In einer Welt, in der jeder nur auf die Schwäche der anderen wartet, um sich selbst zu profilieren, ist das Erwachsenwerden purer Horror. Selbst für „normale“, wohlbehütet-selbstbewusste und allseits anerkannte junge Menschen kann die Adoleszenz eine echte Qual sein. Doch wie mag sich das für jemanden anfühlen, dessen Zuhause von einem religiösen Wahn beseelt ist, in dem der Vater, der Sohn und der Heilige Geist über alles gestellt werden? Wie mag sich ein so erzogener Mensch zurechtfinden, wenn er sich einer Meute egomanischer Gleichaltriger gegenübersieht, deren Gott Konsum heißt?
Carrie ereilen die ersten Vorboten der Pubertät ausgerechnet in der High-School-Dusche, wo sie ihren Mitschülerinnen schutzlos ausgeliefert ist und ihre erste Blutung nicht verschämt unter einem der langen Röcke verstecken konnte, die sie zu tragen pflegt. Nun aber liegt sie da, auf den schmierig-nassen Fliesen, und sieht sich mit ihrem eigenen Blut und dem Gelächter der Kommilitonen konfrontiert. Carrie, die in der Gewissheit aufwuchs, von allen missachtet zu werden, müsste darüber eigentlich dem Wahnsinn anheimfallen. Doch in ihrem Körper hat sich noch etwas anderes entwickelt, das nun einen ersten und noch ziellos-unkontrollierten Weg nach außen findet: Carrie hat eine Gabe. Sie kann Dinge nur mit der Kraft ihres Geistes bewirken, die andere nicht einmal mit Maschinen bewerkstelligen. Woher diese Kraft stammt, wird man nie erfahren. Kommt sie tatsächlich vom Teufel, von dem sie laut ihrer Mutter ohnehin abstammt?
Stephen King hat diesem jungen, verstörten und doch so machtvollen Mädchen in seinem Debütroman ein literarisches Denkmal gesetzt. Er hat sie nach dem Prolog in der Dusche nicht zugrunde gehen lassen, sondern in ihr ein zartes Pflänzchen Zuversicht gepflanzt, das sie trotz der religiösen Hasstiraden ihrer Mutter kultiviert hat. King hat Carrie eine verständnisvolle Lehrerin zur Seite gestellt und Umstände, die sie hoffen lassen können, irgendwann einmal ein normaler Mensch zu werden. Die 16-Jährige wird mit einem netten Jungen auf den Abschlussball gehen, wodurch in den USA die Zugehörigkeit zur Gesellschaft dokumentiert wird. Allerdings wird sie dort auch auf die Neider und Gehässigen treffen, die ihr mit einem Eimer Schweineblut die Lektion erteilen wollen, dass sie nie zu ihnen dazu gehören wird.
Bereits 1976 hat Brian de Palma aus diesem Sujet einen Film gemacht, der zu den Highlights des 1970er-Jahre-Kinos gehört. „Carrie“
(fd 20 286) hat den Regisseur groß und die beiden Hauptdarstellerinnen unsterblich gemacht: Piper Laurie (Jahrgang 1932) und Sissy Spacek (1949). Die eine als geifernde religiöse Fanatikerin, die Gott vielleicht in ihrem Herzen haben mag, aber das Böse verkörpert. Die andere als introvertiertes Reh, das ein Monster in sich versteckt. Bemerkenswert ist de Palmas „Carrie“ aber nicht nur wegen der Schauspieler, sondern auch wegen des Showdowns auf dem Abschlussball, der in dieser Inszenierung ein zwar denkwürdiges, aber nur beiläufiges Moment des totalen Horrors ist.
Leider scheint kein Horrorklassiker ohne ein Remake auszukommen. Das ist zwar an sich kein Sakrileg, da man aus dem psychologischen Unterbau der Carrie-Geschichte unendlich viel herausholen kann. Die Neuinszenierung durch Kimberly Peirce („Boys Don’t Cry“, fd 34 086) ist allerdings indiskutabel. Peirce mag ein Händchen für Figurenpsychologie und Schauspielerführung haben, aber nicht für die Dramaturgie des Horrors. Es ist inhaltlich vielleicht durchaus diskussionswürdig, die von Julianne Moore gespielte Mutter als das schwache Element der Mutter-Tochter-Beziehung zu interpretieren. Dramaturgisch ist es aber unverzeihlich, nach der übertrieben gemeinen Duschraum-Sequenz das Unheil über weite Strecken schlicht zu negieren und eine Art „Ich lerne, mit meinen ‚Zauberfähigkeiten‘ umzugehen“-Zwischenspiel einzubauen. Das Mädchen erfährt im Remake eine fatale Umdeutung vom Opfer zur Täterin. Chloë Grace Moretz darf Carrie spielen, als sei sie letztendlich eine (böse) Superheldin, die sich ihrer Mordwerkzeuge bewusst ist – und diese dementsprechend einsetzt.
Wenn dann im Finale, nach all dem Leerlauf und einer halbgaren Psychologisierung, der Abschlussball naht, lässt Peirce plötzlich ein Höllenmonster von der Leine, das minutenlang ganze Areale plättet. Von Subtilität oder dem Geist von Stephen King ist da schon lange nicht mehr die Rede.