Um Missverständnissen vorzubeugen, sollte zunächst festgehalten werden, was „Argentina“ nicht ist, entgegen anderslautender Meldungen, die den Film als „Reise durch verschiedene Regionen Argentiniens mit ihrer faszinierenden Tradition“ lesen. Carlos Saura reist in diesem Dokumentarfilm weder in das südamerikanische Land, noch stellt er verschiedene Regionen vor. Man sieht kein einziges Bild vom Vieh auf grasbewachsenen Pampas, von Gauchos und ihren Pferden, dem bunten Trubel auf den Straßen und Plätzen der Hauptstadt mitsamt ihren rauchigen Bars oder nächtlichen Spaziergängen durch eine flirrende Metropole.
Im Vorspann stimmte ein Techniker ein Klavier, Menschen werkeln geschäftig auf einer Bühne und am Ende zoomt das Bild langsam auf eine Kamera, montiert an einem Dolly-Kran. Carlos Saura entführt auf eine schlichte Bühne, die nach hinten durch Leinwände abgegrenzt ist, welche als Projektionsfläche für Filme oder Schattenrisse dienen. Auf der Bühne: Musiker, Tänzer, Sänger. Ihre Profession: das argentinische Liedgut und dessen folkloristische Ausformungen.
Erklärungen, Einführungen, Analysen, Untermalungen finden, wenn überhaupt, nur im Prolog und durch spartanische Inserts statt. „Zonda: folclore argentino“, so der spanische Titel des Films, übersetzt den nicht jedem geläufigen titelgebenden Begriff „zonda“ mit „trockener Wind im Nordwesten Argentiniens“ sowie dem hier gemeinten Synonym für „argentinische Folklore“. Spielarten wie Zamba, Vidala, Chacarera, Malambo Afrika, Copla und Chamamé werden allenfalls mit Halbsätzen charakterisiert – und dann geht es auch schon los: Carlos Sauras persönliche Reise durch die exzeptionelle musikalische und darstellerische Tanzkultur Argentiniens. Es ist keine analytische, nicht einmal eine beschreibende, sondern eine „zeigende“ Reise; Saura zeigt auf und bringt zu Gehör, was ihm persönlich wichtig ist. Namen wie El Chaqueño Palavecino, Soledad Pastorutti, Jairo, Liliana Herrero, Luis Salinas, Jaime Torres, Metabombo oder „Ballet Nuevo Arte Nativo de Koki & Pajarín Saavedra“ stehen kurz und flüchtig im Raum, machen aber sogleich Platz für deren Performances.
In „Argentina“ geht es ums „sich Loslösen“, „sich Fallen lassen“, „sich Einlassen“ und ein Eintauchen in das, was man mit „Lebensgefühl“ und „Tradition“ eines Landes umschreibt. Es ist gänzlich egal, wer hier seine Seele mit wehmütigen, von tragischen Texten begleiteten Liedern offenbart. Es geht nicht um Kultur, sondern um das Spüren von Musik; einer Musik, die zuallererst Carlos Saura bewegt hat. Und er möchte damit das Publikum bewegen. Mit seiner dezenten, aber präzisen Kamera, mit seiner schlichten, aber funktionellen Bühne gibt er dieser Musik eindrucksvoll Raum zur Entfaltung.
Nichts stört den Fluss. Allenfalls theatralische Zwischenspiele brechen den Fokus auf, wenn verstorbene Größen wie Mercedes Sosa oder Atahualpa Yupanqui die Leinwände auf der Bühne füllen und eine Schulklasse zum Takt dazu wippt. „Argentina“ hat keine besondere Botschaft, außer der, die in der Musik verborgen ist. Die gilt es für jeden persönlich zu entschlüsseln. Das ist für all jene ein audiovisueller Hochgenuss, die sich von argentinischer Musik gefangennehmen und wie vom „Zonda“, dem „trockenen Wind aus dem Nordwesten“, davontragen lassen.