Melodram | Türkei 2014 | 123 Minuten

Regie: Çagan Irmak

Eine türkische Schlagersängerin kehrt nach 40 Jahren in ihr Heimatdorf zu ihrer verbitterten Schwester zurück. Die sie an Alzheimer erkrankt ist, gehen in ihren Erinnerungen Gegenwart und Vergangenheit nahtlos ineinander über. Psychologisch sensibel inszenierter, gut gespielter Musikfilm mit vielen Zwischentönen von gefühlsbetont bis kitschig. Melodramatisch angehaucht, erzählt er von geschwisterlichen Rivalitäten, modischen Erscheinungsformen und Verhaltensweisen der Hippie-Zeit in Istanbul sowie von gesellschaftlichen Umbrüchen. - Ab 14.
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Filmdaten

Originaltitel
UNUTURSAM FISILDA
Produktionsland
Türkei
Produktionsjahr
2014
Produktionsfirma
Taff Pic.
Regie
Çagan Irmak
Buch
Çagan Irmak
Kamera
Gökhan Tiryaki
Musik
Kenan Dogulu
Schnitt
Emrullah Hekim
Darsteller
Hümeyra (Hatice/Ayperi) · Işıl Yücesoy (Hanife) · Kerem Bursin (Erhan (jung)) · Farah Zeynep Abdullah (Hatice/Ayperi (jung)) · Mehmet Günsür (Tarik)
Länge
123 Minuten
Kinostart
30.10.2014
Fsk
ab 6; nf
Pädagogische Empfehlung
- Ab 14.
Genre
Melodram | Musikfilm
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Ҫağan Irmaks 14. Kinospielfilm ist eine Reflexion über die Zeit, als die Blumenkinder auch die Türkei veränderten. Es geht um Wohl und Wehe des Musikgeschäfts und auch um persönliches Abschiednehmen. In der kommerziellen Sparte der türkischen Filmindustrie sticht Irmak durch einen psychologisch geschulten Blick auf ungewöhnliche Figurenkonstellationen hervor.

Diskussion
Nach 40 Jahren kehrt Hanife in ihr Heimatdorf zurück, das sie einst auf der Suche nach Selbstverwirklichung Richtung Istanbul verlassen hatte. Doch die Freiheit hat ihren Preis: Ihre Karriere als Schlagersängerin Ayperi ist von persönlichen Schicksalsschlägen geprägt, und zu Hause empfängt sie ihre Schwester Hanife mit feindseligem Argwohn. Ҫağan Irmaks 14. Kinospielfilm ist eine Reflexion über die Zeit, als die Blumenkinder auch die Türkei veränderten. Es geht um Wohl und Wehe des Musikgeschäfts und auch um persönliches Abschiednehmen. In der kommerziellen Sparte der türkischen Filmindustrie sticht Irmak durch einen psychologisch geschulten Blick auf ungewöhnliche Figurenkonstellationen hervor. In Filmen wie „Issiz Adam“ (fd 39 187) über einen sensiblen Macho im Großstadtdschungel oder „Tamam miyiz“ (fd 42 137) über eine ungewöhnliche Männerfreundschaft zwischen einem gelähmten Mann und seinem Pfleger klingen übergreifende gesellschaftliche Themen an, etwa die Schwierigkeiten sensibler Männer in einer patriarchal geprägten Gesellschaft oder das Thema der Homoerotik. In „Unutursam Fısılda“ steht nun das Verhältnis zweier Schwestern im Mittelpunkt, von denen eine auszog, die Freiheit zu suchen, aber schwerkrank zurückkehrt, während die andere keusch zu Hause blieb und über ihrer inneren Einsamkeit verbitterte. Die Schauspielerinnen Isil Yücesoy und Hümeyra, die die beiden Schwestern im Alter spielen, machen ihre Sache dabei ausgesprochen gut: kraftvoll und gleichermaßen zerbrechlich, mit einer wuchtigen Präsenz, die dennoch Raum für zwischenmenschliche Spannungen lässt. Hümeyra profitiert dabei von ihrer Erfahrung als populäre Sängerin. Etliche Details der fiktiven Geschichte der Schlagersängerin Ayperi – die Namensähnlichkeit von Schauspielerin und Filmfigur ist sicher kein Zufall –, dürften aus dem eigenen Erfahrungsschatz stammen. Farah Zeynep Abdullah steht den beiden in den Rückblenden, die Hanifes Werdegang zur erfolgreichen Schlagersängerin erzählen, in nichts nach: im wahrsten Sinne wendig, gibt sie die junge Ayperi als Mädchen vom Lande, das von zu Hause abhaut, weil Vater und Mutter weder ihre Liaison mit dem schönen Tarık, einem Hippie aus gutem Hause, noch ihre Gesangsleidenschaft akzeptieren. Eine Geschichte, in die viele Klischees passen – der Kampf gegen die anfangs konservative Musikindustrie, Alkoholprobleme, der Freitod des Partners, aber auch viele gekonnt gesetzte Schnitte, die die Zeitenwende von den 1960er- zu den 1970er-Jahren so unterhaltsam wie authentisch aufleben lassen. Dabei geht es nicht nur um den Umbruch der gesellschaftlichen Werte durch Hippie-Bewegung und „sexuelle Revolution“, sondern auch um die damit verbundenen Absonderlichkeiten der Glitzer-, Schlaghosen-, Koteletten- und Schnauzbartmode, die vom Set-Design treffend adaptiert werden. Damit stellt sich die Frage, ob sich der türkische Film nach Cem Yilmaz’ „Pek Yakinda“ (fd 42 651), einer Hommage auf die „Yeşilcam“-Ära der türkischen Filmgeschichte, im Retro-Rausch befindet. Doch Irmak bleibt auch in seinem neuen Film aktuell: Ayperi eröffnet ihrer Schwester als erstes, dass sie an Alzheimer leidet. Ihr Leben spule sich nun rückwärts ab, was der Regisseur als Kunstgriff nutzt, Vergangenheit und Gegenwart so eng miteinander zu verknüpfen, wie sie Alzheimer-Kranke wohl durcheinander bringen. Das deutet einmal mehr auf Irmaks Sensibilität hin, sich in die Erfahrungswelten anderer einzufühlen. Es tut dem Film gut, dass er dies mit einer gehörigen Portion Melodram tut, das sich zu tränentreibendem Pathos steigert, wenn es zur Versöhnung der Schwestern kommt. Schließlich geht es hier um die Karriere einer Schlagersängerin, also um eine Musikgattung, deren gefühlsbetont bis kitschigen Geist der Film kongenial wiedergibt – zwischen schöner Fassade und trübem Hinterhof, aber immer mit den richtigen, wenn auch lauten Zwischentönen.
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