Ein Mann, um die 50, beim Gebet: „…und führe uns nicht in Versuchung, sondern erlöse uns von dem Bösen.“ In der Unterhose kniet er vor dem Bett, seine Finger wie auch sein massiger Leib sind von Tätowierungen übersät. Er hat Ringe um die Augen, das Heulen einer E-Gitarre aus dem Off verstärkt den Eindruck einsamer Müdigkeit, aber auch von Coolness. Es folgt eine lange Fahrt durch eine nächtliche, von Neon erleuchtete Großstadt. Dann trifft sich der Blick des Mannes mit dem eines anderen, der auf der gegenüberliegenden Seite auf einen U-Bahn-Zug wartet.
Der tätowierte Mann heißt Becker. Er macht das, was sich für entlassene Ex-Strafgefangene oft als letzte Chance anbietet: Er jobbt für einen privaten Wachschutz auf einem Fabrikgelände. Der „Sicherheitsdienst“ funktioniert als Metapher für Unsicherheit und für eine Bedrohung, die in kürzester Zeit unmittelbar zu greifen ist. Ein neuer Kollege erkennt an Beckers Tattoos dessen Knastkarriere. Becker beäugt ihn misstrauisch, bleibt verschlossen und distanziert. Nach der Schicht gehen beide mit einer der Putzfrauen etwas trinken. Ein paar Biere später werden sie von zwei Dunkelhäutigen provoziert. Als sich Becker in die Schlägerei einmischt, wird er brutal, gewalttätig. Auf dem Heimweg nimmt ihn die Putzfrau mit zu sich. Schneller, dumpfer Sex vor dem erschöpften Einschlafen. So sind nach 15 Minuten, nicht ganz klischeefrei, die Grundkoordinaten eines Film Noir und seiner Protagonisten etabliert.
Regisseur Lars Henning entfaltet in seinem ambitionierten Debütfilm die Geschichte eines Mannes, der 18 Jahre lang für einen Raubmord im Gefängnis saß. Der andere Mann, Dahlmann, dessen Blick er an der U-Bahn-Haltestelle kurz kreuzte, ist das überlebende Opfer der Tat, der für den Mord an Frau und Tochter auf Rache sinnt. Dahlmann drängt sich in Beckers zaghaft neu beginnendes Leben, ruft ihn an, verfolgt ihn. Ein Stalker, der sich offenen Psychoterrors bedient. Getragen wird der Film von der atmosphärischen Dichte der (Nacht-)Bilder. Und von zwei schauspielerischen Glanzleistungen: Peter Kurth ist als Becker ein wortkarg-verschlossener Einzelgänger, unbeholfen im sozialen Umgang. Er bereut seine Tat, kann das aber nicht zeigen, so wenig wie er seine im Knast erfahrenen Deformationen abschütteln kann. Immer wieder bricht die aufgestaute Wut aus ihm heraus. „Wie geht’s Ihnen denn?“, fragt ihn der Gefängnispfarrer, einer der wenigen, mit dem Becker persönlichen Kontakt hat. Die Antwort: „Muss.“ Der von Karl Markovics gespielte Dahlmann ist innerlich nicht weniger zerstört: Er sinnt auf Rache, mal als kalter Zyniker, mal als einer, dessen Gefühle komplett ausrasten.
In der Mitte des Films treffen beide zum ersten Mal direkt aufeinander. In einer Szene, die an die Konfrontation von Al Pacino und Robert De Niro in „Heat“
(fd 31 814) erinnert, sitzen sie sich gegenüber. Wut, Hass und Angst werden mühsam im Zaum gehalten. Die Kamera filmt das aus der Distanz. „Egal, was Sie sagen, es wird nichts daran ändern“, sagt Dahlmann. „Ich will ’ne Lösung“, bittet Becker. „Wofür?“ - „Ich bin doch auch ein Opfer von damals.“ - „Wie bitte? Was wollen Sie damit sagen?“ Es ist ein unlösbarer Konflikt. Reue und Rache treffen in den Hauptfiguren dieses Schuld-und-Sühne-Dramas aufeinander. Dahlmann treibt Becker zurück in die Vergangenheit, weshalb die nächste Begegnung der unrettbar Verstrickten blutig endet.
Der Film bringt viel Verständnis für den rachsüchtigen Familienvater auf, stellt die schwer zu beantwortende Frage, ob ein Gerichtsurteil und die Reue des Täters eine Schuld tatsächlich abgelten können. Und ob eine solche Abgeltung überhaupt Sinn macht, ob nicht Vergebung der einzig moralische Ausweg wäre. Was ist das Recht der Opfer? Und wer ist ein Opfer? Der Film spielt während der Weihnachtszeit, traditionell eine Phase der Besinnung und der Hoffnung auf Frieden. Der Titel meint aber auch die Zeit, die vergeht, während manche Vergangenheit partout nicht vergehen will, das Verdrängte immer wiederkehrt, bei Opfern wie Tätern. So handelt „Zwischen den Jahren“ von Existenzen, die keinen Halt finden, und von einem Verbrecher, der von seiner Tat eingeholt wird. Es ist der seltene Fall eines Rachedramas aus Deutschland und ein sehr gelungener Film.