Zweiter Film einer (Fernseh-)Trilogie über die rechtsradikale Terrorzelle „Nationalsozialistischer Untergrund“ (NSU), deren mörderisches Treiben erst 2011 ein Ende fand. Teil des aufgedeckten Skandals waren nicht zuletzt auch die Ermittler, die bei den Morden stets fremdenfeindliche Hintergründe ausgeschlossen hatten. Alle Filme fragen, wie es möglich war, dass die Terrorzelle so lange unentdeckt morden konnte, wobei die fiktional konstruierten Geschichten konzeptionell überzeugend jeweils aus der Täter-, der Opfer- und der Ermittlerperspektive betrachtet werden. Der bewegende „Opfer“-Film erzählt vom ersten Opfer der NSU-Mordserie Enver Şimşek, wobei er Motive der Biografie „Schmerzliche Heimat“ aufgreift. In aller Schärfe wird mit dem Vorgehen der polizeilichen Ermittler abgerechnet, die aus dem Opfer einen Täter machen wollen und die Opferfamilie in ihren Verhören demütigen.
- Sehenswert ab 14.
Mitten in Deutschland: NSU - Die Opfer – Vergesst mich nicht
Drama | Deutschland 2016 | 95 Minuten
Regie: Züli Aladag
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Filmdaten
- Produktionsland
- Deutschland
- Produktionsjahr
- 2016
- Produktionsfirma
- Wiedemann & Berg Television/WDR
- Regie
- Züli Aladag
- Buch
- Laila Stieler
- Kamera
- Yoshi Heimrath
- Musik
- Matthias Weber
- Schnitt
- Boris Gromatzki
- Darsteller
- Almila Bagriacik (Semiya) · Uygar Tamer (Adile) · Orhan Kilic (Enver) · Tom Schilling (Hauptkommissar Bronner) · Emilio Sakraya Moutaoukkil (Kerim)
- Länge
- 95 Minuten
- Kinostart
- -
- Fsk
- ab 12
- Pädagogische Empfehlung
- - Sehenswert ab 14.
- Genre
- Drama
- Externe Links
- IMDb | TMDB
Heimkino
Diskussion
Eisenach in Thüringen, 4. November 2011. In einem ausgebrannten Wohnmobil werden zwei junge Männer aus Ostdeutschland, Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt, tot aufgefunden. Offensichtlich Selbstmord. Ein Video taucht auf, in dem sich eine rechtsradikale Gruppierung namens „Nationalsozialistischer Untergrund“ (NSU) zu einer Serie von Morden bekennt. Zu dieser NSU-Terrorzelle gehört neben Mundlos und Böhnhardt auch Beate Zschäpe, die sich am 8. November 2011 freiwillig der Polizei stellt.
13 Jahre lang lebte das NSU-Trio im Untergrund und war mutmaßlich verantwortlich für neun Morde an Menschen mit türkischem und griechischem Migrationshintergrund, für den Mord an einer deutschen Polizistin, mehrere Sprengstoffanschläge und mindestens 15 Raubüberfälle. Die Ermittlungen zu dieser ungeheuerlichen und beispiellosen Serie von Verbrechen, die zwischen 1998 und 2011 begangen wurden, sind bis heute nicht abgeschlossen. Auch der Prozess gegen Beate Zschäpe dauert noch an.
Wie war es möglich, dass eine rechtsextreme Terrorzelle über ein Jahrzehnt hinweg unentdeckt morden konnte? Dieser Frage geht der ARD-Programmschwerpunkt „Mitten in Deutschland: NSU“ mit drei Spielfilmen nach. Drei Geschichten, die fiktional konstruiert sind, aber auf gründlich recherchierten „wahren Begebenheiten“ basieren. Eine brisante Unternehmung, ein Großereignis des deutschen Fernsehens, das es wagt, an die wundesten Punkte unserer derzeitigen gesellschaftlichen Verfasstheit hautnah heranzugehen.
Die konzeptionelle Idee überzeugt. Drei Geschichten, die nicht chronologisch, sondern aus drei verschiedenen Perspektiven erzählen: Täter-, Opfer-, Ermittlerperspektive. In Szene gesetzt von drei renommierten Regisseuren, die eigene autobiografische Erfahrungen ins jeweilige Thema einbringen können: Christian Schwochow, Züli Aladag, Florian Cossen. „Die Täter – Heute ist nicht alle Tage“ beschreibt den Radikalisierungsprozess des Täter-Trios, „Die Opfer – Vergesst mich nicht“ schildert den Leidensweg der Opfer und Opferfamilien, und „Die Ermittler – Nur für den Dienstgebrauch“ erforscht die verhängnisvolle Rolle des Verfassungsschutzes bei den Ermittlungen.
Christian Schwochows Täter-Film (Buch: Thomas Wendrich) erzählt in fiebrigem Reportagestil und beginnt mit der tollen Schilderung einer Mädchenfreundschaft. Schauplatz: eine triste Plattenbau-Siedlung am Rande Jenas. Die besten Freundinnen Beate Zschäpe (Anna Maria Mühe) und Sandra (Nina Gummich) sind 14, als die Mauer fällt. Sie bestaunen die nun reichlich gefüllten Regale im Supermarkt und müssen zugleich erleben, wie Arbeits- und Perspektivlosigkeit gerade unter Jugendlichen um sich greifen. Sie tummeln sich auf wilden Partys von Punkern und Autonomen, dann trennen sich ihre Wege. Beate Zschäpe driftet ab ins Neonazi-Milieu, tut sich mit Mundlos und Böhnhardt zusammen, aus fremdenfeindlichen Ressentiments entwickelt sich ein abgründiger, rauschhaft zelebrierter, ideologisch aufgeheizter, mordbereiter Fanatismus. Die Nähe, die Schwochow zu den Figuren findet, führt keineswegs dazu, dass die Täter verharmlost würden: Sie offenbart vielmehr deren Monstrosität in jeder Faser.
Zum würdigen, tief erschütternden Opfer-Gedächtnis wird Züli Aladags Film. Er erzählt vom ersten Opfer der NSU-Mordserie Enver Şimşek, greift Motive der Biografie „Schmerzliche Heimat“ auf, die die Tochter des Opfers Semiya Şimşek verfasst hat, stellt auch die Figur Semiyas (Almila Bagriacik) ins Zentrum: ein Teenager, der in der schmerzlichen Erfahrung reift und selbstbewusst-kämpferisch das Wort ergreift. In aller Schärfe wird mit dem Vorgehen der polizeilichen Ermittler abgerechnet, die aus dem Opfer einen Täter machen wollen und die Opferfamilie in ihren Verhören demütigen. Die Polizeibeamten verdächtigen das Opfer, Drogendealer gewesen zu sein, verorten den Mord im Milieu der „Türken-Mafia“ und ermitteln niemals in Richtung des rechtsradikalen Terrors. Hier offenbart sich eine erschreckende „strukturelle Fremdenfeindlichkeit“ der Sicherheitsbehörden, wie sie aktuell auch der Dokumentarfilm „Der Kuaför aus der Keupstraße“ (vgl. FD 04/16) ans Licht gebracht hat.
Florian Cossen setzt die Ermittler-Geschichte souverän als Mischung aus Polizeifilm und Politthriller in Szene. In den Machenschaften der Beamten des Verfassungsschutzes wird erkennbar, dass sie nicht nur die Arbeit der polizeilichen Zielfahnder massiv behindern und sabotieren, sondern mit ihrer V-Leute-Politik die Strukturen der rechtsradikalen Szene geradezu aufbauen und befestigen. Ein Szenario, das sprachlos und zornig macht.
Jeder der drei Filme kann für sich stehen, entwickelt eigenen Stil, Atmosphäre und Rhythmus, zeichnet die jeweilige Welt stimmig und eindrucksvoll: den verhängnisvollen Radikalisierungsrausch der Täter-Clique, den anrührend familiären Zusammenhalt der Opferfamilie, die Einsamkeit des Zielfahnders, der gegen die Hydra des Verfassungsschutzes zu kämpfen hat. Und doch bleibt am Ende die Empfindung eines Mangels: Hätte nicht die Hermetik dieser drei Welten immer wieder einmal aufgebrochen werden müssen durch die Konfrontation mit der bundesdeutschen Lebenswelt drum herum? Das heißt auch durch die Konfrontation mit der alltäglichen Fremdenfeindlichkeit, die doch der „Humus“ ist, aus dem die Radikalisierung der Täter und die vorsätzliche „Blindheit“ vieler Ermittler hervorgingen.
Stefan Aust spricht das an, wenn er sagt: „Diese Art von Terrorismus hat ja immer damit zu tun, und das ist das Schreckliche, dass es eine ziemlich große Massenbewegung gibt von Leuten, die diese politische Grundüberzeugung teilen. Das ist Anfang der Neunziger Jahre in Deutschland so gewesen. Das ist jetzt auch wieder ganz ähnlich.“ Zusammen mit Dirk Laabs ist Stefan Aust Autor und Regisseur der Dokumentation „Der NSU-Komplex – Die Jagd auf die Terroristen“, die im Anschluss an den dritten Spielfilm gezeigt wird und den Schwerpunkt abrundet.
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