Die Idylle scheint perfekt. Zumindest in der Erinnerung. Die alleinerziehende Billy lebt mit ihrem fast erwachsenen Sohn Bones sowie ihrem Spätgeborenen Franky im Grünen an der Peripherie Detroits, dort, wo die Häuser einzeln stehen und ein See nicht weit ist. Doch das traute Familienleben, wo Bones den Kleinen beaufsichtigt, während Billy im nahen Club „Gigi’s“ arbeitet, ist längst vergangen – oder hat es nie existiert?
Jetzt ist alles nur noch der Schemen eines lebenswerten Lebens: Fragmente einer Stadt, die weitgehend von den Fluten des nahe gelegenen Staudamms verschluckt wurde und nahezu verlassen ist, weil keiner die fälligen Hypotheken zahlen kann. Das Grün ist ein wucherndes Unkraut, das den letzten Rest der Zivilisation unter sich begräbt. Bones bleibt nicht zu Hause bei Franky, sondern sammelt Schrottmetalle als Reste einer einst funktionstüchtigen Zivilisation, während Billy die Hypothekenzahlungen ihres kleinen, schäbigen Hauses nicht mehr leisten kann. Bankmanager Dave kann und will ihr nicht helfen, da er schon einige Städte wie Lost River hat untergehen sehen; doch er weiß um eine der letzten Zufluchten der Stadt, in der die Mutter ihr Einkommen auffrischen könnte.
Die ersten Minuten wirken wie eine Reminiszenz an David Lynch und seine scheinbar heile, in Wahrheit aber faulende Welt von Lumberton, North Carolina, in „Blue Velvet“
(fd 26 040). Auch Ryan Goslings Vorstellung von Kleinstadtwelt ist beseelt von Dekadenz, die höchst fragil von einer Staubschicht „Spießigkeit“ bedeckt ist. Sie offenbart sich besonders in jenem Club, in dem Billy auf Empfehlung von Dave arbeiten soll. Hier versammeln sich des Nachts all jene, die sich durch die Aufführung burlesk-absurder Mordtableaus aus der Realität entführen lassen wollen. Leiterin des Clubs ist die schöne, unnahbare Miss Kitty Cat, deren kunstblutige Auftritte stets den besonderen Höhepunkt markieren. Auch das Spannungsverhältnis, in dem sich Miss Kitty Cat und Billy bewegen, erinnert an die verruchte Dorothy Vallens und die naive Sandy Williams aus „Blue Velvet“. Hier wie dort offenbaren sich in beiden Frauen exemplarisch ein bereits gefallener Engel sowie jener Engel, den es noch zu retten gilt. Doch wo Engel sind, sind auch Teufel nicht fern. In der Welt von „Lost River“ tummeln sich solche wie Dave, die sich tagsüber nur unzureichend hinter den schäbigen Anzügen von Bankangestellten verstecken, und solche, die es nicht für nötig befinden, ihre Unmenschlichkeit zu kaschieren, so wie Bully, der sich als Herrscher der Ruinenstadt geriert. Beide gilt es zu beseitigen, damit auch nur im Ansatz so etwas wie Hoffnung in die „unheile“ amerikanische Welt zurückkehrt.
Zu viel, viel zu viel „Blue Velvet“ offenbart sich in Ryan Goslings Regiedebüt. Allerdings wollte der kanadische Schauspieler dann doch kein plattes Plagiat inszenieren und fügte dem Plot noch einen Subplot hinzu: die mysteriöse Liebesgeschichte zwischen Bones und der fast schon ätherischen Rat, die ihm von einem rätselhaften Fluch erzählt, der auf der Stadt läge. Der habe mit den vom Stausee verschluckten Häusern zu tun und könne nur gebannt werden, wenn jemand etwas von dort unten ans Ufer bringen würde. Dieser Seitenstrang der Handlung überfrachtet die ohnehin wenig strukturierte Geschichte endgültig mit (überflüssigem) Mystery-Tand, sodass sie ausschaut, als hätte sich jemand von den muffigen Artefakten eines überladenen Skurrilitätenladens inspirieren lassen. Inspirierend sind indes allein die kraftvollen Kinobilder einer verkommenen Industriebrache sowie die elegische, mit hippen Indie-Songs durchsetzte Filmmusik. Ansonsten fehlt Ryan Gosling eindeutig der Mut zu einer eigenen Geschichte.