden in die Vernichtungslager der Deutschen deportiert. Deshalb hat Fannys Mutter sie und ihre jüngeren Schwestern Georgette und Erika in ein Waisenhaus, eine Einrichtung der Organisation „Œuvre de Secours aux Enfants“, gebracht, wo die Mädchen unter falscher Identität leben können. Doch dann verrät ein Priester die Betreiber des Heims, und die Kinder müssen eiligst in die unbesetzte, sogenannte „freie Zone“, nach Südfrankreich, gebracht werden. Fanny und all die anderen finden ein neues Zuhause bei der gestrengen Madame Forman, die sie nachts weckt, um ihre neuen, nicht-jüdischen Namen abzufragen. Fanny bleibt Fanny, aber aus Erika wird Marguerite, aus David Denis und aus Eli Etienne. Letzterer ist es auch, der Fanny lachend beim gemeinsamen Küchendienst erklärt, man müsse im Zickzack laufen, wenn deutsche Soldaten auf einen schießen würden. Ein Ratschlag, der dem Mädchen das Leben retten wird.
„Es wird dir hier gut gehen. Ich komme dich holen, sobald ich kann“, hat Fannys Mutter zum Abschied gesagt. In ihren Briefen macht sie ihrer großen Tochter ebenso Mut wie das Kind der Mutter mit seinen Antworten. „Georgette kann schon bis 25 zählen“, schreibt Fanny einmal. Sie würden genug zu essen bekommen, es gehe ihnen gut. Doch irgendwann bleiben die Briefe der Mutter aus, und bald sind die Schützlinge auch bei Madame Forman nicht mehr sicher. Niemals, so trichtert Madame den Kindern vor ihrer Abfahrt ein, dürften sie sagen, dass sie in die Schweiz fahren. „Ihr seid unterwegs ins Ferienlager!“ Als Eli, der als Ältester auf Fanny und acht weitere Kinder aufpassen soll, sich bei einer Kontrolle davonmacht, übergibt Madame Forman Fanny die gesamte Verantwortung: „Zeige ihnen niemals, dass du Angst hast! Werde mutig für die anderen!“ Und tatsächlich wächst Fanny über sich hinaus und wird zur Retterin in der Not.
Der Schrecken des Krieges wird in „Fannys Reise“ weniger in konkreter Gewalt deutlich, sondern vielmehr spiegelt er sich in den Augen der Kinder und in all dem, was sie aushalten müssen. Die Trennung von den Eltern, die Sehnsucht nach ihnen, die schlechten Träume, das Gefühl des Verlassen-Seins, die Ungewissheit, die jeder Tag auf der Flucht mit sich bringt. Wem kann man trauen, wem nicht? Der Bahnarbeiter verpfeift die Kinder nicht, als er sie im Güterzug entdeckt, aber die scheinbar fürsorgliche Schwester des Roten Kreuzes schließt die Jungen und Mädchen im Esszimmer ein, und sie entkommen nur dank Fannys Weitsicht. Doch ab und zu vergessen sie all das und sind einfach Kinder, die spielen, herumalbern und ganz im Moment leben.
Konsequent erzählt Regisseurin Lola Doillon aus der Sicht der Kinder, und sie tut es für Kinder. Ihr Film ähnelt in seiner Tonart Christian Duguays „Ein Sack voll Murmeln“ (2017), der ebenfalls von einer Flucht jüdischer Kinder handelt und wie „Fannys Reise“ auf wahren Begebenheiten beruht. Die 88-jährige Fanny Ben-Ami, die heute in Israel lebt und damals nicht acht, sondern 28 Kinder in die Schweiz brachte, erzählt im Making-of, dass ihre Wut auf die Erwachsenen sie damals zum Überleben und Weitermachen angetrieben hat: „Ihr kriegt mich nicht!“ Man fühlt sich Fanny, Erika, Georgette, Victor und all den anderen, die ebenso heute leben könnten, sehr nah und verbunden. Und nicht nur deshalb erinnert „Fannys Reise“ daran, dass auch heute noch Kinder und Jugendliche auf der Flucht vor Krieg und Verfolgung sind – laut UNICEF sind es weltweit rund 30 Millionen. Zugleich setzt die Geschichte der mutigen Fanny aber auch all den Kindern ein Denkmal, die im Holocaust gestorben sind, die vor ihm geflohen sind und die überlebt haben, oft wie Fanny und ihre Schwestern, ohne ihre Eltern je wiederzusehen. Was ist so schlimm daran, jüdisch zu sein? Die Kinder begreifen nicht, was sie von anderen Menschen unterscheidet. Und es ist ja auch nicht zu verstehen. Bis heute nicht.